Martinsried will nicht mehr wachsen?

Kennen Sie Planegg? Planegg ist eine kleine Gemeinde südwestlich von München. Nichts Aufregendes. Äcker, Wiesen, Wald.
Ein paar Baumärkte, Elektroläden und Kleinfabriken. Etwas mehr als 10.000 Menschen leben dort, eine typische Siedlung am Rande der Großstadt. Aber Planegg, oder besser gesagt ein Teil von Planegg, ist auch Heimat der Biotechnologie. Die deutsche Vorzeigeregion. Sinnbild für Zukunft. Für erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Für Wachstum und Arbeitsplätze. Ein Cluster wie aus dem Bilderbuch. Mehr als 50 Unternehmen, dazu diverse Netzwerkpartner haben sich in den vergangenen Jahren dort niedergelassen. Martinsried, so heißt der kleine Ortsteil der bayerischen Gemeinde Planegg, beherbergt alles, was in der Branche Rang und Namen hat. Das ist das Problem.




Horst Domdey ist schwer enttäuscht, aber zu souverän für Wut. Das hört man durchs Telefon. Er sagt: „Man muss sich von der Idee lösen, den Leuten etwas Gutes zu tun. Die wollen lieber ihre Ruhe.“ Horst Domdey ist Unternehmer, Wissenschaftler und Wirtschaftsförderer. In allen drei Funktionen hat er viel bewegt, sehr viel sogar. Jetzt ist er sauer. „Mein Gott, mir klingen die Aussagen aus dem Wahlkampf noch im Ohr“, sagt er gefasst in den Hörer und zitiert den Ortsverband der SPD: „Wir brauchen keine weiteren Arbeitsplätze in Martinsried.“ Kurze Pause, zum Einwirken ins Großhirn. „Schon erstaunlich“, sagt Domdey, „dass man das heute nicht nur ungestraft sagen kann, sondern dafür auch noch belohnt wird.“

Was ist passiert? Schlicht gesagt: Martinsried hat das Wirtschaftswachstum abgewählt. Martinsried ist ein kleiner Ortsteil einer kleinen Gemeinde namens Planegg, südwestlich von München. Juwel des bayerischen Masterplans für Strukturwandel. Deutschlands erfolgreichstes Biotechnologie-Cluster. Mehr als 50 Biotech-Firmen in allen Wachstumsstadien, umzingelt von Instituten, Laborflächen, kompetenten Beratern und stoppeligen Äckern. Bio Valley am Weißwurstäquator, weißblaues Wirtschaftswunder und so weiter. Man kennt das. Was können wir von Bayern lernen? Diese Frage sollte eigentlich in dieser Geschichte geklärt werden. Aber dann kam alles ganz anders.

Nicht nur Martinsried, sondern der ganze Großraum München boomt. Doch langsam werden die unangenehmen Seiten der Wirtschaftsblähungen spürbar: Der Flughafen saugt den Arbeitsmarkt der Nordost-Region leer, Oberhaching platzt aus allen Nähten und in Martinsried, Wohlstand hin oder her, können sie ihre Mieten nicht mehr zahlen, haben sie die Nase voll vom Verkehr und dieser Biotechnologie, die neulich fast den Gemeindewald überwuchert hätte. Das alles haben sie abgewählt, bei den Kommunalwahlen im März 2002. Die Boom-Gemeinden wollen nicht mehr wachsen.

Der Dämpfer hat seine Folgen. Die junge Industrie zieht weg, sie kann nicht warten. „Micromed: 100 Angestellte, die gehen nach München“, sagt Domdey, jetzt bewegter. Die erfolgreichen Start-ups müssen expandieren. Zeit ist Geld, sie brauchen Flächen. Und sie sind kurz davor, Gewinne zu erwirtschaften, Gewerbesteuer! Geld für Martinsried, das nun nach München fließe: „Xerion, Axxima, Xantos: Alle gehen nach München.“ Teuer erkaufte Ruhe? Verschenkter Vorsprung? Aus Domdeys Sicht eine Ohrfeige. Aus Sicht der Bürger eine Atempause. Domdey sagt: „Wir haben es wohl alle versäumt, den Dialog mit den Leuten in der richtigen Weise zu führen.“

