Indien

Wo die wilden Einhörner grasen

Diese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt. Und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Der zweite Teil führt nach Bangalore, der Start-up-Metropole des Landes.





Beliefern das ganze Land mit Teig: iD-Mitarbeiter im Büro mit Blick auf Bangalore

• In Bangalore gibt es ein Sprichwort: Wer einen Stein in die Menge wirft, hat gute Chancen, einen Gründer zu treffen. Mit mehr als einer Million Start-ups liegt Indien weltweit auf Platz drei, nach China und den USA. Man findet sie in allen großen Städten wie Mumbai, Hyderabad und Neu-Delhi – aber nirgends so zahlreich wie in Bangalore im südindischen Bundesstaat Karnataka.

„Techfirmen wie Wipro und Infosys haben Bangalore in den 2000er-Jahren zum IT-Hub Indiens gemacht“, sagt Karan Bahadur, der in der Stadt das Draper Startup House leitet, ein Treffpunkt der Szene. „Die Stadt bietet ein angenehmes Klima, erschwinglichen Wohnraum und eine lebendige Musik- und Kneipenkultur.“ 2010 wuchs das indische Bruttoinlandsprodukt um mehr als zehn Prozent, das weckte auch die Begehrlichkeiten ausländischer Investoren. Im selben Jahr investierte Tiger Global aus den USA zehn Millionen Dollar in den indischen Onlinehändler Flipkart. Bald setzten andere Risikokapitalfirmen wie Softbank und Accel auf indische Gründer. Im Jahr 2015 gab es 10.000 Start-ups in Indien, darunter acht Einhörner (Unternehmen mit einer Bewertung von mindestens einer Milliarde Dollar). Heute sind es zehnmal so viele.

Das Zentrum der Szene ist die sogenannte Unicorn Street im Süden Bangalores. Nirgends sonst wurden so viele Einhörner gegründet wie hier. Zu beiden Seiten der 500 Meter langen Straße ragen die Gebäude in den Himmel, voller Büros, Restaurants, Cafés und Co-Working-Spaces.

Die vergangenen zwei Jahre waren schwierig für die bis dahin erfolgsverwöhnten jungen Firmen. Von den damals noch 80 Einhörnern erwirtschafteten nur 17 Gewinne. Die meisten mussten Beschäftigte entlassen und den Betrieb umstrukturieren, acht verloren den Einhorn-Status. Im Nachhinein geben Marktkenner den überhöhten Unternehmensbewertungen die Schuld. Die Investoren seien misstrauisch geworden, heißt es, und ihre Zurückhaltung hält bis heute an.

Was die indische Gründerszene ausmacht, wie sie auf Wirtschaft und Gesellschaft wirkt, soll am Beispiel dreier Unternehmer erzählt werden. Da ist der Fintech-Gründer, der seine Gewinne statt in Privatjets lieber in gemeinnützige Projekte und den Aufbau der indischen Wirtschaft steckt. Der Nahrungsmittelhersteller, der sich trotz kultureller Widerstände an die Spitze gekämpft hat. Und der Plattformbetreiber, der aus den USA zurückgekehrt ist, um in Indien durchzustarten – und jetzt an seiner Ent- scheidung zweifelt.

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Der soziale Unternehmer

Zerodha ist ein Musterbeispiel für den Aufstieg indischer Start-ups und blieb auch vom Krisenjahr 2023 unberührt. Das Fintech-Unternehmen gibt es erst seit 2010, es war aber von Anfang an profitabel – im Jahr 2011 lag der Gewinn bei 16 Millionen Euro, 2023 bei 318 Millionen Euro. Die Gründer sind die Brüder Nithin und Nikhil Kamath, heute so etwas wie die Aushängeschilder der indischen Techbranche. Zerodha ist eine Onlineplattform für den Aktienhandel. Das Besondere ist die Preisgestaltung: Jede Transaktion kostet pauschal 20 Cent. Bevor die Firma 2010 auf den Markt kam, berechneten die Börsenmakler ihren Kunden komplizierte Gebühren, die sich nach der Größe der Transaktion richteten. Die Zerodha-Pauschale und eine intuitiv zu bedienende Software veränderten die Art und Weise grundlegend, wie Inderinnen und Inder in Aktien investierten.

