Wege aus der Rohstoffkrise #3

Ein besonderes Tal

Die Fahrradindustrie in Portugal galt lange als verloren. Seit einigen Jahren erlebt sie eine Renaissance – und die Pandemie war dabei förderlich. Reise an einen Ort im Wandel.



Pannenhilfe bei einem Gira-Elektrorad im Hauptquartier von Emel in Lissabon


Autohersteller stoppen ihre Fließbänder, weil Halbleiter für Mikrochips fehlen. Metall verarbeitende Unternehmen haben volle Auftragsbücher, aber der Stahl, den sie brauchen, ist schwer zu bekommen. Und weil Holz zur Mangelware geworden ist, bleiben in Möbelhäusern Regale leer. Unzählige Hersteller, ganze Branchen klagen über nicht vorhandene Rohstoffe – und ihre Kunden über lange Lieferzeiten.

Klar, Corona. Aber ist diese Krise wirklich nur eine Folge der Pandemie? Das haben wir Expertinnen und Experten gefragt. Und wir berichten über mögliche Lösungen. Eine hat ein Duo aus Bonn gefunden, das aus der Not ein Geschäft macht – mit dem Kiribaum, denn der wächst schneller als jeder andere. Und wir haben ein Tal in Portugal besucht, wo sich die dortige Fahrradindustrie von globalen Lieferketten unabhängig macht, indem die Betriebe fast alles selbst herstellen.

Wege aus der Rohstoffkrise #1 – Kreative Mangelwirtschaft
Wege aus der Rohstoffkrise #2 – Der Alleskönner

• Rund eine Stunde südlich von Porto, zwischen Atlantik und den Bergen des portugiesischen Hinterlandes, erstreckt sich ein Tal, das hier seit fast hundert Jahren das Tal der Fahrräder heißt. Und das heute, glaubt man den Anwohnern, diesem Namen wieder gerecht wird.


 

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In Gewerbegebieten rund um die Kleinstadt Águeda reiht sich Fabrik an Fabrik, an den Eingangstoren hängen Schilder, aus Emaille oder Stahl, auf denen steht: „Wir suchen Mitarbeiter.“ Eine der Fabriken gehört dem Unternehmen Tabor, 1965 als Zusammenschluss fünf kleiner Hersteller gegründet und einer der traditionellen Produzenten von ledernen Fahrradsätteln in der Region.

Daniel de Matos, der 26-jährige Firmenchef, führt durch eine Lagerhalle, in der entsetzlicher Lärm herrscht. Vor einigen Jahren wurden die Rohmaterialien und Vorprodukte für die handgemachten Sättel – also Rohre, Sprungfedern, Leder – in Asien eingekauft. Heute stellt seine Firma dies und auch noch andere Teile fürs Fahrrad selbst her, in einer Anlage direkt neben der Sattelmanufaktur. Dort wird gesägt und geflext, riesige Stanzanlagen drücken Blechplatten zurecht, Einzelteile, Ersatzstücke, Winkel und Plaketten, von denen man als Laie nicht weiß, was aus ihnen wird. Matos erklärt es einem – ein Kleinststück für die Verbindung zwischen Lenker und Rahmen, ein Teil eines Pedals, der Klangraum einer Klingel. Dutzende Arbeiter laufen durch die Halle, verpacken Einzelteile in Kisten. Auf einigen kleben Zettel mit den Adressen von Unternehmen eine Straße weiter. In Águeda ist ein regelrechtes Biotop von Fahrrad- herstellern entstanden. „Wir bauen alles selbst, stellen alles selbst her“, sagt de Matos. Importiert wird nur das, was man nicht produzieren kann. Darin liegt für ihn die Zukunft.

Die Region rund um die Kleinstadt Águeda galt lange Zeit als verloren. In den Dreißigerjahren war sie zum Zentrum der Fahrradindustrie geworden, doch als Unternehmen in den Achtzigerjahren nach Asien abwanderten, um Kosten zu sparen, und wenig später billige Räder aus China den Markt fluteten, brach fast alles zusammen. Viele Menschen verloren ihren Job und zogen weg, nach der Finanzkrise 2008 war Portugal eines der am schwersten betroffenen Länder Europas. Seit einigen Jah-ren ist das anders. Águeda hat Portugal zum größten Exporteur von Fahrrädern in der Europäischen Union gemacht.


Kleinteile, die so wichtig sind und bei Tabor selbst produziert werden


Die Montage eines Elektrorads bei Lightmobie


Daniel de Matos von Tabor

In einem Industriegebiet im Norden Lissabons stehen Tausende grün-silberne Fahrräder in einem Hinterhof. Seit 2017 gibt es Gira, Lissabons Sharing-Bike-System mit mittlerweile mehr als 1000 Rädern an 110 Stationen. Die E-Bikes spiegeln die Ent-wicklung des portugiesischen Fahrradgeschäfts wider: Fast alles an ihnen kommt aus Portugal – die Batterie, der Stahl, der Rahmen, der Sattel, die Lichter, die Räder und die Transportkörbe. Nur der Motor kommt bei einigen Rädern noch aus China und die Bremsen von Shimano aus Japan.