Die Heimat

Zeitsprung, vier Wochen zurück. Fahren wir doch mal raus aus München, rein nach Planegg, in eine kleine Gemeinde, die, man kann es sich denken, an sich noch keine Reise wert ist. Etwas mehr als 10.000 Menschen wohnen hier, eine typische Wucherung am Rande der Großstadt. Die heiße Phase des Wahlkampfes fällt in diesem Jahr in den Fasching. Die Einfamilienhäuser sind klobig, an den Laternen lehnen Wahlplakate. In den Wohngebieten versperren Kinder die Straße. Ihre Verkleidungen sind nichts Besonderes, aber sie erfüllen den Zweck, sie rechtfertigen den Faschingszoll, den sie bei jedem Autofahrer erheben. Die Industriegebiete vor München waren dominiert vom üblichen Mix aus Baumärkten, Elektroshops und Kleinfabriken. Hier ändern sich die Namen. Sanacorp steht an einem Gebäude, an einem anderen Medigene. Dazwischen ein Küchenfachmarkt, gefolgt von Morphosys. Hier Marc‘O’Polo-Outlet, da Teppich Frick. Weiter durch Planegg. Abbiegen, und man nähert sich dem Ganzen noch mal, jetzt von hinten. Auch von dieser Seite ist der Eindruck nicht harmonischer. Die Straßen heißen Einstein-, Röntgen- oder Kopernikusweg. Rechts eine Einkaufspassage aus den Sechzigern, trist wie ein französisches Skiparadies bei Tag. Buschgerippe, alter Beton, hier shoppt nur, wer nirgendwo anders hinkommt. Gegenüber moderne Glasbauten, ein paar Kräne und ein schwarzes Parkhaus mit Fitnessclub, über die Fassade läuft ein Regenbogen. Das ist also Martinsried. Clusterbildung, so, so. Den Rohstoff Wissen sieht man nicht. Alles andere schon.

500 Meter Luftlinie weiter sitzt Ulrike Höfer im Café des Innovations- und Gründerzentrums Biotechnologie (IZB) und trinkt ein Mineralwasser. Das IZB befindet sich in einem dieser Modulgebäude zum Durchgucken. Das Café heißt Freshmaker. Die Sandwiches sind nach Schriftstellern benannt (Charles Bukowski bis John Updike), die Salate nach Inseln (Ibiza bis Fidschi). Leise Musik aus den Boxen, Blues Brothers, Enya und 99 Luftballons von Nena. „That was my first german pop song“, erzählt ein Amerikaner seinen deutschen Lunchkollegen am Nachbartisch.

Die Bürgermeisterin

„Letztes Jahr war ich auch in den USA“, sagt Ulrike Höfer, die Bürgermeisterin von Planegg, also auch von Martinsried. Zehn Tage fuhr sie durch Boston und North Carolina, zusammen mit ihrem Amtskollegen Otto Götz, dem Bürgermeister von Neuried, einer Gemeinde weiter. Götz ist in der SPD, sie in der CSU. Die beiden besuchten zwei der weltweit stärksten Biotech-Cluster, um zu lernen, was sie zu Hause noch besser machen könnten. Als sie wiederkam, gab es Ärger im Gemeinderat. „Die dachten, ich hätte mir da einen hübschen Urlaub gemacht“, sagt Ulrike Höfer. Ihren Flug hatte sie ohnehin schon selbst bezahlt, 1600 Euro. Für jede Reise muss sie nun einen Antrag stellen.

Ulrike Höfer regiert einen Gemeinderat, der aus wechselnden Koalitionen besteht. Dort brechen ihr seit einem Jahr die Mehrheiten weg. Sie hatte ein Planungskonzept für die gesamte Region vorgelegt – und damit eine Rebellion entfacht: gegen die Biotechnologie-Branche, den Verkehr, die Pendler und alles andere, das ungefragt aus München kommt. Vier Wochen später, dann wird nicht nur sie, sondern auch Otto Götz, ihr wirtschaftsfreundlicher Kollege von der SPD, abgewählt sein. „Vorauseilenden Gehorsam“ werfen sie ihr im Gemeinderat vor und „Staatshörigkeit“. „Aber da ist sicher auch viel Neid dabei“, sagt Ulrike Höfer. Sie ist zugezogen, wohnt seit 1976 in Planegg.

