Indien

Zurück in die Zukunft

Diese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt. Und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Der dritte Teil führt erneut nach Bangalore, wo eine ungewöhnliche Allianz aus Brunnenbauern und Gründern die Stadt retten will.




• Wären es Szenen aus einem Film über den Spätkapitalismus, man empfände sie als allzu inszeniert: IT-Experten, die mit Booten auf überfluteten Straßen zur Arbeit fahren. Manager in Hemd und Bundfaltenhose, die durch Wassermassen zu ihren Büros waten. Der Stolz der Stadt, die erfolgreichen Tech-Nerds, die wie Vieh auf Anhängern stehen und von Traktoren zur Arbeit gezogen werden. 24 Stunden Starkregen legte im September 2022 ganz Bangalore lahm, entwurzelte Bäume, kappte den Strom und Teile der Trinkwasserversorgung. Der Osten der Stadt, wo der nächste Start-up-Inkubator immer nur einen Steinwurf entfernt ist, war besonders betroffen: Die Überschwemmung verursachte in den IT-Firmen und Banken an einem einzigen Tag einen Schaden von rund 25 Millionen Euro.

Was sich im Herbst 2022 in Bangalore abspielte, erzählt viel über die Arbeitsmoral der Menschen. Und noch mehr über das Dilemma der boomenden IT-Stadt, die an ihre natürlichen Grenzen stößt. Bangalore erwirtschaftet rund 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Bundesstaats Karnataka. Und der gilt als einer der reichsten Staaten Indiens, die Menschen dort verdienen pro Kopf im Schnitt 77 Prozent mehr als im Rest des Landes. Doch welche Zukunft hat eine Metropole, wenn ein Wassernotstand droht?

Nicht nur Bangalore muss sich diese Frage stellen, auf der ganzen Welt dreht sich das tödliche Klima-Karussell aus Überschwemmung und Wassermangel immer schneller. In Europa machen Extremereignisse wie die Flut im Ahrtal Schlagzeilen, die Jahrhundert-Hitze, die französische Atomkraftwerke in die Knie zwang, und die anhaltende Dürre in Spanien, wo bereits im Winter 2024 Wasser rationiert wurde. Besonders betroffen sind die Metropolen der Welt, vor allem im Süden: Bis 2050 werden 6,2 Milliarden Menschen in Städten leben, fast doppelt so viele wie heute. Und sie alle werden Wasser benötigen – nur, wo soll das herkommen?

Bangalore trifft diese Entwicklung besonders hart, da die Stadt keinen natürlichen Wasserzugang hat. Mehr als die Hälfte des Trinkwassers muss aus dem rund 100 Kilometer entfernten Cauvery-Fluss über fünf riesige Pipelines in die auf einem Plateau gelegene Stadt gepumpt werden. Diese Pipelines sind die Lebensader der IT-Metropole, grob überschlagen hängen acht Prozent des indischen BIPs an ihnen (siehe Infokasten).

Diese Abhängigkeit ist besonders bitter, weil Bangalore einst bekannt war als „Gartenstadt“ und „Stadt der tausend Seen“, eine Pionierin der urbanen Bewässerung. Herrscher legten ab dem 16. Jahrhundert künstliche Seen an, in denen sich Regenwasser sammeln, von der Bevölkerung genutzt und ins Grundwasser eingespeist werden konnte. Heute, 400 Jahre später, hat die Stadtplanung weltweit das Prinzip als Schwammstadt wiederentdeckt.

Von den tausend Seen sind in Bangalore allerdings nur wenige übrig: 60, um genau zu sein. Wo früher Wasser war, ist heute Beton. Die dezentrale Wasserversorgung durch Seen und Brunnen wich im 19. Jahrhundert modernen Leitungen, 55 Prozent des Trinkwassers stammen nun aus dem Cauvery-Fluss, über dessen Nutzung die Staaten Tamil Nadu und Karnataka seit mehr als 200 Jahren streiten. Die übrigen 45 Prozent stammen aus legalen und illegalen Bohrlöchern, die zum drastischen Absinken des Grundwasserpegels der Stadt beitragen (siehe Infokasten).