Der Hauptsitz von Zerodha liegt nicht in der Unicorn Street, sondern etwas abseits. Der gläserne Bürokasten ist innen mit Motivationssprüchen und wilden Grafiken geschmückt. Eine Plakette preist den Mitarbeiter des Monats. Es ist seit jeher der Bürohund „Zero“. Die Atmosphäre ist so entspannt wie Co-Gründer Nithin Kamath. Der sanftmütige 43-Jährige erzählt erstaunlich offen von Niederlagen – was daran liegen mag, dass er angesichts seines zehnstelligen Dollar-Nettovermögens ohnehin über den Dingen steht. Dass er eines der profitabelsten Einhörner Indiens aufgebaut hat, erklärt er so: „Wir hatten einfach Spaß an der Sache.“

Kamath ist ein ungewöhnlicher Held in der von Ingenieurs- und Managementabsolventen dominierten Szene. Er hat zwar einen Abschluss in Telekommunikationstechnik am renommierten Indian Institute of Technology in Bangalore, verzockte sich dann allerdings an der Börse und arbeitete in einem Callcenter, um das Geld wieder hereinzuholen. Damals habe er die Messlatte für sein weiteres Leben so niedrig angesetzt, dass beinahe alles als Erfolg gezählt hätte, sagt er. Das Callcenter, in dem er zwischen 2001 und 2004 arbeitete, war auf den US-Markt ausgerichtet. Nithin Kamath verkaufte alles – vom DVD-Player bis zu Zahnpasta-Abos. Damals habe er alles zum Thema Vertrieb gelernt: „Wer verkaufen will, muss verkaufen“, sagt er und lacht.

Nach der Zeit im Callcenter arbeitete er selbstständig als Finanzberater und entwickelte mit seinem Bruder die Firmenidee. Am Anfang hatten die beiden kein Glück bei Risikokapitalgebern, sie liehen sich Geld von Familie und Freunden und legten ihre Ersparnisse zusammen. Viel Geld für Werbung hatten sie nicht, also verließen sie sich auf Mundpropaganda und hofften, dass ihr Pauschalangebot überzeugen würde.

Vom ersten Tag an schrieb Nithin Kamath einen Blog. Seine knappen Beiträge über Finanzen, Wirtschaft und das Leben wurden immer beliebter und erreichten bald eine große Anhängerschaft. Das machte viel Arbeit, aber es half, eine Marke mit großer Bekanntheit und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Heute folgen Nithin Kamath auf LinkedIn und X mehr als zwei Millionen Menschen.

Die Brüder waren auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der indische Fintech-Sektor hat in den vergangenen zehn Jahren eine Revolution erlebt. Der Aufstieg des digitalen Bezahlsystems UPI *, der Boom von Smartphones, der Ausbau der Internet-Infrastruktur und Reformen der indischen Börsenaufsicht haben den Weg für ein schnelles Wachstum der Aktienmärkte geebnet. Als sich Indien 2020 im Covid-19-Lockdown befand, schnellte die Zahl der Kundinnen und Kunden von Zerodha in die Höhe. Am Ende des Geschäftsjahres 2022 /2023 lag der Umsatz bei rund 754 Millionen Euro.