Ulrike Höfer spricht die Worte kurz aus, sagt „ruck, zuck“, schnell und mit viel Liebe im „u“ wie in Ost-Westfalen oder im Harz, da kommt sie her. Im Gespräch ist sie pragmatisch und höflich. Warm. Macht sich gerade, auch im Sitzen. Arbeitet aktiv in der Frauen Union der CSU, fährt im Urlaub nach Island, organisiert dort Bildungsreisen für Freunde. Ihren „vorauseilenden Gehorsam“ könnte man sehr wohl als Engagement verstehen. Aber so etwas will hier niemand.

Zum Beispiel die Bio-Regio Würmtal. Die Gegend ist nach dem Fluss benannt, der sie durchzieht, die Würm. Das Konzept war der Versuch, den Wachstumsbedarf der Biotech-Branche auf die Nachbargemeinden zu verteilen und gleichzeitig die Struktur der Region zu planen. „Der international anerkannte Biotechnologie-Standort Martinsried stößt räumlich an seine Grenzen“, stand da schwarz auf weiß, gezeichnet von den Gemeinden Planegg, Neuried, Gräfelfing, Krailling, Gauting, gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technologie, unterschrieben von der Initiatorin, Ulrike Höfer. Endlich ein Masterplan für Strukturmanagement, die Nachbargemeinden richten ihre Flächennutzung gemeinsam aus. Für Verkehr: Martinsried bekommt eine U-Bahn-Haltestelle, eine Staatsstraße stößt bis zur Autobahn. Und für die Landschaft: neue Grünzüge, Mischwald-Aufforstungen, Parks. Mit 23 zu zwei Stimmen wurde Höfers Initiative angenommen. Doch dann kroch langsam, unaufhaltsam der Wurm ins Konzept. Wieso geht die Staatsstraße bis zur Autobahn? Das bringt doch noch mehr Verkehr. Wieso den Wald hier wegnehmen und woanders wieder aufforsten? Sollen doch die Firmen umziehen! Wieso fliegen neuerdings noch mehr Hubschrauber das Klinikum Großhadern an? Wieso überhaupt Bio-Regio Würmtal? Am Ende ging gar nichts mehr. Der Plan ist vom Tisch, alle werkeln wieder vor sich hin. Und ihre Idee, eine Eishalle oder Skateboardanlagen zu bauen, kann sie auch vergessen. Der Gemeinderat will ein Schwimmbad, obwohl „die Gegend nur so von Schwimmbädern wimmelt“, sagt Ulrike Höfer mit einem Durchhaltelächeln, das sagt: „Kommunalpolitik macht Spaß.“

Der Pionier

Professor Horst Domdey kommt an den Tisch. Er macht sich Sorgen. Er leitet das Gründerzentrum, inhaltlich. Außerdem ist er im Vorstand der Bio-M AG, die hier im Haus sitzt. Die Bio-M AG ist Berater, Mittler, Seed-Finanzierer und Schnittstelle für die Biotech-Branche in ganz Bayern – und Horst Domdey ist ihr Gesicht. Ein stämmiger Mann, jeder Satz kommt mit einem Stück Herz aus ihm heraus, seine Hände machen dazu langsame Flaggensignale. Obendrein war Horst Domdey Mitbegründer von Medigene, nach Morphosys Deutschlands zweitältestes Biotech-Unternehmen. Räumlich liegen die beiden nur ein paar hundert Meter auseinander. Vielleicht bald hundert Kilometer, denn Medigene will bauen. Und das ist in Martinsried inzwischen ein echtes Problem.