Schon 2010 behauptete darum ein hochrangiges Mitglied der Landesregierung, dass die Hälfte der Einwohner von Bangalore bis 2023 wegen Wassermangels evakuiert werden müsse. Die BBC berichtete 2018, dass der Stadt bald das Trinkwasser ausgehen werde. Und der einflussreiche Regierungs-Thinktank Niti Aayog erklärte im selben Jahr, dass Bangalore bis 2020 kein Grundwasser mehr haben werde.

Doch so ist es nicht gekommen. Nicht zuletzt wegen der Menschen, die nicht auf Politik und Verwaltung warten, sondern ihre Versorgung selbst in die Hand nehmen. Brunnenbauer, Ingenieure und Gründer, die Tradition und moderne Technik verbinden, um die einstige Stadt der tausend Seen vor dem Austrocknen zu retten.

Eine Mission in vier Schritten.


Weiß bei den Mannu Vaddars jedes Kind: Wer Wasser nimmt, muss Wasser geben

Indien bangalore karte

1. Das vergessene Wassersystem

Einer der Pioniere ist Vishwanath S (wie in Südindien üblich, kürzt er seinen Nachnamen Srikantaiah ab). Der 61-jährige Ingenieur empfängt im Wohnzimmer seines kleinen Hauses im Nordosten der Stadt, vor ihm liegt »The Hindu«, eine der letzten liberalen Tageszeitung im Land, wie er sagt.

Er arbeitet seit Jahrzehnten darauf hin, den maroden Wasserkreislauf Bangalores zu reparieren, hat dafür vor Jahren seinen sicheren Job in der Stadtverwaltung gekündigt und die Nichtregierungsorganisation Biome Trust gegründet. Wie dringend sein Anliegen ist, beantwortet Vishwanath S mit einem Fingerzeig auf die Zeitung vor sich. Darin: Berichte über ein kurzes Gewitter im Osten Bangalores, das am Vortag stundenlanges Chaos auf der Outer Ring Road auslöste, eine der Lebensadern der Stadt.

„Die Menschen müssen verstehen, was unter ihren Füßen geschieht. Erst dann können sie Verantwortung dafür übernehmen“, sagt Vishwanath S. Das Zuviel und Zuwenig an Wasser hängt in Bangalore mit dem Boom der Stadt zusammen: Die Bevölkerung ist in der Metropolregion seit 2011 von 8,6 auf 13,6 Millionen gewachsen, die asphaltierte Oberfläche hat sich in den vergangenen 40 Jahren vertausendfacht. Regen kann nirgends mehr abfließen.

Außerdem wird das vorhandene Wasser nicht ausreichend aufbereitet. Die Wasserbehörde klärt rund 60 Prozent des Abwassers, der Rest sollte in dezentralen Anlagen (wie in großen Wohn-, Industrie- und Gewerbeanlagen vorgeschrieben) aufbereitet werden – das wird aber kaum überwacht. Wer an den offenen Abwasserkanälen der Stadt spazieren geht, sieht und riecht das Problem. Dort gärt das kaum gefilterte Abwasser aus Tausenden Küchen, Duschen und Toiletten.

Mit anderen Worten: Die Stadt hat genug Wasser, aber das Management ist schlecht. Nun könnte man auf die untätige Verwaltung schimpfen und die konsumhungrigen Städter verfluchen, die täglich ihre SUVs waschen. Aber Vishwanath S denkt stattdessen nach vorn: „Wir brauchen eine neue Wasser-Kultur. Eine, in der die Bürger sich beteiligen und wir das Wissen früherer Zeiten mit neuer Technik vereinen.“

Diese Erkenntnis kam zu ihm in Gestalt eines Brunnenbauers. „Vor 20 Jahren fragte mich plötzlich ein Mann mitten auf der Straße, ob ich einen Brunnen wolle“, erzählt Vishwanath S. Fliegende Händler sind auf Indiens Straßen keine Seltenheit. Solche, die Brunnen anbieten, aber schon.

Der Brunnenbauer erzählte von jenen Gemeinschaften, die Mannu Vaddars oder Bhovi genannt werden und die das Wissen übers Brunnengraben seit Generationen weitergeben. Lange bevor eine zentrale Behörde Wasser in die Stadt pumpte, bauten und betrieben sie offene Brunnen. Diese schafften Zugang zu Wasser aus dem oberflächennahen Grundwasserleiter, einer Art Schwamm aus Erde und Gestein, in dem das einsickernde Wasser gespeichert und in tiefere Schichten abgegeben wird. Doch mit der Einführung des Leitungswassers verlor das Wissen der Brunnenbauer an Bedeutung. Die meisten zogen sich in die Landwirtschaft zurück.