„Seit der Pandemie gibt es ein großes Problem weltweit im Fahrradgeschäft“, sagt Nuno Pina, der den Betrieb von Gira verantwortet. „Alles, was aus Asien kommt, hat unendlich lange Lieferzeiten.“ Das sei ein Problem, weil asiatische Hersteller oft keine Reparaturen erlaubten und man kaputte Teile einsenden müsse. Bis sie zurückkommen, vergehe dann mehr als ein Jahr. „In unserem Warenlager liegen noch einige Hundert Ersatzteile von Shimano“, sagt Pina, „das ist gerade unser Gold und Silber.“

Die Pandemie hat die weltweiten Lieferketten durcheinandergebracht (siehe auch brand eins 11/2021: „Boxenstopp“), die Transporte mit Containerschiffen haben sich enorm verlangsamt. Die Nachfrage nach Fahrrädern aber ist stark gestiegen. Nicht nur weil Millionen Menschen in Großstädten sich aus Angst vor dem Virus vom öffentlichen Nahverkehr abgewandt und das Fahrrad entdeckt haben, auch generell hat sich die Sicht auf urbane Mobilität verändert. Lieferunternehmen wie FedEx oder UBS kaufen Lastenräder, weil diese in der Stadt praktisch und umweltfreundlich sind. E-Bikes erschließen einen komplett neuen Markt für Menschen, die zuvor aus Bequemlichkeit, wegen zu langer Distanzen oder körperlichen Einschränkungen kein Fahrrad nutzten. Eine explodierende Nachfrage traf auf ein sinkendes Angebot.

Die Hersteller in und um Águeda konnten darauf reagieren, weil deren Industrie sich schon einige Jahre vor Corona zu erholen begann. Dabei hatten die Anti-Dumping-Zölle geholfen, die die Europäische Union seit 1993 auf die Einfuhr von Fahrrädern aus China erhebt und die es den Produzenten ermöglichten, mit den Firmen aus Asien zu konkurrieren. Außerdem hatten sich bereits 2015 kleine Produzenten auf Initiative des portugiesischen Zweirad-Verbands Abimota zu einem Netzwerk zusammengeschlossen.

Gemeinsam konnten sie mehr investieren und weitere Produkte entwickeln. Bald siedelten sich Hersteller von Sätteln, Taschen, Rücklichtern, Reflektoren, Helmen, Kindersitzen, Schlössern und sogar von Batterien und komplexer Elektronik an – eine Industrie, die zuvor fast ausschließlich in Asien saß. Diese Infrastruktur half dem Tal der Fahrräder in der Pandemie, als etliche Teile für die Montage kaum noch lieferbar waren.

Was den Unternehmerinnen und Unternehmern auch half: dass die EU seit 2019 auch auf E-Bikes aus China Anti-Dumping-Zölle erhebt. Weil die dortigen Hersteller den Zugang zum europäischen Markt nicht verlieren wollen, nimmt die Geschichte gerade eine erstaunliche Wendung: Laut José Mota von Lightmobie hat kürzlich ein chinesischer Motorenhersteller mit der Firma In Cycles hier ein Werk für Fahrradmotoren eröffnet.

In den vergangenen drei Jahren haben die rund 70 Hersteller der Region etwa 10 000 Arbeitsplätze geschaffen. Das Land, in dem kaum zwei Prozent der Einwohner Europas leben, produziert nun 25 Prozent der Fahrräder in der EU. Und im einst abgeschiedenen Águeda hat heute ein olympisches Trainingszentrum seinen Sitz, in dem viele europäische Radteams trainieren.

Die Firma Lightmobie produziert heute E-Bikes und Bike-Sharing-Lösungen für Portugal und Spanien. RTE, nach eigenen Angaben Betreiber des größten Montagewerks für Fahrräder in Europa, stellt exklusiv für das französische Sportartikelunternehmen Decathlon Räder her. Außerdem sitzt in Águeda der größte Hersteller für Pedale, die erste europäische Fabrik für robotergeschweißte Alurahmen, und im Aufbau befindet sich eine Fabrik für Carbonräder. Miranda, eine Firma, die Komponenten für Gangschaltungen herstellt, hatte 2021 den höchsten Umsatz seit der Gründung vor rund 80 Jahren.

Einige Hersteller aus dem Tal der Fahrräder können sich über den Boom in ihrer Region aber nicht uneingeschränkt freuen. Für José Mota „ging alles viel zu schnell“. Die Hallen seien schon wieder zu klein, viele notwendige Teile knapp. Manche Hersteller hätten volle Auftragsbücher bis 2025. „Es wächst über den Rand hinaus“, sagt er und ist überzeugt, dass die kleinen Hersteller allein die Industrie nicht weiterentwickeln können, es brauche eine Konsolidierung. Einen Champion aus Portugal. „Denn sehr bald schon“, so sieht er das, „müssen wir einen Großteil des europäischen Marktes stemmen.“

Bis dahin müsse noch einiges an Produktion zurückgeholt werden. Da sei zum Beispiel die spezielle Bremsscheibe, die ein Vorderrad mit Nabenmotor braucht und die nur Shimano aus Japan produziert. Vor der Pandemie habe er nie darüber nach-gedacht, dass das ein Problem sein könnte. Aber dann waren die Bremsen auf einmal nicht mehr lieferbar. Sein Team entwarf das Rad daraufhin neu, sodass sie nun Bremsscheiben eines niederländischen Herstellers und Motorenteile von Bosch einbauen können. José Mota hofft, dass auch diese Bestandteile bald aus Portugal kommen.