Unfassbar, findet auch Nithin Kamath. „Als wir gut im Geschäft waren, fragten wir uns, wozu das ganze Geld gut sein sollte“, sagt er. „Ich könnte mir morgen eine Boeing kaufen, aber wo soll das enden?“ Das brachte ihn 2016 auf die Idee zu Rainmatter, ein Unternehmen mit zwei Bereichen. Erstens eine profitorientierte Beteiligungsgesellschaft, die Gewinne von Zerodha in indische Start-ups investiert – bislang 44 Millionen Euro in mehr als 80 Firmen; für 2024 stehen 110 Millionen Euro bereit. Zweitens eine gemeinnützige Stiftung, die unter anderem in Bildung, Landwirtschaft, Journalismus und ökologische Nachhaltigkeit investiert. Eines der unterstützten Unternehmen kümmert sich etwa um die chronische Wasserknappheit in Bangalore (dazu mehr in einer kommenden Ausgabe der Serie).

Einen politischen Standpunkt nimmt Rainmatter ausdrücklich nicht ein. Geschäftsleute in Indien tun ihre politische Gesinnung generell kaum kund. Dabei wurden unter dem Premierminister Narendra Modi die demokratischen Rechte eingeschränkt, die Redefreiheit ist bedroht, Minderheiten werden angegriffen. Die Institutionen des Staates sind zu Waffen gegen Andersdenkende geworden, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Nithin Kamath leugnet den Verfall der indischen Demokratie nicht. „Aber als Geschäftsmann muss man in der politischen Mitte stehen“, sagt er. „Zumindest öffentlich. Sonst stürzt sich die andere Seite auf dich.“

Seine Haltung ist betont konstruktiv. Über den eigenen Profit hinaus wolle er mit seinen Unternehmen die Wirtschaft und Gesellschaft Indiens unterstützen. „Das gibt meinem Leben einen Sinn“, sagt er. „Es hilft mir, zu rechtfertigen, was ich tue.“


Könnte sich morgen eine Boeing kaufen, macht er aber nicht: der Zerodha-Gründer Nithin Kamath im Garten seines Hauses in Bangalore

Der muslimische Gründer

Wer eines der fast täglichen Gründer-Events in Bangalore besucht, trifft dort schnell auf junge Ingenieure Mitte 20, die Stein und Bein darauf schwören, die Landwirtschaft, die globale Erwärmung oder die Kindererziehung zu revolutionieren – wenn sie das nötige Kapital bekämen. Als PC Musthafa (in Südindien verzichten manche auf den vollen Vor- oder Zunamen) die Firma iD Fresh Food im Jahr 2005 gründete, machte er nicht so große Worte.

Dabei war seine Idee ebenso groß wie einfach: Er verkauft abgepackten Fertigteig für Idlis und Dosas. Sowohl die gedämpft-fluffigen Idli-Reiskuchen als auch die Crêpes ähnelnden Dosas gehören zu einem südindischen Frühstück wie hierzulande Müsli und Brötchen. Ein gigantischer Markt. Aber ausgerechnet zur Zeit der Firmengründung lagen ausländische Exoten wie etwa McDonald’s, Subway und Starbucks im Trend. Die Investoren hielten daher nicht viel von Musthafas hausbackener Idee. „In ein Pizzageschäft hätten sie sofort investiert“, sagt er. „Das Idli-Geschäft war schwierig.“

Heute stellt das Unternehmen mit 1.500 Beschäftigten 100.000 Kilo Teig pro Tag her und machte 2022 einen Umsatz von knapp 53 Millionen Euro. Es verkauft seine Produkte in ganz Indien und im Nahen Osten und plant gerade die Expansion in die USA. Eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte für einen Gründer, der als Kind davon träumte, irgendwann einmal genug zu verdienen, um sich regelmäßig Frühstück leisten zu können.