Horst Domdey war dabei, als hier alles losging. Zuerst kam das Max-Planck-Institut für Biochemie, die Gegend um Planegg gefiel den damaligen Gründern. Das war 1973. Drei Jahre später schrieb Domdey dort seine Doktorarbeit. Das kleine Areal um Martinsried war damals bereits erschlossen. Die Neue Heimat hatte eine Siedlung gebaut (inklusive des Einkaufszentrums, das bis heute unverändert geblieben ist), im Industriegebiet gegenüber gab es Baggerfirmen und Textilfabriken. Die bayerische Staatsregierung kaufte in kluger Weitsicht alle Felder bis an den Münchner Stadtrand auf, trug Wissenschaft und Forschung in die Flächennutzungspläne ein und siedelte konsequent ebensolche an den Stadtrand. In den achtziger Jahren folgte das Klinikum Großhadern, danach das Genzentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Horst Domdey leitete dort die erste Arbeitsgruppe: „Tolle Wissenschaft konnte man dort machen“, sagt er, hebt den Daumen und baut mit der anderen Hand ein Dach darüber. Später kamen die Fachbereiche für Chemie und Pharmazie der Universität hinzu.

1995 ging mit dem legendären Bio-Regio-Wettbewerb aus dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie von Jürgen Rüttgers der erste große Ruck durchs Ried. Professor Jürgen Drews, Ex-Forschungsleiter von Roche, heute Biotech-Unternehmer und Risikokapitalgeber, formulierte damals in einer Studie: „Der Bio-Regio-Wettbewerb hatte die Netzwerkbildung und Bündelung der Potenziale innerhalb einer Region zur Erreichung der kritischen Masse zum Ziel. Im Wettstreit um die öffentlichen Fördermittel haben sich die Unternehmen einer Region verbündet und diese informellen Bündnisse nach der gewonnenen Ausschreibung beibehalten.“ So geschah das auch in Martinsried. Horst Domdey schrieb den Wettbewerbsantrag für die Region München.

Der Aufschwung

Eine Gründung nach der anderen erfolgte im Industriegebiet der Neuen Heimat, das Innovations und Gründerzentrum für Biotechnologie (IZB) entstand und mittendrin, oben drauf, je nachdem: die Bio-M AG. Seed-Finanzierung, Gutachten, Banken, Versicherungen, Pharmakonzerne, Berater, bei Bedarf sagen alle: „Darum kümmert sich die Bio-M.“ In Horst Domdeys bayerischem Dialekt klingt das wie „Genossenschaft“. Hände auseinander, wieder zusammen: „Wir machen Networking.“

Parallel zu den Ansiedlungen sorgte die bayerische Landesregierung für einen steten, fürsorglichen Geldstrahl für die Institute und ihre Startups. Aktuell wirkt die Hightech-Offensive. Knapp 1,2 Milliarden Euro aus Privatisierungserlösen fließen in internationales Marketing, Technologieaustausch, Infrastruktur, Gründungsprogramme, Regionalkonzepte und Hightech-Branchen. Der mit Abstand größte Anteil entfällt auf die Life-Sciences: mehr als 350 Millionen Euro. Mit dem Programm Offensive Zukunft Bayern, bestehend aus drei Teilen, hat der Freistaat seit 1999 insgesamt 4,2 Milliarden Euro in seine Zukunft investiert.

Aber die in München haben nicht nur Geld, sie haben auch einen Plan. Einen Steinwurf vom IZB entfernt bauen sie den nächsten großen Wurf. Der gesamte Fachbereich Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität zieht nach Martinsried. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Chemie, Pharmazie, Medizin, Genzentrum und den Max-Planck-Instituten entsteht ein Hightech-Campus, komplett den Life-Sciences gewidmet. Später sollen Physik und Geowissenschaften nachziehen. Dann wird es hier richtig eng.

International gelten die Referenten des Freistaats als kompetente Gesprächspartner. Otto Wiesheu, der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Verkehr und Technologie, saß vorher als Staatssekretär im Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst. Martinsried ist Teil eines Regionalplans, der sich bis nach Weihenstephan zieht, das als Standort für Nahrungsmittelforschung und grüne Biotechnologie ausgebaut wird. Dieser Masterplan ist in der gesamten Biotech-Branche bekannt. Bis in die Haushalte der betroffenen Gemeinden ist er nie gedrungen.