„Durch diese Zufallsbekanntschaft wurde mir klar, dass wir ein zweites, funktionsfähiges Wassersystem haben, das schlicht vergessen wurde“, sagt Vishwanath S, „ein System mit enormem Potenzial!“ Also ließ er sich einen Brunnen in den Vorgarten graben, einen 1,20 Meter breiten und vier Meter tiefen mit Betonringen ausgekleideten Schacht. Nicht um Wasser zu entnehmen – seinen Bedarf deckt er mit gefiltertem Regenwasser –, sondern um das Grundwasser anzureichern.

Anders als zu vorindustriellen Zeiten muss man bei den neuen Brunnen darauf achten, dass keine Schadstoffe ins Grundwasser gelangen. „Nicht ausreichend gefiltertes Wasser ist ein Risiko, eine Verunreinigung mit Chemikalien praktisch unumkehrbar“, sagt Shashank Palur, Hydrologe bei Well Labs, einem Forschungsinstitut für Wasser, Umwelt und Böden in Bangalore. Verhindern lasse sich das, indem man die sogenannten Schluckbrunnen, die zur Versickerung von Wasser in den Boden dienen, nicht zu nah an Straßen und Industriegebiete baue und darauf achte, dass das Regenwasser durch Dutzende Meter Sand und Gestein gefiltert werde. In eng bebauten und rasant wachsenden Städten wie Bangalore seien die Sickerschächte aber ein wichtiger Faktor, um das Absinken des Grundwassers aufzuhalten, sagt er. Für die tausend Seen früherer Zeiten, aus denen Wasser ins Erdreich sickerte, ist heute schlicht kein Platz mehr. Daher beließ es Vishwanath S nicht bei seinem Brunnen im Vorgarten: Er vernetzte sich mit den Brunnenbauern, um so schnell wie möglich mit der Wiederbelebung der Brunnen in ganz Bangalore zu beginnen.


Kämpft für die Wiederbelebung alter Brunnen: der Ingenieur Vishwanath S

2. Die Brunnenbauer

Was das bewirken kann, sieht man im Cubbon Park im Herzen Bangalores: In der 80 Hektar großen Anlage flanieren Familien im Grünen, turteln Verliebte im Schatten der Regenbäume, trifft sich ein Leseclub beim Lotus-Teich. Abseits der gepflasterten Wege, die den weitläufigen Park durchziehen, treffen wir Ramakrishna K R (auch er kürzt seine Nachnamen ab) und Shankar (der keinen Nachnamen trägt). Sie haben die vergessenen Brunnen des Parks restauriert und damit seine Wasserversorgung gesichert.

Die beiden Männer sitzen auf einer Mauer neben einem großen roten Brunnen. Bis vor wenigen Jahren war er so verfallen wie die anderen sechs Brunnen des Parks, überwachsen und vergessen. Nun inspizieren die beiden Handwerker schüchtern lächelnd ihr Werk, das sie instandgesetzt haben. „Es macht uns froh und stolz, Brunnen zu sehen. Auch wenn wir sie nicht selbst gebaut haben, sie sind die Arbeit unserer Gemeinschaft, unserer Vorväter“, sagt Shankar. Ramakrishna K R schaut kritisch ins trübe Wasser auf dem Grund des Schachtes: „Der muss dringend mal gereinigt werden.“

Denn: Ein Brunnen funktioniert nicht wie ein Wasserhahn. Man muss ihn warten, ihn regelmäßig von Laub und Schlick befreien, ein Verständnis für die lokalen Wasserkörper und ihre Abhängigkeit vom Regen entwickeln. Kurz: Man braucht Experten wie Ramakrishna K R und Shankar, die seit dem 15. Lebensjahr nichts anderes machen.

Die Brunnen, die sie mit Schaufeln ausheben, speisen sich aus dem oberflächennahen Grundwasserleiter. Gräbt man einen Schacht in den mit Regenwasser gefüllten Gesteinsschwamm, läuft er automatisch voll. Im Gegensatz zu Bohrlöchern, aus denen in Bangalore stellenweise aus bis zu 500 Metern Tiefe Wasser emporgepumpt wird, sind die traditionellen Brunnen nur einige Meter tief – solange Regen einsickern kann, sind sie eine einfache und zuverlässige Wasserquelle.

