Seinszustand: Kaufen

Einkaufen soll zum Erlebnis werden – das ist seit
 gut 15 Jahren Programm. Und selten Realität. Doch es gibt sie, die Shopping-Welten, die heute als zukunftsweisend gelten.




Eine Version des Shoppings der Zukunft hat die Form eines überdimensionierten, mit riesigen Nieten beschlagenen Kolosses. Entworfen wurde er von Designern, Künstlern und Star-Architekten wie die der Londoner Agentur Future Systems, und nun liegt er da, seit September 2003, im Zentrum von Birmingham, mit Läden von 147 Unternehmen und 3100 Parkplätzen, bereit, die Kunden von morgen zu versorgen.

Den Verspannten und Gestressten hilft die Health and Wellbeing Area mit Massagen, Maniküren und traditioneller Medizin. Die Technology Hall, in der in grünem Licht und vor schwarzen Wänden Plasmabildschirme flackern, präsentiert neueste technische Entwicklungen. Außerdem werden den Besuchern Kunstausstellungen und während so genannter Themenmonate kulturelle Veranstaltungen angeboten.

Gerade heißt das Motto „Brasilien“: Dort, wo die individuell designten Verkaufsflächen von Marken wie Hugo Boss oder GAP auf vier Etagen ineinander übergehen, wo teilweise Rohre offen liegen, Deckenelemente bewusst unverputzt blieben und verschiedene Raumebenen kunstvoll über Treppen miteinander verbunden sind, ist der Schwerpunkt der tropischen Erlebniswelt. Auf der untersten Etage gibt es eine Bar, an der die Kunden brasilianisches Bier und Kokosmilch trinken – vom Anzug tragenden Angestellten über die Hausfrau bis hin zum designverliebten Kunststudenten. Und zur Musik von Samba-Bands tanzen fremde Menschen miteinander – im Shoppingcenter! Buchhandlungen haben Bücher über Brasilien in den Schaufenstern, es gibt brasilianische Mode und Restaurants aus Bambus und Stroh. Sogar das Parkhaus ist integriert: In einem abgesperrten Teilbereich stehen Kinosessel für mehr als 60 Besucher, auf der Leinwand laufen brasilianische Filme. Es gibt Kunden, die allein in diesem Monat siebenmal vor allem wegen dieses Events da waren, selbst Brasilienkenner bescheinigen den Veranstaltungen ein hohes Niveau.

Das alles passiert nebenbei. Denn eigentlich geht es hier, im Selfridges Bullring Center, dem wohl modernsten Shoppingcenter Europas, ums Einkaufen, ums Konsumieren, darum, Dinge für Geld zu erwerben. Nur hat man in Birmingham begriffen, was die Konsumwelt der Zukunft prägen wird: Die frei verfügbaren Einkommen sinken, der Konsum um des Konsums willen ist passé, der Kampf um den Kunden muss mit Fantasie und Ideen geführt werden.

„Shopping ist gewissermaßen ein eigener Seinszustand, für den Produkte, Dienstleistungen und Verkäufer nur noch ein Medium darstellen, um ein bestimmtes inneres Erleben in extra dafür geschaffenen Räumen zu ermöglichen“, erklären die Autoren der von Siemens initiierten Studie Horizons2020. Die Manager des Birminghamer Selfridges Bullring Center sind von dieser Erkenntnis nicht weit entfernt: „Eine Umgebung, in der man einkaufen, essen oder einfach nur sein kann“, wollen sie bieten, „ein definitives Shopping-Ziel, das beweist, dass Einkaufen Unterhaltung, Inspiration und Spaß bedeuten kann.“ Der Produktkauf ist nur eine von vielen möglichen Beschäftigungen und wird in der Erinnerung mit anderen Ereignissen verknüpft – in der Zukunft soll es mehr als nur einen Grund geben, ins Kaufhaus zu fahren.

Dabei hat man bei Selfridges aktuell besonders den Mann im Visier. Bekleidete Roboter werden demnächst bei Edelmarken wie Dolce & Gabbana, Yves Saint Laurent oder Dior Homme als Mannequins tanzen. Und damit fortan die Kleidung die Architektur des Raumes bilden kann, soll die Aufteilung und Gestaltung der einzelnen Shop-Areale per Knopfdruck veränderbar sein: Unter der Decke wird ein Schienensystem konstruiert, an dem entlang die Ständer mit den T-Shirts, Blazer oder Hosen fahren. Überhaupt soll die gesamte Verkaufslandschaft mehr wie ein soziales Setting wirken – etwa dank grüner Fußböden und blauer Decken wie ein Fußballstadion.


