Indien – Land im Aufbruch

Ein Gespräch mit dem indischen Bügler Motilal Kanojia.





• In den ruhigen Gassen von Thane, einem Vorort von Mumbai, betreibt Motilal Kanojia, 44, seit 28 Jahren seinen kleinen kohlebetriebenen Bügelstand. Mit 16 schickten seine Eltern ihn und seine drei Brüder aus der Ganges-Stadt Varanasi zum Geldverdienen in die Metropole Mumbai. Wie Motilal Kanojia kamen über die Jahrzehnte Millionen Menschen in die Stadt mit heute mehr als 22 Millionen Einwohnern. Während der Pandemie wurden sie auf eine harte Probe gestellt: ohne Arbeit, ohne Gesundheitsversorgung, gefangen in kleinen Quartieren. 2019 trafen wir Motilal Kanojia für ein erstes Interview (brand eins 7/2020: „Ein Bügler in Indien“), kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie. Nun kehrten wir zurück, um zu erfahren, wie es ihm und seinem Unternehmen ergangen ist.

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Wie haben Sie die Pandemie erlebt?

Am Anfang, als wir von den Infektionen im Land hörten, klang das nicht bedrohlich. Die Krankheit war weit weg. Doch dann wurde in Mumbai die Ausgangssperre verhängt, und ich musste mein Geschäft im März 2020 schließen. Wie alle. Ich saß drei Monate lang zu Hause: ohne Arbeit und ohne Perspektive. Wenn ich nur einen Tag nicht arbeite, fehlt uns das Geld zum Leben. Menschen wie wir können es uns nicht leisten, einen Tag das Geschäft zu schließen, selbst wenn wir krank sind. In dieser Zeit konnte ich nur hoffen und zu Gott beten, dass wir überleben.

Zum Glück haben mir einige Kunden regelmäßig Lebensmittel vor die Tür gestellt und meiner Tochter Pooja Bücher, Hefte und Stifte für die Schularbeiten gebracht. Ein aus dem Punjab stammender Kunde, ein Sikh, hat meine Familie und andere Nachbarn fast eine Woche lang mit frisch gekochtem Essen versorgt. Auch eine Familie aus Deutschland, die den Artikel über mich gelesen hat, hat uns Geld geschickt. Wir haben diese Familie nie getroffen, sie sind für uns Engel. Ich bin sehr dankbar für diese Hilfen. Nur dank ihnen konnte ich die Krise überleben.

Wir wohnen in einem Chawl (Armenviertel). Während der Ausgangssperren war die Polizei direkt vor unseren Wohnhäusern stationiert, damit niemand vor die Tür ging. Doch die Menschen haben die Geduld verloren, und die Situation geriet außer Kontrolle. Sobald jemand aus unserer Nachbarschaft das Haus verlassen wollte, wurde er von der Polizei verprügelt. Es gab für uns nur eine Ablenkung, und das war der Fernseher. Einmal gab es einen Kurzschluss, das Fernsehkabel brannte ab. Wegen der Ausgangssperre konnten wir keinen Techniker rufen. Das waren die längsten Tage meines Lebens.

Viele Tagelöhner wie ich haben damals die großen Städte verlassen und sind in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Ich habe auch darüber nachgedacht, meine Brüder wollten mich überreden, mit ihnen nach Varanasi zu gehen. Aber ich bin seit mehr als 20 Jahren Teil dieser Nachbarschaft, man kennt mich, ich habe viele treue Kunden. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich das alles aufs Spiel gesetzt. Außerdem habe ich die schrecklichen Bilder im Fernsehen gesehen von den überfüllten Zügen und Bussen. Von den Tagelöhnern, die zu Fuß Hunderte Kilometer gehen mussten. Von den Toten. Was wäre passiert, wenn ich auf dem Weg Covid bekommen hätte? Was hätte meine Familie ohne mich gemacht? Also habe ich gesagt: Was auch immer passiert, ich bleibe in Mumbai.

Als meine Brüder in Varanasi ankamen, durften sie den Bahnhof nicht verlassen. Sie wurden dort 15 Tage lang unter Quarantäne gestellt. Die Situation war viel schlimmer als bei uns. Als sie im Mai 2020 zurück nach Mumbai kommen wollten, hat es die Familie nicht erlaubt: Sie sollten auf den Feldern mithelfen und bekamen dafür fast kein Geld. Da konnte ich schon wieder arbeiten und wenigstens ein bisschen was verdienen. Erst Monate später hat die Familie meine Brüder gehen lassen. Jetzt arbeiten sie in Restaurants, in Wäschereien oder als Rikscha-Fahrer.


Wie hat sich Ihre wirtschaftliche Situation entwickelt?

Mein Einkommen ist wieder gestiegen – aber das gilt auch für alle anderen Preise. Es gibt keinen Ausweg aus der Inflation, wir sitzen in der Falle. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Regierung genug für uns kleine Leute tut. Derzeit liegt mein monatliches Einkommen bei etwa 8000 Rupien (88 Euro). Wenn meine Tochter sich mal Snacks oder ein Eis wünscht, will ich nicht Nein sagen. Aber allein die Ausgaben für unsere Grundnahrungsmittel wie Getreide, Reis oder Linsen liegen bei etwa 5000 Rupien (55 Euro) monatlich.