Lange dachten die Mannu Vaddars, dass niemand mehr ihre Fähigkeiten brauche: „Wir wussten, dass unsere Brunnen sicher Wasser geben“, sagt Ramakrishna K R, „aber wer glaubt uns einfachen Leuten?“ Keiner aus ihrer Gemeinschaft hat je eine höhere Schule besucht, geschweige denn studiert. Dafür wissen sie, wie sich der Geruch des Bodens verändert, kurz bevor man auf Wasser stößt. Und dass man nicht unbegrenzt aus der Tiefe pumpen kann, ohne für Versickerung an der Oberfläche zu sorgen. Doch erst seit Vishwanath S mit seinem Universitätsabschluss und den Kontakten in Verwaltung und Politik bei den Mannu Vaddars aufgetaucht ist, hört man ihnen wieder zu.

2015 rief Vishwanath S gemeinsam mit Mitstreitern der Umweltstiftung Biome die Kampagne „One Million Wells“ ins Leben: Innerhalb von zehn Jahren sollten eine Million Brunnen und Schluckbrunnen gebaut werden, um den Grundwasserspiegel der Stadt zu erhöhen. Die Projekte werden oft von Unternehmen als Corporate Social-Responsibility-Maßnahmen gefördert – eine wichtige Geldquelle. Die Umweltstiftung selbst wird von der Rainmatter Foundation (siehe brand eins 02/2024: „Wo die wilden Einhörner grasen“) unterstützt – so fließt das Geld aus der Start-up-Szene in die Brunnen der Stadt.

Und so wurde auch 2017 der Wasserkreislauf im Cubbon Park wiederbelebt. Weil die Brunnen vergessen und trocken gelaufen waren, wurde das Gießwasser mit Lastwagen angekarrt. Dann restaurierten die Mannu Vaddars die sechs historischen Brunnen und gruben zusätzliche 74 Schluckbrunnen. Die Kosten von rund 330.000 Euro trugen Biome Trust und zwei gemeinnützige Stiftungen. Heute führen die Brunnen wieder Wasser und decken mit täglich rund 65.000 Litern fast den kompletten Bedarf des Parks. Die zusätzlichen Sickerbrunnen schützen außerdem vor Überschwemmungen und speisen jährlich Hunderttausende Liter ins Grundwasser ein.

Der Erfolg hat sich herumgesprochen: Mehr als 200.000 Schächte und Brunnen haben die Mannu Vaddars laut einem Bericht der Unesco in den vergangenen acht Jahren in Bangalore gebaut oder wiederbelebt. Vishwanath S geht von einer weit höheren Zahl aus: „Die Brunnen entstehen überall. Wenn eine Firma oder Privatperson sich so was bauen lässt, erfahren wir das meist gar nicht. Aber das ist auch unsere Vision: Das Wissen über die Brunnen soll sich verselbstständigen.“

Dass das Projekt zum Anstieg des Grundwasserpegels beiträgt, zeigt sich in etlichen Berichten von Brunnen, die nach Jahren wieder Wasser führen: im Cubbon Park, am Indian Institute for Management, in Wohnkomplexen. Ein gutes Zeichen ist auch, dass der durchschnittliche Grundwasserpegel in Bangalore zwischen 2020 und 2022 um gut 2,5 Meter gestiegen ist. Jedoch habe es laut dem Hydrologen Shashank Palur in diesen Jahren auch besonders viel geregnet: „Bisher gibt es noch kein wissenschaftliches Monitoring der Brunnen, darum stützt sich der Erfolg bislang auf Erfahrungen und anekdotische Evidenz.“

Die Geschäfte der Brunnenbauer laufen jedenfalls wieder gut. Ramakrishna K R erzählt voller Stolz von Sohn und Tochter, die nun die Universität besuchen. Es ist die erste Generation, in der das Kind eines Brunnenbauers kein Brunnenbauer mehr werden muss. „Wir sind sehr glücklich, dass unsere Arbeit und die unserer Vorväter gewürdigt wird“, sagt Shankar, „die Stadt gibt uns wieder Arbeit, und wir geben der Stadt Wasser.“

Mittlerweile ist die Brunnen-Initiative in zehn weiteren indischen Städten gestartet, initiiert vom Bundesministerium für städtische Angelegenheiten.