„Das Selfridges-Superbrand-Konzept will die Art und Weise, wie Männer über Shopping denken, neu definieren, indem es eine Pflichthandlung in etwas Aufregendes verwandelt“, beschreibt Marketing-Direktor James Bidwell die Idee. In Birmingham kann man, gut ein Jahr nach der Eröffnung, erste Erfolge statistisch belegen: 89 Prozent der Menschen, die 2003 das Selfridges Bullring Center besuchten, gaben in einer Umfrage an, nur wegen des Shoppingcenters in das Zentrum Birminghams gefahren zu sein. Im Schnitt kamen jede Woche 820 000. Ganz klar: Das Einkaufszentrum lockt die Menschen.

Doch ist Birmingham, wohin gerade die Massen strömen, die einzige Zukunft des Konsums?

Ein Supermarkt für Senioren, mit rutschfestem Fußboden, Wasserspender und Leihbrillen

Im 10. Wiener Bezirk wirkt an diesem Vormittag der Adeg Aktiv Markt 50+, gelegen an der Laaer Berg Straße, Ecke Urselbrunnengasse und angesiedelt im Erdgeschoss eines mehrstöckigen sandsteinfarbenen Gebäudekomplexes, ganz normal, zumindest aus 30 Metern Entfernung: Rechts neben dem Eingang befindet sich ein kleines Tabak- und Lotto-Geschäft, ein Copy-Shop liegt nur ein paar Meter entfernt, „Das Lokal für alle Lebenslagen – Zum Fritzl“ ist in der Nähe. Zwar gibt es Behindertenparkplätze gleich vor der Tür, neben den vier Stufen zum Eingang gibt es auch eine kleine Rampe, und am Ausgang wirbt eine Diplom-Ergotherapeutin damit, Patienten mit neurologischen und orthopädischen Erkrankungen zu behandeln – aber das hat man auch schon in anderen Supermärkten gesehen.

Doch seit dem Umbau des ehemals klassischen Adeg Supermarktes zu einem altengerechten Adeg Aktiv Markt 50+ haben unter anderem Journalisten aus den USA, Japan, Frankreich, Australien und China über die Filiale berichtet. Es liefen 15-minütige Reportagen zur besten Sendezeit in den wichtigsten Fernsehsendern Österreichs, Manager multinationaler Konzerne wie Coca-Cola oder Heineken kamen in die Laaer Berg Straße, um über Kooperationen und spezielle Produktentwicklungen zu reden. Auch Politiker aus dem österreichischen Wirtschaftsministerium haben das Geschäft besichtigt.

Den Unterschied macht die konsequente Orientierung an einer bestimmten Zielgruppe: Menschen, die älter als 50 sind. Für sie gibt es breitere Gängen und niedrigere Regale mit daran angeketteten Lupen. Ein Wasserspender und ein Blutdruckmesser mit integrierter Waage stehen bereit, die Preisschilder sind doppelt so groß beschrieben, die Beleuchtung ist heller, die Parkplätze sind breiter, die Böden rutschfest, und es ist möglich, Brillen verschiedener Stärken beim Personal zu leihen. Außerdem verstehen die Mitarbeiter die Bedürfnisse ihrer Kunden, so wie die Filialleiterin Brigitte Ibl – sie ist 55.

Die erste Filiale dieser Art wurde im April 2003 in der Nähe von Salzburg eröffnet, zunächst, wie der Adeg-Regionalmanager Horst Hanzal gesteht, als „eine Art Gag“. Man hatte sich Gedanken gemacht, wie Adeg gegen große Ketten wie Aldi oder Lidl bestehen könnte, und eine Agentur mit einer Umfrage unter Adeg-Kunden beauftragt. Einige, vor allem ältere, gaben an, die Läden seien zu verbaut, andere fanden die Preisangaben zu klein. Als die Adeg-Manager die Ergebnisse diskutierten, schlug einer vor, einen Supermarkt für Senioren zu eröffnen. Zunächst war das ein Lacher, dann wurde daraus ein ernsthafter Gedanke. Inzwischen ist es ein Konzept.

Zwei Jahre dauerte es bis zur Realisation, ein Zeit des Zweifelns: Wollen ältere Kunden durch eine gezielte Ansprache an ihr Alter erinnert werden? Sind Mitarbeiter über 50 viel häufiger krank als die Jungen? Es waren auch Jahre der Angst, mit einer neuen Idee zu scheitern. Die Konkurrenz begleitete das Experiment mit lautem Spott und Hohn. Mittlerweile ist sie verstummt. Die Kunden standen Schlange bei der Eröffnung der Filialen. Die Umsätze in Salzburg haben sich nach einer euphorischen Phase auf dem altem Niveau stabilisiert, in Wien stiegen sie um 15 Prozent. Vor allem das öffentliche Interesse am 50+-Konzept war gewaltig; der Image-Gewinn für Adeg enorm. Hat Adeg eine Einkaufswelt von morgen erfunden? Findet man in Wien mehr Zukunft als in Birmingham? Sind an Regalen baumelnde Lupen gar nicht innovativ? Ist das Adeg-Modell nur ein spezifisches, kurzweiliges Phänomen?