Daniel de Matos von Tabor sieht es so: „In vielen europäischen Ländern dachten die Menschen, dass die Chinesen alles für sie bauen und sie selbst vom Tourismus leben können.“ Die portugiesische Fahrradindustrie profitiere nun davon, dass sie ihre Produktion nie ganz eingestellt und ihr Know-how nicht verloren habe. Er findet: „Wir müssen lernen, unsere Gebrauchsgegenstände wieder selbst herzustellen – aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen.“ ---


José Mota, der Geschäftsführer von Lightmobie und eines seiner Elektroräder

Tal der Räder
Im Jahr 1907 öffnete in Águeda der erste Fahrradimporteur. Er kaufte Räder in Frankreich ein und bot aus Mangel an Alternativen auch Reparaturen an. In den Dreißigerjahren siedelten sich immer mehr Hersteller von Zweirädern an, auch von motorisierten. Ein wesentlicher Grund dafür: Während der Diktatur von Antonio Salazar (Anfang der Dreißiger- bis Mitte der Siebzigerjahre) gab es Importverbote, Portugal stellte für Portugal her.

Mit der Liberalisierung des Marktes in den Achtzigerjahren verschwand die Industrie aus dem Tal fast komplett. Asiatische Importe fluteten den Markt, alle Motorradhersteller der Region gingen pleite, nur eine Handvoll Fahrradhersteller überlebte, sie spezialisierten sich auf Einzelteile: Tabor baute weiter Sättel, Miranda, gegründet 1940 und damit einer der ältesten Hersteller der Region, begann, Fahrradleuchten mit Dynamo zu produzieren. Águeda wurde zum Tal der Mikro-Champions für Helme, Fahrradanhänger, Pedale.

Von 2010 an stellte Tabor langsam auf Blech- und Stahlteile für Fahrräder um. Daniel de Matos zufolge macht das Unternehmen nur noch vier Prozent seines Umsatzes mit Sätteln.

Land der Fahrräder
Im Jahr 2019 exportierte Portugal 2,7 Millionen Fahrräder, 2020 wuchs das Geschäft um fünf Prozent. Der Herstellerverband Abimota rechnet für 2021 mit 30 Prozent Wachstum. Die Produktionskosten sind, seit die Räder hauptsächlich innerhalb des Landes und fast ausschließlich in Europa gefertigt werden, gestiegen – im Einkauf erhöhten sie sich laut Herstellerangaben um rund sieben Prozent. Die Räder selbst sind 10 bis 25 Prozent teurer geworden. Auch vor der Pandemie war Portugal vor Italien und Deutschland schon der größte Produzent von Fahrrädern in der EU.

Transportkosten
Ende 2019 zahlte Tabor für den Transport eines Containers von Schanghai nach Rotterdam 5000 Dollar, inzwischen um die 20 000 Dollar.

Ist es eine gute Idee, die Produktion nach Hause zu holen?

Grundsätzlich nicht, sagt Lisandra Flach, Leiterin des Zentrums für Außenwirtschaft am Ifo-Institut. Sie hat an der kürzlich erschienenen Studie „Internationale Wertschöpfungsketten – Reformbedarf und Möglichkeiten“ mitgearbeitet.

Eines der Ergebnisse: Der Wirtschaftskraft eines Landes könne es tendenziell schaden, sich von internationalen Lieferketten abzuwenden. Sie erklärt das so: Holen Staaten bislang ausgelagerte Produktionen flächendeckend zurück, bestehe die Gefahr, im internationalen Wettbewerb zurückzufallen. „Die Wirtschaft würde durch weniger wettbewerbsstarke Sektoren angetrieben und die damit verbundene geringere Produktivität die Wirtschaftskraft schwächen. Insgesamt würde das zu teureren Gütern führen, wir würden uns weniger leisten können.“ Laut der Untersuchung, in der es vor allem um Deutschland geht, könnte die hiesige Wirtschaftsleistung bei einer Rückverlagerung der internationalen Produktion um bis zu zehn Prozent sinken. Auch eine verstärkte Regionalisierung der Herstellung (etwa innerhalb der EU) hätte negative Auswirkungen auf Deutschland und andere Mitgliedsstaaten.

Welche Ausmaße diese genau hätten, hängt von den jeweiligen ökonomischen Voraussetzungen ab – in Portugal sind es andere als in Deutschland. Wie sich die Verlagerung einer Produktion eines einzelnen Sektors auf die Gesamtwirtschaft auswirke – wie im Falle der Fahrradindustrie in Portugal – lässt sich Flach zufolge kaum messen.

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Credits william veder netwerk inotiv

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