Interview mit Niko Kohls

Achtsamkeit: Das bedeutet, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren. Achtsamkeit kann die Arbeit verbessern, Gespräche, den Umgang mit Krankheiten. Das Erkennen des Hier und Jetzt kann aber auch ganz andere Folgen haben.





In die Gegenwart einzutauchen und ganz im Moment aufzugehen galt lange als Beschäftigung von Menschen, die nach Töpfern und Batik die Meditation entdeckten, mit der sie wahlweise zu Gott oder sich selbst finden wollten. Doch vor einigen Jahren verließ die Konzentration aufs Hier und Jetzt die New-Age-Nische, denn es hatte sich herumgesprochen, dass Achtsamkeit, wie die lockere Form der Meditation fortan heißen sollte, für vieles hilfreich ist: von Stressabbau bis Krankheitsprävention, von Leistungssteigerung bis zur Bekämpfung von Schlafstörungen.

Der Psychologe Niko Kohls stieß vor 20 Jahren auf das Thema, als er nach einer Knieoperation mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte. Die meditative Seite von Taekwondo half ihm damals, mit der Belastung umzugehen. Der überraschende Erfolg weckte sein Interesse an dem Gebiet. Er fragte sich: Was passiert eigentlich, wenn jemand eine Stunde in einem Raum sitzt, ohne etwas zu tun? Dass etwas passiert, war für ihn klar. Allerdings widersprach es den zu jener Zeit gängigen Vorstellungen, die alle eine gemeinsame Prämisse hatten: Wenn etwas geschehen soll, muss man aktiv sein, etwas tun, handeln.

Was passiert, wenn nichts passiert? Die Frage beschäftigt Kohls noch heute – inzwischen hauptberuflich. Der 43-Jährige lehrt als Professor für Gesundheitswissenschaften im Bereich integrative Gesundheitsförderung an der Hochschule Coburg. Außerdem leitet er an der Ludwig-Maximilians-Universität in München die Arbeitsgruppe „Psychophysiologie des Bewusstseins: Spiritualität, Achtsamkeit, Lebensqualität und Gesundheit“, die gesundheits- und organisationswissenschaftlich relevante Aspekte von Spiritualität und Achtsamkeit erforscht. Für seine Arbeit erhielt er 2013 den Amalia-Preis für Neues Denken in der Kategorie Wissenschaft der Weimarer Visionen GmbH. Kohls sagt, es sei vor 20 Jahren sehr schwierig gewesen, mit dem Thema Achtsamkeit ernst genommen zu werden – inzwischen sei es jedoch fast Mainstream.

Yoga und Meditation gelten schon lange als Wege, um das eigene Wohlbefinden zu verbessern. Seit einiger Zeit gehört auch das Thema Achtsamkeit dazu. Was genau versteht man eigentlich darunter, Herr Kohls?

Es gibt unterschiedliche Definitionen dazu, was Achtsamkeit bedeutet. Kurz gesagt geht es darum, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, ohne ihn zu bewerten. Es ist der Versuch, die Gegenwart wahrzunehmen, ohne sie durch die Stereotypen und erlernten Repräsentationskategorien unseres biografischen Gedächtnisses zu verfälschen – so als würden wir die Dinge zum ersten Mal sehen. Jon Kabat Zinn, einer der Gründungsväter der Achtsamkeitsforschung, spricht auch von dem Phänomen des Beginners Mind. Das klingt erst einmal einfach, gehört aber zum Schwierigsten, was Menschen erlernen können, denn normalerweise bewertet unsere neuronale Maschinerie alles, was wir wahrnehmen, sofort. Und zwar ohne dass wir es ausdrücklich wollen, es passiert quasi automatisch.

Was habe ich davon, wenn es mir gelingt, meine Umgebung zu sehen, als wäre es das erste Mal?

Zunächst geht es „nur“ darum, den Moment wahrzunehmen. Aber wenn Sie diese Fähigkeit üben und kultivieren, verändert sich dadurch allmählich Ihr Gehirn. Noch vor 25 Jahren glaubte man, der Bauplan des Gehirns sei mit der Geburt angelegt. Doch diese Sicht ist inzwischen überholt, und man spricht von Neuroplastizität: Heute weiß man, dass alles, was wir tun, im Gehirn Spuren hinterlässt. Wenn Sie einen Taxischein machen und Stadtpläne auswendig lernen müssen, wird dies das Areal für räumliche Orientierung stärken, lernen Sie jonglieren, vergrößert sich das Areal, das für die körperliche Koordination zuständig ist. Diese Veränderungen brauchen nicht lange und lassen sich bereits nach wenigen Wochen nachweisen.

