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Updates aus dem Rathaus, Teil V

Eigentlich wollte der Däne Claus Ruhe Madsen Rostock moderner und lebenswerter machen. Jetzt muss er dort die größte Krise der Nachkriegszeit managen – und spricht darüber, was das für ihn bedeutet.

Madsen ist der erste ausländische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt und seit sieben Monaten im Amt. Zuvor hat er eine Möbelkette und eine Wohnmobilvermietung gegründet und war von 2013 bis 2019 Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Rostock.

Für den fünften Teil der Serie unterhielten wir uns über Facetime.



Claus Ruhe Madsen
Claus Ruhe Madsen

— Rostock, März 2020

brand eins: Herr Madsen, wie ist die Lage in Rostock?*

Claus Ruhe Madsen: Die Situation ist total verrückt. Vor wenigen Monaten war ich noch dafür verantwortlich, für meine Möbelhäuser die richtigen Sofas einzukaufen. Jetzt habe ich die Verantwortung für die Gesundheit von 200.000 Menschen.

Wie wollen Sie die Herausforderung bewältigen?

Wir haben einen Krisenstab gebildet mit Feuerwehrleuten, Polizisten, Mitarbeitern des Gesundheitsamtes, Ärzten, anderen Fachleuten, meinen Senatoren und mir. Wir haben viele mögliche Pandemie-Szenarien durchgespielt.

Was besprechen Sie konkret in diesem Krisenstab?

Wir haben vor wenigen Tagen unsere vorrätigen Schutzmasken, Handschuhe und Desinfektionsmittel gezählt. Als ich erfahren habe, dass unsere Vorräte nur noch 20 Tage reichen, ist mir kurz angst und bange geworden – da bin ich ganz ehrlich. Wir haben auch über Lagerkapazitäten gesprochen und welche Hallen infrage kommen. Unter anderem ging es um die Eishalle, wo wir Verstorbene aufbahren könnten, falls unser Krematorium nicht nachkommt. Das war kein schöner Moment.

Welche Auswirkungen hat Corona auf Ihre Arbeit im Rathaus?

Ich habe meine Verwaltung auf das absolute Minimum zurückgefahren. Sie besteht normalerweise aus 2400 Mitarbeitern, jetzt sind nur noch 750 anwesend. 400 Mitarbeiter sind im Home-Office, 500 freigestellt, 300 sind krank, haben Urlaub oder nehmen Arbeitszeitausgleich.

Verändert Sie die Krise auch persönlich?

Ja, ich entscheide jetzt schneller und sage: Das machen wir so. Punkt. Ich weiß aber, dass nicht alle meine Entscheidungen richtig sein werden. Deshalb frage ich mich ständig: Bin ich zu hysterisch? Oder ist es noch verhältnismäßig? Mache ich zu viel? Oder ist es genau richtig? Sind meine Entscheidungen nicht konsequent genug, werden Menschen sterben. Es geht die ganze Zeit um die richtige Balance.

Die Parteien wünschen sich mehr Mitspracherecht in Zeiten der Pandemie.

In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Verwaltung. Sie beschließt und setzt das Beschlossene um. Dabei müssen wir möglichst unbürokratisch handeln. Es darf nicht immer alles zerredet werden. Das gefällt nicht allen Parteien, weil es ihnen auch um ihre eigenen Ziele und ihren Einfluss geht.

Wie reagieren die Rostocker auf die Einschränkungen?

Ganz unterschiedlich. Ich bekomme viel Zuspruch. Bürger schreiben mir, dass wir sogar noch stärker durchgreifen sollten. Es gibt aber auch Unverständnis. Einige Unternehmer, die ihre Läden schließen mussten, sehen in mir das eigentliche Problem. Die Wut kann ich verstehen, sie tut aber auch weh. Mir persönlich geht es doch nicht anders: Ich kann mir ganz genau ausrechnen, ab wann es meine Möbelhäuser nicht mehr geben wird. Das ist nicht schön.

Was ist jetzt besonders wichtig?