Musthafa stammt aus einem kleinen Dorf in Kerala, einem Bundesstaat in Südindien. Sein Vater arbeitete auf einer Ingwerfarm und hatte Mühe, seine vier Kinder zu ernähren. Um zu helfen, kaufte Musthafa im Alter von zehn Jahren Süßigkeiten aus einer Nachbarstadt und verkaufte sie in seinem Dorf zum doppelten Preis weiter. Die Stadt war 14 Kilometer entfernt, der Junge ging beide Strecken zu Fuß. „Meinen ersten Laden habe ich mit der Sitzbank meines Vaters und dem Sari meiner Mutter gebaut“, sagt er. Von seinem Gewinn kaufte und züchtete er Ziegen. Später erwarb er eine Kuh, deren Milch er verkaufte. Nebenbei studierte er. Dank der finanziellen Unterstützung seiner Familie und eines Lehrers konnte er sein Ingenieurstudium abschließen und bekam Jobs in Irland und im Nahen Osten.

Dort verdiente Musthafa genug, um ein neues Haus für seine Familie zu bauen und die Hochzeiten seiner Schwestern zu finanzieren. Aber es zog ihn zurück in die Heimat, er wollte dort etwas bewegen. Im Jahr 2006, da war er Ende 30, zog Musthafa nach Bangalore. So konnte er arbeiten und regelmäßig in sein nahe gelegenes Heimatdorf reisen. Dort fand er Kontakt zu seinen vier Cousins, die in der Stadt einen Lebensmittelladen betrieben. Mit ihnen baute er iD Fresh Food auf. Musthafa ist der Geschäftsführer des Familienunternehmens, die Cousins besetzen andere Führungspositionen.

In Bangalore, einer Stadt mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, werden Idlis und Dosas durchschnittlich drei- bis viermal pro Woche verzehrt. „Wir sprechen hier von einem millionenschweren Potenzial in nur einer Stadt“, sagt Musthafa. Das Problem war, dass die Leute Vorbehalte gegen abgepackte Fertigprodukte haben. Zu viele Konservierungsstoffe, zu viele Verunreinigungen. Idli-Dosa-Teig wird daher traditionell selbst gemacht.

Um diese Berührungsängste abzubauen, hielten sich Musthafa und seine Cousins strikt an Großmutters Rezept. Eine Mischung aus angekochtem Reis, Linsenbrei und einer Prise Bockshornklee – keine Chemikalien, kein Backpulver. Sauberkeit und Qualität waren das oberste Gebot. Das machte das Produkt mit rund einem Euro pro Kilo zwar teurer und weniger haltbar, aber es konnte geschmacklich mit Selbstgemachtem mithalten. Das kam gut an, bei Kunden wie bei Investoren. In seiner vierten Finanzierungsrunde sammelte iD 2022 rund 56 Millionen Euro ein. Außerdem erweiterte das Unternehmen die Produktpalette um indischen Frischkäse (Paneer), Parotta-Fladenbrote, Instantkaffee und andere Fertigteige.

Die Firma gehört zu den wenigen erfolgreichen in Indien, die von muslimischen Unternehmern geführt werden. Dies ist bedeutsam in einer Zeit, in der in Indien immer häufiger vom „Business Jihad“ die Rede ist. Diese Verschwörungserzählung besagt, dass Muslime die Gewinne aus ihren Geschäften zur Finanzierung anti-hinduistischer Aktivitäten verwenden würden. In einigen Städten Nordindiens werden von Muslimen geführte Firmen boykottiert. Das betrifft auch etablierte Unternehmen wie das mehr als 90 Jahre alte Drogerie-Imperium Himalaya Wellness Company, dem fälschlich unterstellt wurde, Rinderknochen in die Produkte zu mischen, und das daher von Bürgerwehren ins Visier genommen wurde.

2021 verbreitete sich eine Whatsapp-Nachricht, in der behauptet wurde, iD habe „Rinderknochen und Kälberlab“ in den Teig gemischt. Kühe sind vielen Hindus heilig, somit hatte diese Behauptung das Potenzial, konservative Gläubige zu mobilisieren. Zudem wurde die Lüge verbreitet, die Firma stelle nur Muslime ein. Das Unternehmen wies alle Vorwürfe zurück und schaltete einen Livestream vom Fabrikgelände, damit die Kunden selbst sehen konnten, wie dort gearbeitet wird. Die Geschäftsleitung lehnt es jedoch ab, den Vorfall mit rechter Hindu-Propaganda in Verbindung zu bringen. Man spricht nur vage vom Angriff eines Branchenkollegen.