Kommt besser an als Recyclat: Brunnenwasser

3. Hightech-Trinkwasser

Doch um den Kreislauf zu schließen, braucht es mehr als nur Brunnen. Es braucht einen neuen Blick auf Abwasser. In Bangalore, sagt Vishwanath S, sehe das kaum einer so klar wie der Unternehmer Vikas Brahmavar.

Wer dessen Geschäft verstehen will, muss die Orion Mall besuchen, eines der größten Einkaufszentren der Stadt: Springbrunnen vor dem Eingang, hell ausgeleuchtete Flagship-Stores auf vier Stockwerken, acht Hektar für den Konsumhunger der indischen Mittelschicht. Doch das, was diese Mall besonders macht, findet im Keller statt – fast heimlich.

In Bangalore müssen große Gebäudekomplexe ihr Abwasser entweder aufbereiten und wieder nutzen oder Firmen finden, die es ihnen abnehmen. De facto aber fließen laut Schätzungen des Forschungsinstituts Well-Labs rund 70 Prozent des Abwassers illegal in den Abfluss. Die Orion-Mall ist eine positive Ausnahme. Denn in der wenig genutzten Tiefgarage des Hauses steht auf der Fläche von zwei Parkplätzen, verborgen hinter deckenhohen Blechwänden, eine Anlage, die Abwasser in Trinkwasser verwandelt.

„Wasser ist eine wertvolle Ressource. Und unser System sorgt dafür, dass wir die nicht nach einmaligem Gebrauch wegschütten, sondern wieder nutzen können“, sagt Brahmavar. Er steht vor den Filtersystemen, die sein Unternehmen Boson White Water hier installiert hat und erklärt: „Das Wasser aus der Pflicht-Kläranlage der Mall wird in unser System gepumpt und in elf Stufen gereinigt.“ Vollautomatisch und ferngesteuert.

Durchsichtige Rohre machen die verschiedenen Stufen der Aufbereitung sichtbar, aus trübem Wasser wird mit jeder Filtration, Membran und UV-Behandlung schließlich klares Trinkwasser. „Bakterien, Schwermetalle, Pestizide und Herbizide werden entfernt, wir lassen das Wasser regelmäßig von zertifizierten Laboren prüfen“, sagt Brahmavar, zapft sich zur Bestätigung ein Glas ab, das noch vor wenigen Stunden Toilettenwasser war, und trinkt es in einem Zug aus.

Außer ihm trinkt hier allerdings niemand dieses Wasser – in der Orion Mall wird es nur für die Kühlung des Gebäudes verwendet. Auch dafür braucht man sauberes Wasser. 90.000 Liter können täglich aufbereitet werden, das Kaufhaus spart damit laut Boson White Water jährlich 2,7 Millionen Liter und 217.000 Euro.

Die 33.000 Euro teure Anlage bleibt im Besitz von Boson White Water, die Mall zahlt für das aufbereitete Wasser 2280 Euro pro Monat. Ein Beitrag zum Umweltschutz, mit dem sich die Betreiber des Einkaufszentrums aber nicht schmücken wollen. „Zur Eröffnung vor drei Jahren haben wir dieses Banner mitgebracht, um die Einsparung und unser Projekt zu bewerben“, sagt Brahmavar und zeigt auf ein Poster, das versteckt hinter einem Wassertank lehnt, „aber man will nicht, dass die Kunden vom Recycling erfahren.“

Der Gründer kennt das Problem: Das Vertrauen in die Technik ist gering und das Stigma hoch (siehe Infokasten). In Indien, wo Wasser auch einen wichtigen spirituellen Wert hat, ist dessen Reinheit besonders wichtig. Um Recycling zu etablieren, braucht es daher Feingefühl. Brahmavar sagt, all seine Projekte erforderten lange Vorgespräche und viel Überzeugungskraft. „Es gibt hohe psychologische Hürden, aufbereitetes Wasser zu nutzen“, sagt er. „Aber da kein Weg daran vorbeiführt, fangen wir besser so schnell wie möglich damit an.“

Vikas Brahmavar hat in seiner Kindheit erlebt, wie Konflikte ums Wasser eskalieren können. „Als ich zehn war, schärfte mir mein Vater ein: Wenn jemand gegen die Haustür hämmert, renn zum Hinterausgang raus und versteck dich bei den Nachbarn.“ Damals, 1991, starben 16 Menschen im Konflikt um die Verteilung des Wassers aus dem Cauvery-Fluss. „Wahrscheinlich ist das eine starke Erinnerung, die mich antreibt“, sagt er.

