Produkt & Produktion

„Wir alle spielen Theater.“

Influencer lassen sich dafür bezahlen, eine Meinung zu haben. Für YouTuber gehört die Selbstdarstellung zum Beruf. Der Soziologe Wolfgang Engler sieht in ihnen ein Beispiel für neuen Konformitätsdruck: Sei individuell!





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Herr Engler, Sie gehören nicht zur Zielgruppe jugendlicher Influencer. Weshalb interessiert Sie das Phänomen?

Wolfgang Engler: Mich beschäftigt als Soziologe das Verhältnis zwischen dem scheinbar Authentischen und den sozialen Rollen, in denen wir uns bewegen. Dafür liefern YouTuber spannendes Anschauungsmaterial. Die altmodische Kulturkritik prallt an ihnen ab. YouTuber sprechen in ihren Filmen etwa dauernd davon, wie wichtig es ist, zu teilen. Gemeint ist aber etwas völlig anderes als Teilen im Sinne von gegenseitiger Hilfe oder Solidarität.

Glaubt man den Anthropologen, war es in der Evolution für unsere Vorfahren überlebenswichtig, einander zu helfen und Ressourcen miteinander zu teilen. Nur dadurch konnten wir überleben und über Jahrmillionen zu Menschen werden. Wenn YouTuber das Sharen und Teilen nachdrücklich betonen, geht es ihnen aber vor allem darum, Aufmerksamkeit zu teilen. Die Aufforderung zum Teilen wird bei ihnen zum reinen Marketinginstrument.

Ein Schauspieler spielt eine Rolle. Was spielen You-Tuber? Sich selbst?

Schwer zu sagen. Wahrscheinlich macht genau dieses Flirren zwischen der Rolle und dem Zeigen des „echten“ Selbst einen Teil der Faszinationskraft aus. Das bewegt sich zwischen realer Figur und Kunstfigur. Beide Seiten sind gleich wichtig, sonst wäre es nicht so interessant. Ich erinnere mich an die YouTube-Auftritte von Anfängern, die noch ungeschminkt, unerfahren, spontan, nicht inszeniert in die Kamera plappern. Um ein Geschäftsmodell daraus zu machen, braucht es aber wirkungsvolle Ausdrucksmittel: Mimik und Gestik, Charme, Spannungsaufbau, Metierbeherrschung. Das hat sich ausdifferenziert und professionalisiert. Sie spielen sich selbst, aber sie haben gelernt, wie dieses Spiel funktioniert.

Mir kommt spontan der amerikanische Soziologe Erving Goffman in den Sinn, der in den Fünfzigerjahren die immer mitlaufende Selbstdarstellung im Alltag untersucht hat. Er war überzeugt: „Wir alle spielen Theater.“ Der Auftritt von YouTubern oszilliert irgendwo in der Mitte zwischen den Darstellungsweisen von Alltagsakteuren und den Ausdrucksmitteln von Schauspielern.

Wie authentisch oder künstlich ist das?

Sie wissen selbst, dass sie etwas Künstliches herstellen. Deshalb sagen sie in ihren Filmen auch manchmal, dass sie besser geworden sind und sich noch weiter verbessern wollen. Die Selbstironischen und Souveränen zeigen ältere Filme und machen sich über ihre damalige Unbeholfenheit lustig. Sie haben ein Bewusstsein für ihre Stilmittel und entwickeln sie weiter. Es gibt Sketche, Animationen, Verkleidungen, eingeschnittene Kurzfilme. So entsteht ein künstliches Universum mit eigenen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten. Auch das Tempo der Schnitte und die Redegeschwindigkeit sind bei einigen atemberaubend, etwa bei Julien Bam. Das hat etwas Besinnungsloses, ist aber gekonnt gemacht. Dazwischen werden sehr schnell und abrupt andere Sequenzen reingeschnitten, fast denkt man, man wäre in einem Godard-Film.

Ist das Tempo nur manisch oder auch der Versuch, die Aufmerksamkeit zu halten?