„Die Leute wollen daraus gerne eine Sensationsmeldung machen, aber ich glaube nicht, dass es etwas mit Religion zu tun hat“, sagt Musthafa. Sein Zögern ist angesichts des politischen Klimas verständlich. Er bleibt dabei: „Indien ist ein großartiges Land, um Geschäfte zu machen. Ich stehe dazu. Wenn ich meinem Wertesystem folge, wenn ich die Regeln des Landes achte, bin ich hier sicher.“


„Wir sprechen hier von einem millionenschweren Potenzial in nur einer Stadt“


Will in den Angriffen auf seine Firma keine religiösen Gründe sehen: der iD-Gründer PC Musthafa in seinem Büro in Bangalore

Der Rück-Rückkehrer

Wer ein Interview mit Rahil Shah will, der braucht Geduld. Und Beharrlichkeit. Das liegt aber nicht daran, dass Shah den Unnahbaren gibt. Im Gegensatz zu den meisten seines Ranges antwortet er persönlich und verschanzt sich nicht hinter einer Mauer aus PR-Leuten. Es sei einfach zu viel los, erklärt der Mann mit dem widerspenstigen Haar und den Bartstoppeln.

Im Oktober 2023 rief der Milliardär und Gründer des IT-Unternehmens Infosys, Narayana Murthy, die Jugend auf, sich in den Dienst der Nation zu stellen, um Indien wettbewerbsfähig zu machen. Von der kommenden Generation forderte Murthy die 70-Stunden-Woche. Das löste einen Sturm der Entrüstung aus. Die Arbeitsbedingungen in Indien sind oft miserabel, Arbeitnehmer sind kaum geschützt, ihre Burn-out-Quote ist laut McKinsey Health Institute eine der höchsten der Welt. Auch Shah hält nichts von 70 Stunden Arbeit pro Woche. „Wir sollten intelligenter arbeiten, nicht länger“, sagt er. Dennoch macht er manchmal beides, vor allem wenn es um einen großen Kunden und eine Deadline geht.

Seine Firma Zomentum ist ein sogenannter Managed Service Provider (MSP). Deren Software hilft Unternehmen beim Erstellen von Angeboten, beim Vertrieb, bei der Verwaltung des Umsatzes und der Abwicklung von Zahlungen. Zomentum ist erst sechs Jahre alt, der Umsatz lag 2023 bei rund fünf Millionen Euro.

Bis 2017 arbeitete Shah in San Francisco als Softwareingenieur für Twitter. Er reiste um die Welt, verdiente gutes Geld und gewöhnte sich an die Annehmlichkeiten des westlichen Wohlstands. Und doch reizte es ihn, sein eigenes Unternehmen zu gründen. Also gab er sein komfortables Leben auf und zog nach Bangalore. Er arbeitete 14 Stunden am Tag, baute ein 70-köpfiges Team auf, nahm in zwei Finanzierungsrunden rund 16 Millionen Euro ein. Heute hat Zomentum weltweit mehr als 5.000 Kunden, kleine und mittlere IT-Unternehmen.

Shah profitierte wie viele andere von der Flut an Risikokapital und von der demografischen Dividende Indiens (mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25). Es gibt Millionen von gut ausgebildeten Menschen, die bereit sind, für einen relativ geringen Lohn hart zu arbeiten. Das indische Jahreseinkommen für Softwareentwickler liegt grob bei 15.000 Euro, in den USA sind es rund 100.000. Eigentlich beste Voraussetzungen für Unternehmer. Doch Shah sagt: „Ich glaube, ich kann nicht mehr in Indien bleiben.“