Bevor er zum Wasser-Unternehmer wurde, arbeitete Brahmavar als Programmierer für eine Investment-Bank in London. Doch er wollte zurück nach Indien, um in seiner Heimat etwas zu bewegen, sagt er. „Viele Unternehmer, die im Ausland waren, haben unrealistische Ansprüche an die indische Verwaltung. Wir können hier nicht auf ein zentralisiertes System setzen wie in Europa, dafür wachsen unsere Städte zu schnell.“

Der in Bangalore subventionierte Wasserpreis von weniger als einem Cent, müsste laut Experten verzehnfacht werden, um allein die Betriebs- und Wartungskosten zu decken. Darum erwartet Brahmavar auch nicht viel von den städtischen Wasserwerken. „Wir müssen auf dezentrale Systeme setzen. Mehr Akzeptanz für recyceltes Wasser ist dazu der Schlüssel.“


Mehr Arbeit als ein Wasserhahn: Shankar bei der Brunnen-Wartung in Devanahalli

4. Symbiose am Stadtrand

Der Ort, an dem Brunnenbaukunst und Erfindergeist zusammenkommen, ist der Vorort Devanahalli im Norden Bangalores. Das ungeübte Auge sieht hier einen von Hirsefeldern und Kokospalmen umrahmten See, einen Brunnen und ein bunt bemaltes Wartungshäuschen. Der Wasser-Experte Vishwanath S sieht hier die Zukunft. Er sagt: „Das hier ist in ganz Indien die erste Installation für indirekt recyceltes Trinkwasser“ – eine Lösung, um das Stigma mithilfe traditionellen Wassermanagements aufzulösen.

Und das funktioniert so: Der See wird mit aufbereitetem Wasser aus einem öffentlichen Klärwerk gefüllt. Der See speist den Grundwasserleiter und der wiederum einen Hunderte Jahre alten Brunnen, der von Mannu Vaddars restauriert wurde und nun wieder Wasser führt. So wird Kläranlagenwasser zu Brunnenwasser. Eine natürliche Umetikettierung, die für mehr Akzeptanz sorgt. Das Brunnenwasser wird dann in einer Anlage von Boson White Water zu Trinkwasser aufbereitet, mit dem die Menschen der Umgebung versorgt werden. So wird aus Kläranlagenwasser erst Seewasser, dann Brunnenwasser, dann Trinkwasser. Ein weiter Weg. Aber einer, der gegen Berührungsängste hilft.

Die 10.000 Menschen der umliegenden Dörfer waren bisher von Wasser aus bis zu 300 Metern Tiefe abhängig. Jetzt bekommen sie aus der neuen Anlage täglich bis zu 250.000 Liter sauberes Trinkwasser, das jeden Monat vom Indian Institute of Science getestet wird.

Forschungsinstitute wie das Well Lab in Bangalore verfolgen das Projekt aufmerksam. „Es gibt einen starken Ekelfaktor, wenn es um die direkte Wiederverwendung von Abwasser geht. In einer Umfrage war die Mehrheit der Menschen nicht bereit, geklärtes Wasser für etwas anderes als die Toilettenspülung und den Garten zu verwenden“, sagt die Stadtplanerin Shreya Nath. „Aber wenn dieses Wasser zunächst in einen See oder Brunnen geleitet wird, bevor es in die Haushalte gelangt, steigt die Akzeptanz. Das könnte für die Zukunft der Wassernutzung entscheidend sein.“ Man müsste das recycelte Wasser dafür nicht einmal trinken, denn der Großteil des täglichen Wasserbedarfs wird fürs Waschen, Spülen und Baden verwendet.

