Produkt & Produktion

Tut etwas!

Steigende Temperaturen, Schädlinge, die Preise im Keller – für viele kleine Kaffeebauern werden die nächsten Jahre existenzbedrohend. Und die Auswirkungen der Corona-Krise sind noch überhaupt nicht abschätzbar. Was tun? Der Ökonom Jeffrey Sachs schlägt eine neue, weltweite Kaffeestrategie vor, die weit über die bislang gängigen fairen Ansätze hinausgeht.





Kaffeereport2020 sachs

Professor Sachs, bei Ihnen in New York ist es gerade kurz nach zehn Uhr morgens. Wie viele Tassen Kaffee haben Sie heute schon getrunken?

Jeffrey Sachs: Ein Kaffee ist für mich eine gute Art, den Tag zu beginnen. Später war ich zu einem Fernsehinterview in einem TV-Studio, dort gab es zwei weitere Kaffee. Es waren bis jetzt also drei Tassen.

Wissen Sie, was für einen Kaffee Sie getrunken haben und woher er kam?

Ich weiß natürlich nicht, welche Marke in dem TV-Studio ausgeschenkt wurde, aber zu Hause habe ich durchaus eine Lieblingssorte.

Wurde dieser Kaffee unter Bedingungen angebaut, die Sie als fair und nachhaltig bezeichnen würden?

Von meinem Lieblingskaffee weiß ich inzwischen, dass der Hersteller großen Wert auf langfristige und faire Beziehungen zu den Mitgliedern seiner Lieferkette legt. Was den Kaffee im Fernsehstudio und dessen Produktionsbedingungen betrifft, habe ich naturgemäß keine Ahnung.

Das bringt uns zu dem Report, den Sie und Kollegen des Columbia Center on Sustainable Investment sowie der London School of Economics im Auftrag des „World Coffee Producers Forum“ verfasst haben. Darin beschreiben Sie die Situation kleiner Kaffeeproduzenten als ziemlich alarmierend. Ohne radikale Gegenmaßnahmen drohen nach Ihrer Einschätzung extreme Armut unter den Kleinbauern, der Verlust vieler Arabica-Anbauflächen und damit auch Einbußen bei der Vielfalt und der Qualität einzelner Kaffeesorten. Was genau hat zu dieser Krise geführt?

Die meisten kleinen Kaffeebauern leben schon seit Langem in Armut. Ihre Situation hat sich allerdings mit dem Verfall der Kaffeepreise enorm verschärft. Und das hängt wiederum vor allem mit makroökonomischen Phänomenen zusammen. Zum Beispiel mit der Entwicklung des
US-Dollars, der, wenn er stark ist, den Preis für Kaffee drückt. Ganz ähnlich wirkt sich die Schwäche des brasi­lianischen Reals aus – und Brasilien ist der weltgrößte Lieferant von Arabica-Kaffeebohnen. 

Dass Preise schwanken, ist nicht ungewöhnlich. Was ist an den aktuellen Währungsentwicklungen so brisant?

Die Kaffeepreise waren seit den Neunzigerjahren infla­tionsbereinigt relativ stabil, doch in den 24 Monaten vor Veröffentlichung des Reports gab es einen signifikanten Abwärtstrend. Der Druck auf kleine Kaffeebauern ist ­dadurch enorm gestiegen, also ausgerechnet auf jenen Teil der Lieferkette, der ohnehin unter extremer Belastung steht. An anderen Stellen der Lieferkette wird dagegen noch gut verdient. 

Worauf stützen Sie Ihre Erkenntnisse?

Unser Report basiert auf breit angelegten Datenanalysen sowie Interviews mit Produzentenvereinigungen, Nichtregierungsorganisationen, den großen Kaffeeanbietern und anderen Marktteilnehmern. Recherche-Reisen zählten nicht dazu, wenngleich ich natürlich im Laufe meiner Karriere etwa zwei Dutzend Anbauländer besucht habe. Meist handelt es sich bei den Kaffeeregionen um arme ländliche Gegenden mit schlecht ausgebauter Infrastruktur, mangelhafter Gesundheitsversorgung und wenigen Ausbildungsmöglichkeiten – also das, was man in abgelegenen, kleinbäuerlich geprägten Gegenden erwarten kann. Kaffee unterscheidet sich nicht viel von anderen Nutzpflanzen.