Schon als Jugendlicher träumte er vom Ausland. Viele seiner Verwandten lebten in den USA und in Großbritannien. Er sah ihre Fotos und hörte die Geschichten über die ferne Opulenz: breite Straßen, große Häuser und ein pulsierendes Nachtleben. Nach seinem Schulabschluss studierte Shah am Indian Institute of Technology Ingenieurwissenschaften. Mit 23 Instituten über ganz Indien verteilt ist das IIT eine der ältesten und besten Ingenieurhochschulen des Landes. Die Chance, aufgenommen zu werden, liegt bei 1 zu 100. Shah bestand nicht nur die Aufnahmeprüfung, er war unter den 100 Besten des Landes. Da wusste er, dass die Welt ihm offensteht.


Hat die Nase voll von Stau und schlechter Luft: der Zomentum-Gründer Rahil Shah

Twitter war sein erster Arbeitgeber, direkt nach dem Studium. Microsoft und LinkedIn wollten ihn auch einstellen, aber Twitter ermöglichte ihm den Umzug ins gelobte Ausland. Ab 2014 verbrachte Shah drei Monate in Dublin und anschließend drei Jahre in den USA.

Doch der Traum vom Gründen ließ ihn nicht los. Ringsum sprachen alle vom indischen Start-up-Boom. Außerdem stammt Shah aus Gujarat – einem Bundesstaat im Westen des Landes, dessen Einwohner für ihr ausgeprägtes Unternehmertum bekannt sind. Die reichsten Männer Indiens, Mukesh Ambani und Gautam Adani, sind Gujaratis, ebenso wie Mahatma Gandhi oder der Premier- und der Innenminister des Landes. Ihnen wollte Shah nacheifern und sein eigenes Unternehmen aufbauen.

Also zog er 2017 nach Bangalore und gründete Zomentum. Shahs Mitgründerin und heutige Vorstandsvorsitzende Shruti Ghatge arbeitete damals bei einem Risikokapitalgeber. Nicht zuletzt ihre Kontakte ermöglichten die erste Finanzierungsrunde mit knapp vier Millionen Euro, weniger als ein Jahr nach Gründung.

Zurück in der alten Heimat wurde Shah allerdings auch mit der indischen Arbeitskultur konfrontiert: „In den USA arbeiten sie weniger Stunden, aber dafür effizient. Die Inder schaffen die Arbeit auch, aber erst nachdem sie den ganzen Tag im Büro verbracht haben.“

Nach einigem Auf und Ab stabilisierte sich die Firma und wuchs kräftig. Mitte 2023, das Unternehmen hatte mittlerweile eine Bewertung von 90 Millionen Dollar, sammelten Shah und Ghatge in einer zweiten Finanzierungsrunde weitere zwölf Millionen Euro ein. Eine glatte Erfolgsgeschichte, so könnte man meinen. Und doch will er ausgerechnet jetzt seinem Land den Rücken kehren – warum?

Zum einen ergebe es geschäftlich Sinn, auch in den USA zu sein, wenn die Kunden dort sind, sagt Shah. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Er vermisst die Dinge, die er im Ausland kennengelernt hat: saubere Straßen, frische Luft, fließender Verkehr, eine funktionierende Infrastruktur.

Indiens Großstädte wie Mumbai, Delhi und Bangalore leiden unter chronischen Verkehrsproblemen und einer so starken Luftverschmutzung, dass Ärzte oft nur einen Rat geben können: „Verlassen Sie die Stadt.“ Der Bauboom geht auf Kosten der Grünflächen, dadurch gelangt der Niederschlag kaum mehr ins Grundwasser, die Folgen davon sind Wassermangel und Überschwemmungen. Unter den 173 Städten, die 2023 von The Economist Intelligence Unit auf ihre Lebensqualität untersucht wurden, lagen die besten zwei Städte Indiens (Neu-Delhi und Mumbai) erst auf Platz 141.

Im Jahr 2022 hat fast eine Viertelmillion Menschen die indische Staatsbürgerschaft aufgegeben. Darunter viele vermögende Leute, die wegen der besseren Lebensqualität in den Westen gezogen sind.