Rund 27.000 Euro hat das Projekt in Devanahalli gekostet, finanziert vom Rotary Club und der örtlichen Niederlassung von Carl Zeiss India. Weil das Wasser durch die natürliche Versickerung zwischen See und Brunnen bereits gefiltert werde, koste der laufende Betrieb der Aufbereitungsanlage nicht mehr als 40 Euro im Monat, sagt Vishwanath S, „etwa so viel, wie der Fischer verdient, der hier die Karpfen aus dem See zieht und auf dem Markt verkauft.“

Das System ist seit November 2023 in Betrieb, die gelben Blumengirlanden und die rituellen Kurkuma-Markierungen der Einweihungszeremonie sind noch frisch. „Bisher nutzen die Menschen in der Gegend das Wasser vorwiegend nicht zum Trinken, sondern für den Haushalt“, sagt Vishwanath S. Das Vertrauen in die Fusion von Tradition und Technik müsse erst wachsen. „Wir wollen nicht einfach mehr sauberes Wasser bereitstellen. Wir wollen, dass die Menschen das Woher und Wohin von Wasser begreifen“, sagt er. Dafür brauche man neben altem Wissen und neuer Technik eben auch einen langen Atem. ---


Vikas Brahmavar von Boson White Water

Der Wasserbedarf in Städten wächst weltweit. Die UN erwartet eine Steigerung um 80 Prozent bis 2050. Aufgrund der anhaltenden Urbanisierung könnte dann mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung von Wasserknappheit betroffen sein.

Nach Bangalore werden täglich 1,5 Milliarden Liter Flusswasser gepumpt. Das deckt aber nur die Hälfte des Bedarfs. Der Betrieb der Pumpen kostet schätzungsweise 300.000 Euro pro Tag. Bis April 2024 soll die Infrastruktur ausgebaut und 100 Prozent der Bevölkerung mit Leitungswasser versorgt werden. Experten zweifeln, ob die Maßnahmen ausreichen.

Laut Medienberichten gibt es in Bangalore rund 12.000 öffentliche, 370.000 genehmigte private und schätzungsweise ebenso viele illegale private Grundwasserbrunnen. Fachleute schätzen, dass täglich mehr als 600 Millionen Liter Grundwasser entnommen werden, aber nur 240 Millionen Liter zurückfließen. Ein einziger Versickerungsschacht kann pro Regentag rund 4.500 Liter Wasser in den Untergrund leiten. Die Unesco schätzt, dass das Graben und die Instandhaltung der Brunnen in Bangalore den Brunnenbauern seit dem Beginn der „One Million Wells“-Kampagne Einnahmen in Höhe von etwa 889 Millionen Euro eingebracht habe.

Insgesamt fallen in indischen Städten täglich 72 Milliarden Liter Abwasser an. Würden sie aufbereitet und wiederverwendet, könnte damit trotz Klimakrise langfristig Wassersicherheit gewährleistet werden, wie der Thinktank Council on Energy, Environment and Water berichtet. Bangalore hat bereits heute mit rund 2.700 die meisten dezentralen städtischen Kläranlagen der Welt. Viel zu oft landet das gereinigte Wasser aufgrund von Vorbehalten aber im Abfluss. Andernorts wird es intensiver genutzt, etwa in Israel, wo 90 Prozent des Abwassers aufbereitet und in der Landwirtschaft verwendet wird. Oder in Singapur, wo durch Hightech-Aufbereitungsanlagen 40 Prozent des nationalen Wasserbedarfes (vor allem Industrie und Kühlung) gedeckt wird.

Strenggläubige Hindus sehen Wasser als verunreinigt an, wenn es Kontakt mit „unreinen“ Menschen niederer Kasten hatte – dagegen hat schon 1927 der Sozialreformer und spätere Verfassungsvater B. R. Ambedkar protestiert, indem er Tausende sogenannte „Unberührbare“ dazu aufrief, aus einem für höhere Kasten bestimmten Wassertank zu trinken. Doch auch heute, hundert Jahre später, werden noch Menschen getötet, wenn sie Wasser aus demselben Krug trinken wie vermeintlich Höhergestellte. Im Mai 2023 erst wurden zwei Jungen in einem Randbezirk der IT-Metropole Bangalore aus diesem Grund umgebracht.


Klare Trennung: oben Trinkwasser, unten Toilette

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Zur Serie: Indien – Land im Aufbruch

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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