Was verändert sich, wenn man Achtsamkeit übt?

Die Areale, die mit Emotionsverarbeitung und Selbstreflexion zu tun haben, wachsen. Wie Muskeln, die Sie im Fitness-Center trainieren.

Aber was nützt mir das? Die Evolution hat unser Gehirn über viele Millionen Jahre geformt – und zwar offenbar durchaus erfolgreich.

Das stimmt. Aber wir wissen aus der sozialpsychologischen Forschung und der Arbeitspsychologie, dass wir im Alltag immer wieder Opfer mentaler Kategorien werden, mit denen wir Menschen, Dinge und Situationen bewerten, ohne dass es uns bewusst ist. Dieses sogenannte Bauchgefühl ermöglicht uns beispielsweise, nach drei Sekunden zu sagen, ob uns ein Mensch sympathisch ist oder nicht. Und das ist erst mal auch nicht schlecht, denn in diesem implizit ablaufenden Prozess wird viel Information verarbeitet. Wenn wir aber Raum für Neues und Veränderungen schaffen wollen, kann Achtsamkeit helfen. Sie verhindert nämlich, dass wir auf Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgreifen und eine neue Situation in einer „alten mentalen Schublade“ ablegen.

Das klingt, als wäre Achtsamkeit eine Wunderwaffe für Kreativität, Innovation und vielleicht sogar für ein besseres Miteinander. Nur: Das wird alle paar Jahren von einer anderen, neuen psychoaktiven Technik behauptet. Wieso sollte es diesmal stimmen?

Wenn Sie sich im Tageswachbewusstsein befinden, sind Sie 95 Prozent der Zeit nicht in der Gegenwart, sondern denken über die Vergangenheit nach oder stellen sich die Zukunft vor. Dieses Phänomen, das man auch „Mind Wandering“ nennt, kennen Sie sicherlich aus Meetings, in denen Sie Ihre Gedanken schweifen lassen, statt sich an der Diskussion zu beteiligen. Das ist ganz normal. Es gibt auch viele Menschen, die den ganzen Tag immer wieder Momente Revue passieren lassen, die nicht gut gelaufen sind. Oder denken Sie an einen Verkäufer, der nur im Kopf hat, dass der Kunde den Vertrag unterschreibt. Das ist unser Alltag. Wenn ich aber in der Gegenwart bin, ist all dies verschwunden: Die Vergangenheit ist weit weg, ich kann die aktuelle Situation beeinflussen und besser auf die Bedürfnisse meines Gegenübers eingehen.

Das klingt verlockend – wie fange ich damit an?

Sie können jederzeit anfangen, überall. Sie müssen sich nur hinsetzen und sich dem Moment öffnen. Sie brauchen nichts zu tun, als bloß darauf zu achten, was gerade da ist. Sie werden allerdings feststellen, dass das nicht so einfach ist: Innerhalb von Sekunden werden ablenkende Gedanken einsetzen, die Sie nicht abstellen können. Viele Menschen werden wütend, wenn sie das merken, oder sie erschrecken sich, weil sie feststellen, dass sie keinen Einfluss darauf haben. Doch mit der Zeit wird es einfacher. Und relativ bald werden Sie sich gestärkt fühlen, und zwar schon nach relativ wenigen Minuten, in denen Sie achtsam sind.

Es hilft übrigens, zu festen Zeiten zu üben und zu Ihrer individuellen, chronobiologisch passendsten Zeit: Vielen Menschen, die früh fit sind, sogenannte Lerchen, fällt es morgens leichter, achtsam zu sein, den Eulen, die erst spät wach werden, eher abends. Außerdem ist es einfacher, Achtsamkeit zusammen mit anderen zu lernen. Deshalb finden viele professionelle Achtsamkeits-Seminare in der Gruppe statt.

Aber wenn ich mich ganz auf den Moment konzentriere, heißt das doch auch, dass ich eigentlich nichts anderes tun kann. Achtsam zu arbeiten funktioniert demnach nicht, oder?

Achtsamkeit ist keine klassische Meditation. Sie achten nicht auf eine spezifische Wahrnehmung oder wiederholen ein Mantra. Allerdings hilft dabei das Fokussieren auf den Atem. Im Prinzip können Sie jede beliebige Tätigkeit achtsam ausüben, indem Sie sich auf sie konzentrieren. Sie können achtsam essen oder telefonieren, E-Mails schreiben, Meetings abhalten oder Gespräche führen.