Ich glaube, Letzteres. Die Aufmerksamkeit der Follower ist die Währung, die Influencer mit Werbeeinnahmen monetarisieren. Um die Verbindung zu den Followern aufrechtzuerhalten, muss permanent neuer Content produziert werden, mindestens einmal wöchentlich ein neuer Film, besser öfter. Anders ist das Angebot an die Zuschauer, am Leben des Protagonisten teilzuhaben, nicht aufrechtzuerhalten. Und genau danach scheint es ein echtes Bedürfnis zu geben, nicht nur bei YouTubern, sondern zum Beispiel auch in der Literatur. Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård hatte vermutlich genau deshalb mit der ungemein minutiösen, scheinbar ungefilterten Beschreibung seines Lebens so einen enormen Erfolg. Viele wollen lesend und zusehend am Leben anderer Menschen teilhaben.

Man könnte optimistisch sagen: Wenn man einen einzelnen Menschen sehr genau betrachtet, entsteht eine ganze Welt.

Ja, aber sehen wir wirklich eine Welt, wenn ein YouTuber sein Lieblingsstück vorführt oder ein Influencer von einem Hotel oder einer Kosmetikmarke schwärmt? Andererseits: Zumindest seine Zuschauer lassen sich für die Dauer des Films oder bis sie wegklicken, darauf ein. Sie sind, um in Ihrem Bild zu bleiben, in seiner Welt. Ich bin nicht sicher, ob das Angebot, sich in das Leben eines anderen Menschen verwickeln zu lassen, den man nur medial wahrnimmt, so etwas Neues ist. Neu ist das Geschäftsmodell der Influencer. Wer das professionell macht, macht nichts anderes mehr. Er verwertet sein Leben permanent in Influencer-Auftritten, am besten täglich.

Die Frage ist: Wo bleibt die Rest-Existenz? Gibt es die überhaupt noch? Ein viel beschäftigter Schauspieler, der in einer Fernsehserie spielt, geht auch jeden Tag ins Fernsehstudio wie in die Fabrik. Aber er weiß, dass er nur eine fiktionale Figur darstellt. Diesen Schutz oder diese Unterscheidung hat der YouTuber nicht. Er ist sein eigener Rohstoff der permanenten Bilder-Produktionen. Jeder kann heute zum Sender seiner selbst werden und sich ohne viel Aufwand Prominenz verschaffen.

Klingt ein bisschen wie die Erfüllung der alten Prognose von Andy Warhol: Jeder wird für 15 Minuten ein Star – selbst wenn er nur dafür bekannt wird, bekannt zu sein.

Heute ist das in der Tat möglich. Und anders als früher gilt das heute auch für Menschen, die es sonst nicht auf eine Bühne geschafft hätten. Fürs Fernsehen, für das Theater, für die Musik, für alle professionellen Plattformen gibt es Filter, die regeln, wer auf die Bühne darf. Bei YouTube gibt es den nicht. Neu ist auch das Verhältnis zwischen dem minimalen Aufwand und dem potenziellen Effekt, Millionen Menschen zu erreichen. Das hat eine enorme Verführungskraft.

Diese Selbstdarstellung wird oft zur Plattform, um etwas ganz anderes zu kommunizieren: Produktwerbung. Weshalb funktioniert das so gut bei kommerziellen, von Agenturen bezahlten Influencern?

Alles, was die YouTuber inszenieren, ist das eigene Selbst, ihre Individualität. Das ist eine Radikalisierung des Wunsches, etwas Besonderes, Individuelles sein zu wollen. Aber wenn jeder sich darum bemüht oder sogar den Druck spürt, es zu sein, wird das zu einer neuen Norm. Das ist der neue Konformitätsdruck: Sei auf keinen Fall gewöhnlich! Echte Freiheit wäre eher, eine solche Erwartung zu ignorieren, sich eben nicht als etwas Besonderes zu inszenieren: Ich mache mich nicht zur Marke.

Dann wäre Individualismus ein schöneres Wort für den Wunsch oder Zwang, sich selbst zum Label zu machen?

Ich unterrichte an der Hochschule junge Regisseure und Schauspieler. Die haben alle ein ähnliches Problem, vor allem die Regisseure: Sie müssen, wenn sie Karriere machen wollen, unverwechselbar sein. Sie brauchen Besonderheiten im Auftritt und in der Ästhetik. Können und gutes Handwerk genügen nicht – sie müssen zur Marke werden, zumindest wenn sie nicht in der Masse der Berufsanfänger untergehen wollen. Das weiß jeder Regie-Student im ersten Semester. Natürlich hat der Wunsch, sich als besonderes Individuum abzuheben, auch mit Konkurrenz zu tun, und sei es die Konkurrenz um Aufmerksamkeit.