Die Menschlichkeit darf nicht verloren gehen. Wir nehmen gerade freiwillig mehrere Italiener auf, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, um sie zu behandeln. In den nächsten Wochen kommen zwei Kreuzfahrtschiffe zu uns und werden im Überseehafen anlegen. Rostock ist ein Notfallhafen für den Ostseeraum. Wir müssen Zeichen setzen, auch wenn gerade alle ihre Grenzen schließen.

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf die Finanzen der Stadt?

Unser Haushalt wird gerade komplett durcheinandergewirbelt. Wir hatten mit 120 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen gerechnet – bei einem Gesamthaushalt von rund 700 Millionen Euro. Wenn die Krise so weitergeht, bekommen wir ein massives Liquiditätsproblem. Unsere maritime Wirtschaft und die Tourismusbranche stehen mächtig unter Druck. Die Werft ist zu, Hotels und Ferienwohnungen mussten schließen.

Claus Ruhe Madsen hinter der Rathaus-Uhr
Claus Ruhe Madsen hinter der Rathaus-Uhr

In den nächsten Jahren wollten Sie eigentlich mehrere Großprojekte, wie zum Beispiel ein neues Theater oder eine Bundesgartenschau, umsetzen.

Ich weiß nicht, ob wir uns das noch leisten können. An neuen Radwegen, Klimaschutzmaßnahmen und Schulsanierungen, Innovationen und Digitalisierung will ich aber festhalten. Ich möchte trotz der Krise einen Schritt nach vorn machen.

Die Partei Die Linke kritisiert, dass Sie die Verwaltung in diesen Zeiten umstrukturieren und die Mitarbeiter zusätzlich verunsichern.

Auch wenn das den einen oder anderen überrascht: Ich arbeite trotz Corona weiter an der Modernisierung unserer Stadt. Ich ändere jetzt die Strukturen, damit wir nach der Krise so arbeiten können, wie ich mir das als Verwaltungschef vorstelle.

Das sorgt für Unruhe.

Ja, weil interne Papiere sofort an die Öffentlichkeit gelangen. Den ersten Entwurf der neuen Verwaltungsstruktur habe ich an meine drei Senatoren geschickt. Am nächsten Tag war er aber bereits in der Lokalzeitung abgedruckt. Wie soll man so vertrauensvoll zusammenarbeiten?

Nun wird Ihnen ein Alleingang vorgeworfen. Der Personalrat fühlt sich schlecht informiert, die Parteien beim Prozess übergangen. Können Sie die Kritik verstehen?

Nein. Ich kann über solche Veränderungen auch ohne die Zustimmung der Bürgerschaft entscheiden – wenn sie nicht mehr als zehn Prozent der Verwaltung betreffen. Das ist in der Kommunalverfassung festgelegt. Und genau das habe ich jetzt getan. Außerdem habe ich wochenlang mit allen Senatoren und dem Personalrat über die Umstrukturierungen gesprochen. Jetzt von einem Alleingang zu sprechen ist albern.

Sehen Sie in der Krise auch Chancen?

Wir haben die einmalige Chance, das Thema Digitalisierung voranzutreiben. Viele Mitarbeiter merken, dass sie gut von zu Hause aus arbeiten können, dass Videotelefonate funktionieren und es gar nicht so viel Papier braucht wie bislang. Wenn Sie mein Büro sehen könnten: Hier liegen nur drei Zettel. Wir machen gerade große Fortschritte.

Claus Ruhe Madsen, 47,
ist der erste ausländische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt. Im Juni 2019 gewann der Däne die Wahl zum Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock. Seit September ist der Parteilose, der während des Wahlkampfes von CDU und FDP unterstützt wurde, offiziell im Amt. Madsen hat eine Möbelkette und eine Wohnmobilvermietung gegründet und war von 2013 bis 2019 Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Rostock.

*Die Lage in Rostock
In der Hansestadt Rostock wurden bislang 62 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet. 36 Infizierte sowie 61 Kontaktpersonen befinden sich akuell in Quarantäne. 26 Personen konnten aus der Quarantäne entlassen werden. Rostock ist mit 208.000 Einwohnern die größte Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Stand: 3. April 2020

— Hier lesen Sie alle Teile der Serie „Updates aus dem Rathaus“