Die alarmierende Botschaft Ihres Reports lautet, dass in den nächsten Jahren Millionen von Kaffeebauern in extreme Armut geraten können. Was führt Sie zu diesem Schluss?

Zunächst einmal gilt es den Sonderfall Brasilien auszunehmen. Die Kaffeegroßmacht Brasilien verfügt über große, hochmechanisierte Kaffeefarmen, die sehr produktiv mit hohen Ernten und Gewinnspannen arbeiten. Hier finden sich auch noch enorme ungenutzte Flächen, die jederzeit für die Kaffeeproduktion genutzt werden können. Produktivitätssteigerungen in Brasilien und Vietnam, das sich binnen kurzer Zeit zu einem der größten Kaffeeproduzenten der Welt gemausert hat, dürften daher künftig für stabile oder sogar fallende Preisen sorgen. Das gilt selbst dann, wenn die Weltnachfrage steigen sollte, denn die Kapazitäten in diesen beiden Ländern können problemlos mitwachsen. Ich glaube deshalb eigentlich nicht, dass die Kaffeepreise in naher Zukunft über das heutige niedrige Niveau steigen werden. 

Was ist mit dem Rest der Kaffeewelt?

Hier findet man viele traditionell kleinbäuerliche Betriebe in höheren Regionen mit kleinen Flächen und veralteten Anbaumethoden. Diese Kaffeefarmen werden mit dem sich verändernden Klima nahezu durch die Bank unter Druck geraten. Schädlinge werden sich verbreiten, die steigenden Temperaturen werden dem Anbau schaden, die Kosten werden steigen und die Erträge schrumpfen. Das Problem ist: Die meisten Kaffeefarmer bleiben schon heute hinter ihren Möglichkeiten zurück. Es fehlt ihnen an Wissen, Forschung und Ausbildung in puncto Bewässerung, Landmanagement und integrierter Schädlingsbekämpfung. Vermutlich wissen viele gar nichts von ihren Möglichkeiten. Und wüssten sie es, fehlte ihnen dafür das Geld. Das führt dazu, dass ihre Ernten unterdurchschnittlich ausfallen und so erst recht kein Kapital für notwen­dige Investitionen da ist. Doch ohne Kapital können sie nicht in das investieren, was für einen produktiven, ertragreichen Kaffeeanbau nötig wäre.

Was tun? Sie schlagen unter anderem „Country Coffee Platforms“ vor, Runde Tische zu Kaffee auf nationaler Ebene. Warum sind solche Länder-Initiativen für Sie das Mittel der Wahl?

In einer Krise muss man zunächst drei Dinge analysieren: Was passiert da gerade? Warum passiert es? Und wie ­sehen unsere realistischen Handlungsoptionen aus? Eine solche Analyse muss systematisch erfolgen und die Weltmarktlage, potenziell verfügbare Technologien, die Rolle der Infrastruktur, den Klimaeinfluss, Finanzierungsmöglichkeiten und weitere Faktoren berücksichtigen. Im Anschluss braucht es strategisches Denken und Handeln, um höhere Ernten, höhere Investments und verbesserte Anbaumethoden zu schaffen – das kann ein verarmter landwirtschaftlicher Sektor allein nicht leisten. Wenn wir nicht zulassen wollen, dass sich die Krise verschärft, müssen wir deshalb alle wichtigen Mitspieler an einen Tisch bringen. 

Wen zählen Sie zu den Mitspielern? Und was erwarten Sie von ihnen?

Die internationalen Kaffeeröster und -händler, die Vereinigungen der Kaffeebauern, Landwirtschaftsministerien, Klimaforscher und Agrarexperten müssen miteinander darüber sprechen, wie die Dinge stehen, welche Potenziale es gibt und welche Maßnahmen ergriffen werden können. Wie steht es um Schulen, Krankenhäuser und Straßen? Wie um die Wasserversorgung und die Infrastruktur, die in den meisten Regionen fehlt, obwohl sie seit Langem versprochen wurde? Am Anfang jeder Verbesserung steht ein gemeinsames Verständnis der Situation sowie den möglichen Optionen. Mit anderen Worten: Es braucht eine nachhaltige Kaffeestrategie.