Shah geht gern essen, treibt viel Sport und besucht Veranstaltungen. „In Bangalore gibt es viele interessante Dinge. Aber es ist schwer, sie zu erreichen.“ In der Hauptverkehrszeit kann man für ein paar Kilometer im Stadtzentrum bis zu eine Stunde brauchen. „Ich bin kein Stubenhocker, aber in Indien bleibe ich viel mehr zu Hause, als ich möchte.“

Er weiß, dass viele im Land andere Prioritäten haben als saubere Luft und guten Verkehr. Sie wollen erst mal Arbeit und genug zu essen. Aber seine Bedürfnisse sind andere. „Die Leute sagen immer, dass Indien wachsen wird“, sagt er. „Daran habe ich keinen Zweifel. Wenn ich 55 oder 60 Jahre alt bin, wird Indien viel besser und der Verkehr viel ruhiger sein. Aber das hier ist meine Jugend. Jetzt. Da stelle ich mir schon die Frage: Muss ich das wirklich durchziehen?“ --


Zur Rushhour beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Straßen Bangalores 18 Stundenkilometer – nur in London geht es weltweit langsamer voran

Interview mit dem Ökonomen Ashish Kulkarni

brand eins: Herr Kulkarni, wie steht es um den indischen Arbeitsmarkt?
Ashish Kulkarni: Je nach Berechnung liegt die Arbeitslosenquote bei rund acht Prozent. Wenn man sich die Zahlen aber genauer anschaut, zeigen sich Probleme. Zum Beispiel die niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen: Zwei Drittel haben keine Arbeit und suchen auch keine – und tauchen deshalb auch nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Hierzulande wird es immer noch nicht überall gern gesehen, wenn Frauen arbeiten und wählen gehen.

Was ist mit der demografischen Dividende – Millionen junger Menschen, die aufsteigen und hart arbeiten wollen?

Hier zeigt sich ein überraschendes Problem: Unter Akademikern liegt die Arbeitslosenquote bei 15 Prozent, bei den unter 25-Jährigen gar bei 42 Prozent. Je höher die Bildung, desto höher die Arbeitslosigkeit. Wir brauchen mehr Jobs für Hochqualifizierte.

Wie lässt sich dieses Problem lösen?

Wahrscheinlich bin ich altmodisch und hänge zu sehr an der Empirie. Für mich liegt der Schlüssel in der Produktion. Wir müssen das produzierende Gewerbe stärken. Von dem ging historisch betrachtet immer das Wachstum aus. Unsere Wirtschaft wächst, ohne dabei neue Jobs zu erschaffen. Das hängt auch mit der versteckten Arbeitslosigkeit zusammen. Gehen Sie mal in eines der schicken Hotels hier, da gibt es Angestellte, deren einziger Job es ist, am Waschbecken auf der Toilette Handtücher zu reichen. Ein klassisches Beispiel von Unterbeschäftigung. Setzen wir so als Land unsere Ressourcen sinnvoll ein? Nein. Indien muss endlich den Übergang schaffen von einer agrarisch geprägten, überwiegend ländlichen Gesellschaft zu einer auf die Produktion ausgerichteten, urbanisierten Gesellschaft.

Was tut die Regierung dafür?
Ich sehe nicht, dass deren Maßnahmen ausreichen. Der Fairness halber muss ich aber sagen, dass die anderen Regierungen der vergangenen 30 Jahre auch nicht besser waren. Sehr gut ist die aktuelle Regierung allerdings darin, die Diskussion über das Problem abzuwürgen.

Was ist mit den jüngst veranlassten enormen Infrastrukturprojekten?