Wir haben gerade für eine Studie die Folgen von Achtsamkeit in 25 Unternehmen evaluiert. Überall erklärten die Menschen, dass sie von Achtsamkeit profitierten. Warum? Nehmen wir das Beispiel Meeting. Vor jeder Sitzung haben alle Beteiligten versucht, ein, zwei Minuten achtsam zu sein – das ist nicht viel Zeit. Doch danach wurde die Atmosphäre allgemein als deutlich entspannter empfunden, außerdem waren die Treffen im Schnitt deutlich kürzer. Unter anderem weil nicht alle zu allem etwas gesagt haben, sondern sich vorher fragten: Habe ich tatsächlich etwas Substanzielles zum Thema beizutragen? Das hat Zeit gespart. Mit Achtsamkeit kann man alles genauer, aufmerksamer und präziser tun. Man kann auch achtsam entscheiden, sodass Entscheidungen weniger von verborgenen Ideen beeinflusst sind.

Daran müsste doch jedes Unternehmen interessiert sein.

Im Prinzip schon. Aber Achtsamkeit ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn Sie sie nur funktional zur Prozessoptimierung einsetzen wollen, damit die Leute besser arbeiten, scheitern Sie früher oder später. Meine alte Arbeitsgruppe hat vor einigen Jahren Achtsamkeit in einem Callcenter untersucht. Das war sicherlich nicht die gesündeste Arbeitsumgebung: Die Angestellten standen unter permanentem Stress, vielen ging es nicht gut. Nach acht Wochen waren die Leute tatsächlich weniger angestrengt, die Tendenz ging sogar zu etwas besseren Resultaten. Allerdings haben nach dem Training auch vier Angestellte gekündigt. Die Firma war darüber natürlich nicht erfreut, eine höhere Fluktuation konnte sie nicht gebrauchen.

Das ist auch verständlich. Wahrscheinlich hatte sie sich besser motivierte Mitarbeiter erhofft. Mit Kündigungen nach dem Achtsamkeitstraining hat bestimmt niemand gerechnet.

Achtsamkeit bedeutet Empowerment: Sie gibt Menschen die Möglichkeit, ihr Potenzial zu entfalten, Kraft aus sich selbst zu schöpfen – und das führt eben dazu, dass sich ihre Sicht auf die Dinge ändert. Dabei wird ihnen oft auch klar, dass bestimmte Umfelder nicht zu ihnen passen. Wenn Sie als Arbeitgeber dafür sorgen, dass Ihre Leute achtsamer arbeiten, aber nicht bereit sind, ihnen auch mehr Freiheit und Vertrauen zu schenken, dann werden Sie sehr wahrscheinlich nicht nur positive Resultate erzielen.

Wenn ich als Arbeitgeber etwas in meinem Unternehmen verändern will, ist es demnach also hilfreich, mich im Bereich Achtsamkeit stärker zu engagieren?

Auf jeden Fall. Es ist vor allem dann sinnvoll, wenn sich herausgestellt hat, dass die Probleme einer Firma stark mit der Unternehmenskultur und dem Arbeitsklima zusammenhängen. In diesen Bereichen etwas zu bewegen ist enorm schwierig. Häufig kommen Führungskräfte dann auf die Idee, neue Leitbilder oder Visionen entwickeln zu lassen, die dem Unternehmen verordnet werden. Etwa: Wir sind eine Organisation für Menschen von Menschen! Das klingt großartig. Aber wenn man sechs Monate später schaut, was von dem schönen Leitbild tatsächlich im Alltag der Mitarbeiter angekommen ist, stellt man oft fest: fast nichts.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Sache anders aussieht, wenn man bei den Mitarbeitern direkt ansetzt. In einigen Unternehmen haben wir etwa mit einzelnen Abteilungen Achtsamkeit geübt. Danach fanden nicht nur die dortigen Mitarbeiter, dass die Arbeit besser lief – auch den anderen Abteilungen fiel auf, dass sich die Zusammenarbeit und die Atmosphäre im Team verbessert hatte.

Dass sich die Kommunikation verbessert, wenn Menschen sich auf ihr Gegenüber konzentrieren, ist plausibel. Aber weshalb sollte Achtsamkeit bei Schmerzen oder Erkrankungen hilfreich sein? Wenn man sich also vollkommen auf seine Beeinträchtigung konzentriert. Wie haben Sie ausgerechnet mit dieser Methode gelernt, mit den Schmerzen nach Ihrer Knieoperation umzugehen?

