Wer sind wir?

Angestaubtes Image, stagnierende Umsätze: Beim Wuppertaler Werkzeughersteller Stahlwille suchte man einen Weg aus der Krise. Die Wende brachte die richtige Frage.




• „Hören Sie das?“, fragt Winfried Czilwa und dreht die Knarre in seiner Hand ein weiteres Mal um die Schraube herum. Um den Effekt zu verstärken, hält er das Werkzeug vor ein Tablet, das an die Soundanlage angeschlossen ist. Ein sattes, tiefes Ritsch-Ratsch-Ritsch füllt den Raum, der 55-Jährige nickt zufrieden. Dann holt er ein Produkt der Konkurrenz aus der Schublade, wieder erklingt ein Ritsch-Ratsch-Ritsch, diesmal aber scheppernd. „Eine Knarre aus dem Baumarkt kostet vielleicht nur halb so viel“, sagt der Geschäftsführer von Stahlwille, „aber unsere Qualität können Sie hören.“

Seit 1862 produziert Stahlwille Werkzeuge, der Gründer Eduard Wille ist im Namen verewigt, das Unternehmen bis heute in Familienbesitz. Knarren, Ringmaulschlüssel und Drehmomentschlüssel des Unternehmens werden unter anderem in der Luftfahrt und bei Automobilherstellern eingesetzt, in mehr als 90 Ländern. Alle elf Produktionsschritte vom Flachstahl zum Schraubenschlüssel finden in Deutschland statt, neben seinem Hauptstandort Wuppertal produziert Stahlwille auch in Remscheid und im thüringischen Steinbach-Hallenberg.

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An die 156-jährige Unternehmensgeschichte erinnert im Erdgeschoss des Firmenkontors nur wenig: Die Einrichtung ist minimalistisch, der Raum hell ausgeleuchtet, mit grünen LED-Lichtern an der Decke und auf dem Boden – die Firmenfarbe der Wuppertaler. An drei Stehtischen können sich Besucher über Design, Ergonomie und Funktion der Stahlwille-Werkzeuge informieren. Mit einem Klick auf die Tablets an jedem Tisch lässt sich der Raum in einen rot ausgeleuchteten Kinosaal verwandeln, auf der Leinwand taucht die Thüringer Schmiede des Unternehmens im Großformat auf.

Zur Außendarstellung gehören nicht nur eine ausgefeilte Präsentationstechnik, sondern auch kleine Seitenhiebe auf die Konkurrenz. Die hat man stets im Blick, das liegt schon an der Nachbarschaft: Ein paar Hundert Meter entfernt produziert Knipex Zangen, Julius Berger Schneidwerkzeuge, Wera Schraubwerkzeuge und die Firma Picard Hämmer. Hinzu kommen unzählige Wettbewerber aus dem Ausland. „Wir sind nie die Billigsten“, sagt Czilwa. „Also mussten wir unsere Stärken besser herausstellen.“

Als Branchenneuling verhalf Winfried Czilwa dem Traditionsunternehmen zu einem neuen Image.
Der Firmengründer Eduard Wille ist als Projektion im Kundenzentrum des Stahlwille-Kontors stets präsent

Mehr als eine Million Euro hat es gekostet, die „altehrwürdige Hülle mit komplett neuen Inhalten zu füllen“, wie der Geschäftsführer den Umbau des Kontors beschreibt. Nicht gerade wenig Geld für einen Mittelständler mit 600 Mitarbeitern und gut 80 Millionen Umsatz, für den Chef aber wichtiger Teil einer zwingend notwendigen neuen Marketingoffensive.

Zu der gehörte in diesem Winter beispielsweise auch ein Adventskalender im Werkzeugwagen-Design, mit Augmented-Reality-Effekt. Wer sich den 1,6 Kilogramm schweren Kalender zu Hause aufstellte, fand hinter dessen Türchen 24 Werkzeugteile. Wer außerdem über eine App die Schubladen des Werkzeugwagens virtuell öffnete, fand dort digitale Extras: Produktvideos zum Beispiel, ein Backrezept und einen Gutschein für ein Stahlwille-Plüschtier. „Vor drei Jahren wäre so etwas noch völlig verpufft“, sagt Czilwa. „Und es hätte nicht zu uns gepasst.“ Auch die Stelle der Social-Media-Mitarbeiterin, die den Adventskalender mitentwickelte, gibt es erst seit einem Jahr – bevor das Unternehmen nach außen kommunizieren wollte, sollte erst mal geklärt werden, wofür Stahlwille steht.