Sicher ist, dass die Zukunft des Einkaufens nicht nur eine Variante hat. „Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich im Konsumverhalten wider“, sagt Matthias Horx, Chef des Kelkheimer Zukunftsinstituts. Es werde viele Konsumverhalten der Zukunft geben, schon jetzt zu beobachtende Entwicklungen würden sich intensivieren und vor allem in den Extrembereichen etablieren. „Die Mittelbereiche der Art und Weise, wie heute konsumiert wird, fallen weg.“

Konkreter: Die „Geiz ist geil“-Mentalität wird weiterhin Kaufentscheidungen beflügeln – bei einem Teil der Konsumenten aus ökonomischen Zwängen, bei einem anderen, so Horx, wegen der Komplexitätsreduktion: Weil immer mehr Faktoren eine mögliche Kaufentscheidung beeinflussen, suchen die Konsumenten nach einer einfachen Lösung – und finden sie beim Preis. Der Erlebnis- und Genuss-Effekt, den die Menschen bei diesem Konsumieren erfahren, entspringe zuerst dem Hochgefühl, so günstig wie nur irgendwie möglich zu shoppen. Wenn es geht, werden sie das im Internet tun, aber auch weiterhin in herkömmlichen Ladengeschäften.

Shoppen kann eine kleine Revolte sein oder ein Grund zum Angeben. Auch davon hängt der Produktwert ab

Parallel dazu wird es aber auch immer Waren und Angebote geben, für die der Käufer bereit ist, deutlich mehr zu zahlen: Der Hamburger Wissenschaftler Ulrich Reinhardt vom BAT Freizeit-Forschungsinstitut nennt dies das „Armuts- und Wohlstandsparadox“: mit dem Billigflieger nach Rom fliegen, aber dort bei Prada shoppen. Oder bei Aldi Zucker und Mehl kaufen, doch am Wochenende in einem teuren Restaurant essen. Auch für Veranstaltungen und Aktivitäten, die das Kaufen begleiten, für authentische Waren oder möglichst bequemes Einkaufen wird der Konsument mehr Geld ausgeben.

So wird es in Zukunft beim Einkauf jenseits der Schnäppchenjagd vor allem um die Frage gehen, was für bestimmte Menschen in besonderen Situationen einen besonderen Wert besitzt oder ein besonderes Erlebnis bedeutet. Marion Hülsmann, ehemalige Unternehmensberaterin und heute Filialleiterin in der Düsseldorfer Zentrale von Manufactum, sieht ihre Kunden als stumme Revolutionäre: „Sie wollen stimmige Produkte als Gegentrend zur Billig- und Wegwerfgesellschaft und Dinge, die sehr lange halten. Sachen, auf die es ankommt, kaufen die Menschen bei uns.“ Konsum als Sehnsuchts-Handlung, nennt das Horizons2020.

Doch dass Menschen im Authentischen einen Mehrwert sehen, für den sie bereit sind, mehr Geld auszugeben, trifft nur auf fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung zu, schätzt BAT-Forscher Reinhardt. Für den Rest definiert wohl auch in Zukunft eine gute Marke Exklusivität. Darüber hinaus behalte der Faktor „Talk about“ eine wichtige Bedeutung: Wenn man Kollegen, Freunde oder Verwandte mit einem Erlebnis beeindrucken könne, sei dies vor allem in den Augen vieler Deutscher sehr viel wert – egal, ob man die neue Handtasche an einem exklusiven Einkaufsort wie Rom gekauft habe oder in einem Shoppingcenter, das architektonisch oder vom Konzept her außergewöhnlich ist. Hoch im Kurs steht auch, wenn man als Erster im Bekanntenkreis moderne Einkaufshilfen benutzt hat, zum Beispiel einen intelligenten Einkaufswagen.

Die Frage ist also auch: Welcher Mehrwert hält wie lange vor? Und damit natürlich: Welcher Mehrwert ist aus Sicht des Unternehmers eine gute Investition?

Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen zu seinen Kunden zu machen: Man kann das Einkaufen besonders bequem machen; man kann es, etwa durch die Verbindung mit besonderer Architektur und moderner Technik zu einem Erlebnis werden lassen; oder man kann es als eine Begegnung mit hochwertigen Produkten und Markenpersönlichkeiten inszenieren. Eines muss man aber in jedem Fall: seinen Kunden kennen. Auf seine Bedürfnisse eingehen. Ihm helfen, eine Entscheidung zu treffen. Und ihn ernst nehmen. Das wird sich nicht ändern.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.