Aber weshalb sollte eine solche Strategie unbedingt national entwickelt werden? Könnte das nicht besser auf regionaler oder noch besser: gleich auf globaler Ebene geschehen?

Probleme wie die Infrastruktur müssen national geregelt werden. Die jeweiligen Nationen haben hier nicht nur die Verantwortung, sondern auch die Mittel und Budgets, um sie anzugehen. Die Staaten können zudem ihre Steuer­gesetze, Investmentregeln und Vermarktungsmechanismen anpassen. Aber natürlich würde sich eine solche ­Strategie regional unterschiedlich auffächern – wir sprechen nicht von einer Lösung für alle. 

Sie schlagen zudem einen Zusammenschluss kleiner Produzenten vor, die Mindestpreise für Kaffee festlegen. Ist das eine OPEC für Kaffeeproduzenten?

Ja, das wäre es, obwohl es alles andere als einfach ist, derart viele und unterschiedliche Produzenten zu einer gemeinsamen Linie zu bewegen. Aber angesichts der Marktmechanismen und der Macht, die sich in den Händen einiger weniger großer Röster und Händler befindet, sollte man versuchen, auch auf der Anbieterseite die Kräfte zu bündeln. Wir haben es mit einer stark konzentrierten Käuferseite zu tun, die sich in den vergangenen Jahren zusehends konsolidiert hat.

Lassen Sie uns von Ihrer Dritte-Welt-Erfahrung profitieren: Wo im Kaffeesektor gibt es nachhaltige Initiativen, die als Beispiele dienen könnten?

In puncto Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen und auch der Landwirtschaft gibt es viele beispielhafte Initiativen, bei denen Schlüsselakteure zusammengekommen sind, um gemeinsam Probleme anzugehen. Ich habe in den vergangenen 20 Jahren viel im Gesundheitssektor gearbeitet, wo Pharmaunternehmen, Regierungen und die Vereinten Nationen im Kampf gegen Polio, Malaria oder Kindersterblichkeit kooperiert haben – mit beachtlichen Erfolgen. Allerdings muss man erst einmal anerkennen, dass es überhaupt eine Krise gibt. Im Kaffee­sektor steht genau das jetzt an.

Was halten Sie davon, die bestehenden Fair-Trade-Ansätze auszuweiten? In Deutschland ist Kaffee jetzt schon das Fair-Trade-Produkt mit dem höchsten Marktanteil.

Mit Fair Trade erreichen wir leider nur einen sehr kleinen Teil des Marktes. Vielen Kaffeefarmen wurden Fair-Trade-Preise versprochen, doch erhalten haben sie sie nie, weil einfach nicht genügend Fair-Trade-Kaffee verkauft werden konnte. Wir haben Fair Trade die vergangenen 20 Jahre erprobt und mit dem Konzept nicht einmal zehn Prozent des Marktes erobert. Jetzt ist es an der Zeit, das Problem auf einer anderen Ebene anzugehen.

Eine Ihrer Ideen heißt, den Verkauf an Konsumenten via E-Commerce anzukurbeln. Wie groß ist dieses Marktsegment momentan, und wie groß könnte es Ihrer Meinung nach werden?

Ich habe keine konkreten Zahlen, aber mein Eindruck ist, dass wir hier von einem noch sehr kleinen Markt sprechen. Ich denke, mit dem Boom im E-Commerce müsste da eigentlich sehr viel mehr möglich sein.

Ein ziemlich radikaler Vorschlag von Ihnen ist die Gründung eines globalen Kaffee-Fonds, der mit einem Jahresbudget von zehn Milliarden US-Dollar ausgestattet werden soll. Wie soll der finanziert werden?

Das Budget für den Fonds könnte aus unterschiedlichen Quellen kommen: Zuerst einmal aus der ganz normalen Entwicklungshilfe, die man für den Kaffeesektor umwidmen könnte. Hinzu könnten Investments großer Kaffeeröster kommen sowie Regierungsgelder, mit denen die Vorhaben des nationalen Kaffeeplans unterstützt werden. Und schließlich sollten die großen Kaffeeröster und -händler, die dank ihrer starken Marken mit jedem verkauften Kilo Kaffee mehrere Euro Gewinn erzielen, einen Teil ihrer Profite an die ärmsten Lieferländer zurückfließen lassen. Es liegt auch in ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Kinder in diesen Regionen sauberes Wasser, eine Gesundheitsversorgung und bessere Hygiene sowie Zugang zu Bildung erhalten. 