Als der gebürtige Ostfriese Czilwa 2014 zu Stahlwille kam, lag eine unruhige Zeit hinter dem Unternehmen. Das ehemals innovative Image der Wuppertaler war verblasst, nachdem lange mehr verwaltet als gestaltet worden war. Bevor Czilwa morgens die Auftragseingänge abrief, atmete er tief durch. Die Umsätze dümpelten vor sich hin. Und nach mehreren Führungswechseln hatte auch die Stimmung in der Belegschaft deutlich gelitten. In seinem ersten Jahr als Geschäftsführer kam nicht einmal jeder dritte Mitarbeiter zur Weihnachtsfeier. Branchenneuling Czilwa, der zuvor beim Leiterhersteller Hailo, für die Deutsche Bahn und den Elektronikkonzern AEG gearbeitet hatte, wurde beim Werkzeughersteller skeptisch beäugt. Drei Wochen nach seinem Antritt wandte sich ein Mitarbeiter an ihn, fast empört: „Nun müssen Sie aber mal sagen, wo es langgeht.“ Czilwa aber wollte lieber erst einmal in Ruhe Fragen stellen – und dann eine neue Markenstrategie entwickeln, die möglichst viele seiner Mitarbeiter mittragen würden.

Jeder im Haus sollte das Konzept kennen

Dabei half ihm der Berater und Marketingspezialist Dominic Multerer, mit dem Czilwa schon bei Hailo zusammengearbeitet hatte und den er als „Sparrings-Partner“ schätzt. Multerers Markenzeichen, so sieht es der 26-Jährige selbst, sei es, „Klartext“ zu reden, realistisch zu sein, Probleme zu benennen – „vielleicht sogar manchmal zu pointiert“. Das Stahlwille-Marketing vor Czilwas Zeit fasst er so zusammen: „Es gab Reklame, Produktkataloge und Messeauftritte. Werbung oder Marketing war das nicht.“ Bei seinen Beratungseinsätzen erlebe er es häufiger, dass gerade Geschäftsführer mit technischem Background fragten: wofür denn Marketing? Unsere Produkte sprechen doch für sich. „Das ist natürlich Quatsch.“ Czilwa sei da anders, er habe die „Marken-DNA“ des Unternehmens verstehen wollen.

Feines Werkzeug: Profis wissen die Drehmoment- und Schraubenschlüssel von Stahlwille zu schätzen

Multerer reiste für Stahlwille durchs Land, sprach ausführlich mit Kunden – und kehrte mit drastischen Eindrücken zurück: „angestaubtes Image“, „zu teuer“, „kaum Kommunikation nach außen“, „bei Jüngeren nicht präsent“. Immerhin: Die Qualität der Produkte war landauf, landab gelobt worden. Diese Analyse bildete den Ausgangspunkt der Marketingstrategie, die Czilwa in den folgenden Monaten entwickelte. Das Konzept umfasste mehrere Hundert Seiten, es enthielt mehr als 90 Maßnahmen. Czilwa nannte die Strategie Nordstern, weil sie – ähnlich wie der Fixstern den Seefahrern – seinen Mitarbeitern Orientierung bieten sollte, wohin die Reise gehen wird.

Er ließ Flyer mit den wichtigsten Schritten drucken und regte den Aufbau eines Intranets an. Für die Mitarbeiter in der Produktion wurden neun Info-Terminals angeschafft, sodass nicht nur die Büroangestellten verfolgen konnten, was im Unternehmen passierte – und warum. „Ich wollte Transparenz schaffen und damit zeigen, dass man mir vertrauen kann“, sagt Czilwa.

„Eigentlich war es ganz banal“, sagt Multerer. „Mit Czilwa kam jemand, der sagte: Ich habe einen Plan, und ich laufe schon mal los, kommt ihr mit?“

Im zweiten Jahr kamen schon doppelt so viele Mitarbeiter zur Weihnachtsfeier. Es habe damals einen richtigen Ruck im Betrieb gegeben, erinnert sich Anja Graf, die heute die Unternehmens- und Markenkommunikation leitet.