Andererseits leben wir heute deutlich selbstbestimmter als in feudalen Gesellschaften, in denen die Geburt die soziale Rolle definierte. Oder auch in der Bundesrepublik der Fünfzigerjahre, wo ein starker Konformitätsdruck herrschte. Da hat die Individualisierung die Freiräume des Einzelnen doch enorm erweitert, oder?

Ich war lange ein großer Freund dieser Theorie. Es lässt sich ja nicht bestreiten, dass immer mehr limitierende Traditionen verblassen. Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft und kuratieren unser Leben gewissermaßen. Jeder bemüht sich und ist zugleich gezwungen, zum Erfinder seines sozialen Selbst zu werden. Von der Wohnung bis zum Restaurantbesuch, überall ist die Norm, dass es keine Norm geben darf.

Was stört Sie daran, eine größere Auswahl zu haben, wobei auch immer?

Natürlich ist es schön, dass man zwischen japanischen, italienischen, schwäbischen und koreanischen Restaurants wählen kann. Aber steht so ein Konsumangebot wirklich für Individualisierung? In Wirklichkeit sehen nicht nur Innenstädte, sondern auch Wohnungen, Lebensentwürfe und Ansichten, je nach Schicht und Milieu, sehr ähnlich aus. Wirklich abweichend oder singulär ist wenig. Jede größere Stadt gönnt sich inzwischen einen signifikanten Bau wie die Elbphilharmonie, der Rest sind Funktionsbauten und Investoren-Architektur. In der Zeit der klassischen Moderne war die Architektur von Art déco bis Bauhaus wesentlich heterogener. Bei den individuellen Lebensentwürfen sorgt die Notwendigkeit, spätestens nach dem Studium Geld zu verdienen, für enormen Anpassungsdruck.

Trotzdem halten wir uns alle für Individuen?

Zu Recht. Die Frage ist nur, was das bedeutet. Im Begriff „Individualisierung“ schwingt immer mit, dass sich jemand individualisiert, sich also nicht passiv von den Umständen bestimmen lässt. Er oder sie wendet Kraft auf, um diese Arbeit zu leisten, vielleicht sogar zu gestalten. Das ist kein Automatismus, sondern eine Art selbst gewählter Aufgabe.

Der klassische Bildungsroman, Goethes „Wilhelm Meister“, beschreibt nichts anderes als den Prozess der Individualisierung in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, in der der Protagonist lebt und in der er seinen Platz sucht.

Individualisierung ist das Gegenteil einer narzisstischen Abkapselung, sie ist durchaus mit Gemeinschaft verträglich. Individualisierung braucht Austausch mit anderen, auch Austausch im Konflikt. Der Soziologe Norbert Elias spricht von einer „Gesellschaft der Individuen“. Das ist natürlich besser und humaner als eine Gesellschaft kollektiver Zwänge oder unreflektierter Handlungsnormen. Wenn Individualisierung ein Prozess ist, der auch mit Erwachsenwerden zu tun hat, ist es fraglich, ob You-Tuber ihre Individualität nur ausstellen oder ob sie älter werden dürfen. Haben sie die Chance, eine Entwicklung durchzumachen, nicht nur in ihren Darstellungsmitteln, sondern auch als Menschen und Darsteller ihrer selbst?

Oder geht es um eine Aneinanderreihung folgenloser Augenblicke: jetzt und jetzt und jetzt …?

Betrifft das Flirren zwischen sozialer Rolle und vermeintlich unverstelltem Selbst, von dem Sie sprechen, nur YouTuber?

Sicher nicht, das erleben wir alle permanent im Alltag. YouTuber führen das in ein Extrem und machen daraus ein Medienformat, das macht sie interessant. Im Grunde erleben wir eine Konjunktur des Authentischen: Wir sollen dauernd unverstellt wir selbst sein oder zumindest so tun, auch wenn wir uns in Funktionszusammenhängen bewegen, in denen spontane Gefühlsausbrüche eher schädlich wären.

Auch das Theater hat diese Effekte für sich entdeckt, wenn Schauspieler aus ihrer Rolle treten und scheinbar als Privatpersonen sprechen. Auf der Bühne, vor Publikum, gerahmt von der Theatersituation, ist das aber nur eine andere Rolle. Das ist ein Spiel mit dem Paradox, dass ein Schauspieler gleichzeitig er selbst und die Figur ist, die er darstellt. Einige YouTuber spielen sehr gekonnt mit diesem Effekt.