Das ist ein ziemlich ambitionierter Appell.

Mit Kaffee, einem der beliebtesten Getränke der Welt, werden enorme Profite gemacht, während gleichzeitig Millionen von Menschen, die in der Lieferkette arbeiten, leiden. Da stellt sich doch die Frage: Was können und müssen die großen Anbieter im Markt tun, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden?

Warum sollte ein börsennotiertes Unternehmen, das zunächst einmal seinen Aktionären verpflichtet ist, große Summen in einen solchen Fonds einzahlen – vor allem wenn es die Konkurrenz nicht tut?

Weil der Zustand der Kaffee produzierenden Regionen auch das Problem jedes einzelnen Anbieters ist. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen: Diese Welt ist nicht nur für Unternehmen und ihre Shareholder da. Wenn sie es wäre, würden wir sie verlieren – im Kaffeesektor wie auch in anderen Bereichen. 

Aber wie soll das funktionieren?

Mein Vorschlag an die Konzerne: Leistet euren Beitrag, und wir sorgen dafür, dass andere – die Regierungen sowie die Länder, die Entwicklungshilfe zahlen – ebenfalls ihren Beitrag leisten. Es geht um Mitverantwortung in einem Sektor, in dem es auf der einen Seite reiche Profiteure und auf der anderen Seite arme Bauern gibt.

Und wie soll ein Unternehmensvorstand das seinen Aktionären erklären? Wer als Erster viel Geld in einen Fonds steckt, verschafft seinen Konkurrenten im Grunde einen Wettbewerbsvorteil.

Die großen Akteure der Branche könnten sich untereinander absprechen und das nach außen kommunizieren. Diesen Schritt würde ich gern sehen. Und sollten sich einige einer solchen Initiative verschließen – nun, dann wird sie die Öffentlichkeit eben unter Druck setzen. Möglich, dass ich mit dieser Einschätzung danebenliege, aber die Konzerne könnten das einfach probieren.

Haben die Erkenntnisse, die Sie durch Ihren Report gewonnen haben, die Art oder die Haltung verändert, mit der Sie Ihren Kaffee trinken?

Sie haben mein Bewusstsein für die Problematik erweitert. Ich bin immer schon ein Fan von Kaffee gewesen, aber heute schaue ich ihn mit anderen Augen an. Kaffee ist ein wunderbares Getränk – aber es kann doch nicht sein, dass wir Millionen Menschen in den Produzentenländern dafür unnötig leiden lassen.

Was denken Sie: Wie wird der Kaffeesektor in fünf oder zehn Jahren aussehen?

Im besten Fall folgt die Branche einer wirklich nachhaltigen Strategie, die von kleinen Produzenten über große Kaffeeröster und -händler bis zu den Konsumenten reicht. Die Kaffee produzierenden Länder werden in bescheidenem Wohlstand und in verträglichen ökologischen und sozialen Umständen leben. All das, davon bin ich überzeugt, wäre binnen weniger Jahre zu schaffen.Im schlechtesten Fall dagegen verschärft sich die Krise, weil niemand etwas unternommen hat. Diese Form der Eskalation haben wir leider schon in vielen Branchen erlebt. Es hängt jetzt wirklich von dem guten Willen einiger weniger Schlüsselakteure ab.

Was können wir Konsumenten tun?

Jeder, der ein Bewusstsein für das Ungleichgewicht entwickelt, kann etwas tun. Es liegt in unseren Händen – und es ist zu schaffen. Lasst uns einfach dafür sorgen, dass das Geld, das in diesem Sektor verdient wird, ein wenig fairer verteilt wird. //

Alarmierender als der Report, den Jeffrey Sachs und seine Rechercheure vom „Columbia Center on Sustainable Investment“ im Oktober 2019 veröffentlichten, kann eine Analyse kaum ausfallen: Ohne vereinte Anstrengungen der großen Branchen-Akteure drohten extreme Armut unter kleineren Kaffeebauern, der Verlust zahlreicher Arabica-Anbauflächen und Einbußen bei Kaffeepflanzentypen, Anbauregionen und Qualität. Verantwortlich dafür seien der Klimawandel, fehlende Investitionen in die Ausbildung der Bauern und moderne Anbaumethoden sowie die niedrigen Rohkaffeepreise der vergangenen Jahre, die sich nach Einschätzungen der Wirtschaftswissenschaftler künftig kaum nach oben bewegen dürften. Damit wachse automatisch der Druck auf die Kaffeebauern.