Die Ausgaben für physische und digitale Infrastruktur sowie die Start-up-Ökonomie haben sich fast verdoppelt. Den Ausbau der Infrastruktur halte ich für sinnvoll, beim Rest bin ich nicht so sicher, inwiefern die das Arbeitslosenproblem lösen. Nirgends auf der Welt waren Start-ups bisher in der Lage, Arbeitsplätze in der Zahl zu schaffen, wie wir sie brauchen. Keine Wirtschaft ringsum ist je maßgeblich durch die Förderung von Existenzgründungen gewachsen. Ich habe nichts gegen Start-ups, aber ich sehe keine empirische Grundlage dafür, dass sie Indiens Arbeitslosigkeit beseitigen.

Ashish Kulkarni lehrt Wirtschaft und Statistik an indischen Instituten, etwa am renommierten Gokhale Institute und der Symbiosis-Universität in Pune.


Indien hat keinen Mangel an jungen Arbeitskräften

Indien in Zahlen

Arbeitslosenquote
Die Zahl der über 15-Jährigen in Indien, die seit mindestens einem Jahr vergeblich Arbeit suchen, liegt derzeit bei gut fünf Prozent. Zwischen 2017 und 2020 waren es fast neun Prozent. Gleichzeitig ist die Zahl der regulär Angestellten seit 2017 aber gesunken. Wie kann das sein? Die Arbeitslosenzahlen werden dadurch geschönt, dass es immer mehr Selbstständige gibt. Meist sind das Haushaltshilfen oder Taxifahrer mit niedrigem Gehalt. Oder wie es der indische Wirtschaftsprofessor Amit Basole formuliert: „Das sind die Art von Jobs, die du dir selbst erschaffst, wenn dich keiner einstellt. Wenn Menschen in großer Zahl aus festen Anstellungen in die Freiberuflichkeit wechseln, ist das meist kein gutes Zeichen für die Wirtschaft.“

Anteil der Festangestellten an der Erwerbsbevölkerung, in Prozent,
… im Jahr 2017/2018: 23
… im Jahr 2022/2023: 21

Anteil der zeitweilig beschäftigten Menschen an der Erwerbsbevölkerung, in Prozent,
… im Jahr 2017/2018: 25
… im Jahr 2022/2023: 22

Anteil der Selbstständigen an der Erwerbsbevölkerung, in Prozent,
… im Jahr 2017/2018: 52
… im Jahr 2022/2023: 58


Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Als der indische Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 die USA besuchte, war sein Land die zehntgrößte Volkswirtschaft der Erde. Acht Jahre später lag es auf Platz fünf – und die Chancen stehen nicht schlecht, dass es in wenigen Jahren vor Japan und Deutschland auf Platz drei liegen wird. Zwar ist die Art der Berechnung der indischen ökonomischen Kennzahlen umstritten; unbestritten ist aber, dass die Wirtschaft wächst. Die Erwartung der indischen Zentralbank fürs laufende Finanzjahr wurde jüngst nach oben korrigiert, auf 7,6 Prozent. Das sind Raten, von denen Deutschland seit dem Rücktritt Adenauers träumt. Und doch erzählt es nur einen Teil der Geschichte. Schließlich ist das BIP pro Kopf in Deutschland mehr als zwanzigmal so hoch wie in Indien. Einfacher gesagt: Indien muss noch sehr viel wachsen, um auf dem deutschen Niveau stagnieren zu können. Selbst wenn Deutschland ab sofort kein Wachstum mehr verzeichnen und Indien jedes Jahr stolze 15 Prozent zulegen könnte, würde es ungefähr bis ins Jahr 2045 dauern, bis beide Länder gleichauf wären.

Prognostiziertes BIP-Wachstum im Jahr 2024, in Prozent,
… in Indien: 6,3
… in Deutschland: 0,9

Höhe des BIP pro Kopf im Jahr 2023, in Euro,
… in Deutschland: 48.540
… in Indien: 2.400

Quellen: The Indian Express; IWF

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Zur Serie: Indien – Land im Aufbruch

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

Keine dieser Organisationen hat Einfluss auf die Inhalte.