Nach ihrem Eintritt in die Firma hatte Graf nur wenige Monate Zeit, um die neue Strategie in konkrete Schritte umzusetzen. Am 8. März 2016, dem Auftakttag der jährlichen Eisenwarenmesse, dem größten Branchentreff hierzulande, wollte Czilwa einen „Big Bang“ präsentieren: neue und modernisierte Werkzeuge, eine neue Website – und einen interaktiven Messeauftritt unter dem Motto „Stahlwille neu erleben“. Ein bewusst ehrgeiziges Ziel, sagt Winfried Czilwa: „Wir brauchten den Druck.“

Der Geschäftsführer spricht das Wort Marketing mit hörbarem Bindestrich aus, Marke-ting. Für ihn sei das der Kern der ganzen Aufgabe gewesen: die Marke des Unternehmens zu verstehen. Wer sind wir? Und: Was passt zu uns? Aber auch: Wie können wir uns weiterentwickeln?

Einige Werkzeuge wurden umbenannt, um ihre Funktionen deutlicher zu machen. Der mechanische Drehmomentschlüssel etwa trägt heute „Quick“ im Namen. Ein neuer Name sei aber nur dann sinnvoll, wenn das Produkt auch tatsächlich verbessert worden sei, sagt Czilwa: „Das Wichtigste ist Glaubwürdigkeit.“

Der größte Teil der Investitionen in die Marketingoffensive, insgesamt „etliche Millionen“, so Czilwa, sei deshalb in die Produkte selbst geflossen. Sonst hätte man „warme Luft produziert, und das ist erstens nicht meine Art“, sagt er, und „zweitens hätte das die Kunden nicht nachhaltig zum Kauf unserer Produkte animiert“.

Doch auch das Kommunikationsbudget war siebenstellig. Die modernisierte Marke sollte zwei sehr unterschiedliche Dinge transportieren: einerseits die innovative Kraft des Unternehmens und die Präzision seiner Werkzeuge – und andererseits Wärme, indem man ein „emotionales Image“ aufbaute. Denn so etwas habe damals keiner der Wettbewerber gehabt, sagt Marketing-Fachmann Dominic Multerer.

Plätzchen backen fürs Image

Heute setzt das Unternehmen deswegen in Erklärvideos auf Youtube nicht nur die Funktionen seiner Werkzeuge in Szene, sondern zeigt auch mal Mitarbeiter beim Backen von Plätzchen – in Knarren-Form. Auch der typische Sound der Ratschen ist ein Teil der emotionalen Markenkomponente; dass der Augmented-Reality-Adventskalender den Titel „Süßer die Knarren nie klingen“ trug, war deshalb mehr als augenzwinkernde Wortspielerei. Definitiv zur emotionalen Seite des Unternehmens gehörte auch der Tag im Herbst, an dem die Mitarbeiter ihre Hunde mit ins Büro bringen durften; das gefiel auch der Lokalpresse, die endlich mal wieder berichtete.

Heute arbeiten sechs Mitarbeiter in der Marketingabteilung, nur einer mehr als im Jahr 2014. Seitdem hat die Werkzeugindustrie ihren Umsatz um knapp 15 Prozent steigern können – Stahlwille seinen um 30 Prozent. Mit dem Gewinn ist der Beirat des Unternehmens laut Winfried Czilwa „sehr zufrieden“.

Ausruhen will sich der Chef darauf nicht, die Digitalisierung macht die Vernetzung der Schraubwerkzeuge nicht nur möglich, sondern auch nötig. Egal um welches Thema es geht: Die Mitarbeiter verbinden mit ihrem Chef vor allem die Frage: „Was machen wir hier Neues?“

Czilwa freut sich aber fast noch mehr, wenn der Impuls zur Veränderung von anderen kommt, selbst wenn es dabei nur darum geht, einen Pausenraum zu renovieren – so lautete jüngst eine Forderung der Belegschaft. „Das sind bestens investierte 20 000 Euro, weil es ein gutes Zeichen ist, wenn die Mitarbeiter sich wohlfühlen wollen“, sagt Czilwa. Letztlich sei auch das eine Marketingmaßnahme. Zur Weihnachtsfeier im vergangenen Jahr kamen übrigens mehr als 90 Prozent der Mitarbeiter. ---

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