Meine Tochter besucht eine englischsprachige Schule, die kostet jeden Monat 1000 Rupien (11 Euro). Menschen wie wir dürfen in Raten bezahlen. Vor zwei Jahren lag die Gebühr bei nur 700 Rupien (8 Euro). Meine Tochter bekommt Nachhilfestunden, für die ich 600 Rupien (7 Euro) pro Monat zahle. Manchmal haben wir Schwierigkeiten, alles pünktlich zu begleichen. Aber ich möchte nicht, dass sie beim Lernen Abstriche machen muss, und in Indien reicht der bloße Schulbesuch nicht aus, um gute Noten zu bekommen. Dafür ist die Konkurrenz zu groß, und die Lehrer sind zu schlecht. Um meiner Tochter ein sicheres Leben zu bieten, habe ich für sie eine Krankenversicherung abgeschlossen, für 40.000 Rupien (440 Euro) im Jahr. Meine Frau und ich haben keine Versicherung.

Abgesehen davon ist mein größtes Problem der steigende Preis für Kohle. Früher hat die Holzkohle 30 Rupien (33 Cent) pro Kilo gekostet, jetzt sind es 50 Rupien (55 Cent). In einem Monat brauche ich fast 90 Kilo, das sind 4.500 Rupien (50 Euro). Ich werde oft gefragt, warum ich kein elektrisches Bügeleisen benutze, zumal der Qualm so ungesund ist. Aber dafür bräuchte ich einen Stand mit Stromanschluss, und der kostet allein 15.000 Rupien (165 Euro). Dazu kommen noch die Kosten für den Strom.

Ein elektrisches Eisen würde einige Probleme lösen. Vom Bügeln mit Kohle tun mir die Arme weh, meine Augen brennen, aber ich muss weitermachen. Es gibt keinen anderen Weg für mich. Mein Vater und mein Onkel waren auch Bügler. Ich glaube, ich habe dieses Schicksal von ihnen geerbt. Aber meine Tochter wird einmal studieren, einen gut bezahlten Job finden und ihren Platz in der Welt erobern. Ihr Lieblingsfach ist Englisch. Sie stellt viele Fragen und ist sehr wissbegierig. Aber Talent und Fleiß reichen nicht aus. Die Korruption ist weit verbreitet. Ich hoffe, dass die Welt in zehn Jahren, wenn Pooja ihren Beruf wählt, fair sein wird und ihr das gibt, was sie verdient. Viele qualifizierte Menschen haben immer noch Schwierigkeiten, einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Sie werden entweder schlecht bezahlt oder am Arbeitsplatz ausgebeutet. Das will ich für meine Tochter nicht. Ich bin entschlossen, ihr ein gutes Leben zu ermöglichen.

Leider konnten meine Frau und die anderen Frauen im Haus ihre Ausbildung nicht abschließen. Sie wurden sehr früh verheiratet. Ich wünsche mir für meine Tochter eine andere Zukunft. Sie wird die am besten Ausgebildete in der ganzen Familie sein. Sie soll einen guten Hochschulabschluss machen und ein unabhängiges Leben führen. Sie besucht derzeit die sechste Klasse und ist zehn Jahre alt. Ich bin stolz auf ihre Leistungen. Wenn sie sich für eine Laufbahn im öffentlichen Dienst entscheidet, zum Beispiel bei der Polizei, wäre ich unheimlich stolz. Sie ist meine einzige Tochter, und ich möchte ihr alle Möglichkeiten bieten.

Wie erleben Sie die Digitalisierung Indiens?

Seit September 2023 kann man bei mir mit dem Telefon bezahlen. Ich bin technisch nicht sehr bewandert und wollte von den Online-Überweisungen erst nichts wissen. Aber meine Kunden kamen oft mit 100-Rupien-Scheinen (1 Euro) zu mir, und ich hatte nicht genug Wechselgeld. Also musste ich mir immer aufschreiben, wie viel ich ihnen noch schuldete. Immer mehr Kunden wollten dann per Telefon bezahlen, und einer hat mir geholfen, das einzurichten. Seitdem klappt das problemlos, und das Geld landet auf meinem Konto. Das ist sehr einfach. Die jungen Leute haben heutzutage sowieso kein Bargeld. Außerdem spare ich mehr, da ich kein Bargeld mehr in der Tasche habe, was zum Ausgeben verleitet. Eigentlich war es meine Tochter, die mich zur Umstellung gedrängt hat. Sie hat es in der Schule gelernt und versucht, die Anwendung auf meinem Handy zu installieren. Aber sie ist noch zu klein, um das alles zu verstehen, deshalb konnte sie die Banken-Registrierung nicht abschließen. Ich hoffe, dass sie mir in ein paar Jahren, wenn sie das Konzept der Online-Zahlungen komplett verstanden hat, auch andere Dinge beibringen kann. Ich will von ihr lernen, wie man online bestellt. Das habe ich noch nie gemacht. --

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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