Wir machen gerade eine Studie zu Achtsamkeit bei Menschen, die an einer juckenden Schuppenflechte leiden. Viele berichteten tatsächlich zunächst von einem Absinken der Lebensqualität. Doch mit der Zeit stellten sie fest, dass ihre Schmerzwahrnehmung variiert: dass sie von der Tageszeit abhängig ist, weil sie chronobiologischen Rhythmen unterliegen, und auch von der persönlichen Tagesform. Und ziemlich bald bemerkten die Patienten, dass sie lernen konnten, mit ihren Schmerzen anders umzugehen. Zum Beispiel, indem sie wichtige Dinge zu Tageszeiten erledigen, in denen sie nicht so stark belastet sind.

Das könnte vermutlich auch älteren Menschen dabei helfen, zu lernen, ihre Ressourcen besser einzuteilen.

Achtsamkeitsbasierte Interventionen werden von älteren Mitarbeitern tatsächlich sehr gut angenommen, weil sie häufig im Laufe ihres Lebens bemerkt haben, dass ihre Kräfte nicht mehr unbegrenzt sind. Das ist bei jüngeren Mitarbeitern manchmal anders. Wir waren kürzlich bei einer IT-Firma. Die Belegschaft war jung und an Achtsamkeit wenig interessiert. Die Leute waren zwar auch manchmal gestresst und haben viel gearbeitet, aber sie meinten, sie würden das gut wegstecken. Ganz anders ist das bei jemandem, der älter ist, Kinder hat und vielleicht sogar kranke Eltern: Der ist dankbar, wenn man ihm eine Technik an die Hand gibt, mit der er den Alltag besser bewältigen kann, sowohl bei der Arbeit als auch privat.

Achtsamkeit scheint aber eher eine Technik für Menschen zu sein, die in Büros gehobenen Tätigkeiten nachgehen. Wer dagegen körperlich schwer arbeitet, ist vielleicht besser bedient, wenn er weiterhin einfach die Zähne zusammenbeißt.

Nein, gar nicht. Wir haben gerade eine Studie mit Industriemechanikern gemacht und interessante Ergebnisse bekommen. Die haben nach kurzer Zeit besser auf sich geachtet, hatten reduzierte Stresshormonwerte, was für weniger Stress spricht, und sogar bessere Cholesterinwerte, wahrscheinlich weil sie sich bewusster ernährt haben. Auch hier sprachen übrigens die älteren Mitarbeiter auf Achtsamkeit sehr gut an. Das ist besonders interessant, weil es im Betrieb sonst oft sehr schwierig sein kann, ältere Menschen dazu zu aktivieren, etwas zu ändern. Das ist nicht zuletzt eine Konsequenz unser negativen Altersbilder – viele Führungskräfte unterstellen 60-Jährigen gerontologische Defizite, die mitunter nicht einmal bei Hochbetagten vorliegen. Und wenn ein Unternehmen dann ein gut gemeintes EDV-Seminar für Ältere anbietet, vertieft es dieses negative Altersbild nur, weil es eigentlich bedeutet: 50-Jährige sind nicht mehr in der Lage, gemeinsam mit 35-Jährigen zu lernen.

Was die Verbundenheit mit dem Betrieb nicht gerade verbessert.

Das haben die Unternehmen inzwischen auch erkannt. Sie wissen, dass es klüger ist, den Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, ihr Potenzial zu entwickeln. Und das gilt eben besonders für Ältere, weil sich Menschen mit den Jahren nicht nur immer mehr individualisieren, also ganz spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln, sondern auch häufiger eigenbestimmter werden. Wenn Sie versuchen, die Leute von außen zu steuern, wird das umso weniger gelingen, je älter die Leute werden.

Und was ist, wenn Mitarbeiter einfach nicht mitmachen wollen?

Da kann man nichts machen. Achtsamkeit kann man nicht verordnen. Achtsamkeit ist auch nicht für jeden geeignet. Wir sagen immer, wenn ein Unternehmen anfragt: Schaut zuerst mal, wo eure Probleme liegen. Wenn die Arbeitsbedingungen ungesund sind, tut ihr euch keinen Gefallen, wenn ihr nur die Achtsamkeit trainieren lasst. Das kann nur der erste Schritt sein. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.