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1. Ein Mindestpreis für Rohkaffee, der sich am Farmgate-Preis für brasilianischen Kaffee orientiert. Um ihn durchzusetzen, sollen sich die kleinen Produktionsländer ähnlich wie die OPEC zusammenschließen.

2. Die Entwicklung nationaler Pläne für nachhaltigen Kaffeeanbau (NCSPs), die sich an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen orientieren. Diese Pläne sollten in jedem Kaffee produzierenden Land von Regierung, Bauern, Forschern und anderen Akteuren des jeweiligen Landes erarbeitet werden.

3. Ein Global Coffee Fund über jährlich 10 Milliarden US-Dollar, mit dem die Vorhaben der NCSPs finanziert werden. Verwaltet werden könnte er von Nichtregierungsorganisationen, die bereits im Bereich Nachhaltigkeit im Kaffeesektor arbeiten. Finanziert werden soll er mit Entwicklungs- und Regierungsgeldern sowie Beiträgen der großen Kaffeeröster und -händler. „Wir schlagen vor, dass 2,5 Milliarden US-Dollar jährlich vom privaten Sektor beigesteuert werden“, schreiben die Autoren. „Umgerechnet auf die 7,3 Milliarden Kilogramm grünen Kaffees, die 2018 weltweit exportiert wurden, wären dies 34 US-Cents pro Kilo, die in den Fonds fließen würden. Mit anderen Worten: Der Beitrag würde nicht mehr als einen halben US-Cent pro verkaufter Tasse Kaffee bedeuten.“

Der Report: Ensuring Economic Viability and Sustainability of Coffee Production“, Jeffrey Sachs et al., abrufbar unter ccsi.columbia.edu/works/coffee/

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ist einer der profiliertesten und zugleich umstrittensten Ökonomen unserer Tage. Der US-Wirtschaftsexperte war gerade 30 Jahre alt und promovierter Volkswirt der Harvard University, als ihn 1985 die Regierung Boliviens um Hilfe bat. Sachs verordnete der Andenrepublik, die gerade durch eine Hyperinflation taumelte, eine Schocktherapie, die zunächst Wirkung zeigte.

In den Folgejahren wurde der „klinische Ökonom“, als der er sich sah, regelmäßig in kränkelnde Volkswirtschaften vor allem in Osteuropa gerufen. Sachs’ Therapie bestand meist aus einem Bündel radikaler marktwirtschaftlicher Reformen, die er Ländern wie Polen, Jugoslawien und Russland unter Boris Jelzin verordnete. In Jugoslawien wurde 1989 auf Drängen des Weltwährungsfonds ein Anti-Inflations-Programm verabschiedet, das die strenge Handschrift von Jeffrey Sachs trug und zur Insolvenz zahlreicher ehemaliger Staatsunternehmen führte. Kritiker wie der Ökonom Joseph Stiglitz werfen dem Notfall-Ökonomen seitdem vor, seine Therapie habe den Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigt.

Mitte der Neunzigerjahre veränderten sich sowohl Sachs‘ geografischer Fokus als auch seine Methoden. Der Volkswirt reiste viel durch die Dritte Welt, wo er die Zusammenhänge von Gesundheitsversorgung und ökonomischer Entwicklung erforschte. Sachs warb für einen globalen Gesundheitsfonds, weitgehenden Schuldenerlass für die Dritte Welt und höhere Entwicklungshilfe. Während der griechischen Staatsschuldenkrise veröffentlichte er gemeinsam mit Ökonomen wie Heiner Flassbeck und Thomas Piketty einen Appell an Bundeskanzlerin Merkel, Griechenlands Schulden zu reduzieren und der Regierung mehr Zeit für die Rückzahlung einzuräumen.

Der 65-Jährige lebt heute in Manhattan und ist Direktor des „Center for Sustainable Development“ an der Columbia University. Er berät unter anderem den Generalsekretär der Vereinten Nationen und Organisationen wie IWF, Weltbank und OECD.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.