Diese scheinbare Privatheit kann auch aufdringlich werden, wenn zum Beispiel der YouTuber Jonas mit seiner Freundin in die Kamera grinst und erzählt wie sie verhüten.

Das erinnert an ältere Formate wie die Ratgeber-Literatur. Man teilt Erfahrungen – aber das ist ein Teil des Spiels. Die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich wird sehr fluide. YouTuber sind ein Symptom einer viel breiteren Entwicklung. Ich kenne junge Eltern, die jeden Tag aktuelle Bilder oder Filme ihres Säuglings posten. Jeden Tag! Das ist etwas anstrengend; mal ganz abgesehen davon, dass sich das arme Kind nicht dagegen wehren kann, dadurch zum Objekt der Wahrnehmung zu werden.

So können schon Säuglinge zu YouTube-Stars werden.

Ja, bizarr. Die Eltern glauben, dass ihr Kind etwas ganz Besonderes, Einzigartiges, Individuelles ist. Natürlich ist es das für die Eltern – aber sie gehen davon aus, dass es der ganzen Welt ähnlich gehen muss. Mein Eindruck ist, dass der Anspruch, von der ganzen Welt als eine Besonderheit bewundert zu werden, weitverbreitet ist. Das hat aber viel mit Narzissmus und relativ wenig mit Individualisierung zu tun. Es ist fast selbstverständlich geworden, das eigene Leben auf Facebook, Instagram oder anderen Kanälen öffentlich zu machen.

Auch das kann zum sozialen Zwang werden. Der US-amerikanische Schriftsteller Dave Eggers spitzt das in seinem Roman „The Circle“ zu: Da tragen Politiker, die zeigen wollen, dass sie authentisch sind und nichts zu verbergen haben, permanent eine Kamera am Körper – die gelebte Existenz und das öffentliche Bild, das von ihr produziert wird, sind nicht mehr voneinander zu trennen. Eggers denkt damit den Zwang zur permanenten Selbstveröffentlichung zu Ende. Vielleicht liegt es an meinem Alter, aber ich finde diese Vorstellung schrecklich.

Haben Sie ein Beispiel für diesen Zwang?

Die jungen Studierenden, die ich unterrichte, fordern regelrecht ein, dass sich die Hochschule auf Internet-Kanälen offensiver zeigt, mit fortlaufend aktualisierten Filmen über die tägliche Arbeit. Es geht um Präsenz als Startkapital für alles Weitere. Die meisten Studierenden machen das schon für sich, letztlich als Selbstmarketing, aber die Institution soll es auch stärker tun.

Ihre Studenten sind an einer der renommiertesten Theaterhochschulen Europas – und beneiden dennoch YouTuber um ihre Internet-Präsenz?

Zumindest deren Sichtbarkeit finden sie nachahmenswert. Wenn man sie fragt, warum die Hochschule sich besser nach außen verkaufen sollte, ist das wichtigste Argument: weil es alle anderen auch machen. Gleichzeitig haben sie den großen Wunsch, dass die Schule ein geschützter Ort bleibt, der den Druck der Talentscouts und des Marktes draußen hält. Der junge Mensch, das Subjekt, das sich künstlerisch ausdrücken will, muss die Gelegenheit haben, sich zu finden und zu entwickeln, um überhaupt erst mal zu einem Subjekt, zu einem Selbst zu werden. Das Prinzip der YouTuber ist eher umgekehrt: Indem sie sich veröffentlichen, wollen sie zu einem Medien-Subjekt werden. Nicht der Künstler schafft die Publizität, sondern die Publizität stellt den Künstler her – ohne diese Prominenz ist er ein Niemand. //

Wolfgang Engler, 65, studierte an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie. Seit 1992 unterrichtet er als Professor für Kultursoziologie und Ästhetik an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, von 2005 bis 2017 war er ihr Rektor. Die Hochschule gilt als die wichtigste Theater-Ausbildungsstätte Deutschlands. Zu ihren Absolventen zählen Schauspieler wie Corinna Harfouch, Henry Hübchen, Nina Hoss, Lars Eidinger sowie Regisseure wie Thomas Ostermeier oder Robert Borgmann. Engler hat zahlreiche, viel diskutierte Bücher veröffentlicht, darunter ein Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen („Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft“, Aufbau Verlag). Zuletzt ist erschienen: „Authentizität! Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern“, Verlag Theater der Zeit.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.