Die Probleme

Im Gegensatz zu anderen Hightech-Clustern weltweit (etwa Oulu, Cambridge oder Boston), deren Kommunen die Bedürfnisse der Wachstumsbranche infrastrukurell spiegeln, ist die Biotechnologie in Martinsried ein Fremdkörper geblieben. In der Mitte anderer Technologiezentren zum Beispiel befinden sich immer die eigentlichen Innovationszellen: Restaurants, Sportzentren, soziale Treffpunkte. Martinsried dagegen ist geprägt von der raumplanerischen Unlust, einen Dialog mit den Neuankömmlingen einzugehen. „Früher hat es nie Entscheidungen für etwas gegeben. Aus dem Gemeinderat kam immer: ,Macht ihr das, wir kommen da eh nicht mit.‘ Frau Höfer ist die Erste, mit der das anders ist“, sagt Horst Domdey und lächelt. Ulrike Höfer nicht. „Es ist doch so“, sagt Domdey und beugt sich vor, „Planegg, Krailling, Gräfelfing, die Gemeinden im Münchner Süden sind sehr reich. Die Leute wollen hier wohnen. Aber die wollen nicht, dass hier gearbeitet wird.“

Horst Domdey fragt Ulrike Höfer, ob sie noch Material für die Gemeinderatssitzung brauche. Oder ob er vielleicht vorbeikommen solle. Die Bürgermeisterin überlegt kurz. Domdeys Frage betrifft die geplante Umgehungsstraße. Der Gemeinderat favorisiert eine kleine Version, nicht bis zur Autobahn, lediglich an Martinsried vorbei soll sie führen, nah an der aktuellen Bebauung. Die Landesregierung aber will bis zur Autobahn durchstoßen. In Erwartung dieser landespolitisch sinnvollen großen Lösung hat Medigene seinen Neubau geplant, genau dort, wo die kleine Straße jetzt entlangführen soll. Medigene braucht Platz, 1300 Arbeitsplätze sollen in dem neuen Gebäude untergebracht werden. Es gibt sonst keine freie Fläche, in die Höhe darf es auch nicht gehen. Die AG will aber in Martinsried bleiben. Schließlich ist sie hier entsprungen. Ein Unternehmen der ersten Stunde sozusagen.

Ulrike Höfer schaut den Chef des IZB kurz an. Sie mache das lieber allein, sagt sie behutsam, alles andere würde nur wieder die Verschwörungstheorien im Gemeinderat füttern. Aber sie muss auch los. „Ich rufe Sie an“, sagt Domdey. Auch die deutsch-amerikanische Runde am Nachbartisch hat ihren Lunch beendet. Beim Rausgehen dreht sich einer der deutschen Wissenschaftler zum Wirt um und ruft: „Bye, thank you.“ Der Wirt zurück: „Bye, bye, thank you!“

Der Landesvater

Politischer Aschermittwoch, die Sonne scheint. Aus dem Autoradio plärren die Kampfreden der Parteisekretäre. Auf den Stoppelfeldern glänzen die Umrisse des Genzentrums und des Klinikums Großhadern. Riesige, deplatzierte Einbauküchen aus Stahl. Modern. Sieht stark nach Zukunft aus, „future“, wie der Bayer sagt. Edmund Stoiber ist aus Passau zugeschaltet. Er redet sich in Rage, angeheizt durch Schreie aus dem Saal. Es geht um Gerhard Schröder. „Der Mann hat keine Vision“, schreit Stoiber. Frenetisches Gegröle, es trägt den Satz wie ein prächtiges Spanferkel durch das Bierzelt. Stoiber setzt nach: „Für dieses Land!“ Tosender Applaus. Hat denn Stoiber selbst eine? „Die grenzüberschreitenden Kapitalflüsse explodieren und sammeln sich dort, wo Technologie und Innovation Magnetwirkung entfalten“, erklärte Stoiber in seiner Regierungserklärung vom 12. Oktober 1999 im Bayerischen Landtag. Gegen die Nomadisierungserscheinungen der modernen Technologiegesellschaften „setzen wir unser Konzept für Bayern als Weltregion und Heimat“, so Stoiber weiter: „Wir sind aufgeschlossen gegenüber den gegenwärtigen technologischen Entwicklungen. Gleichzeitig wollen wir Traditionen bewahren und Werte vermitteln und damit den Menschen in Bayern auch ein Stück Orientierung und Halt bieten, soweit wir von Seiten der Politik dazu überhaupt in der Lage sind.“

Edmund Stoiber verkündet Patriotismus als notwendige taktische Antwort auf Wandel. Das ist nicht weiter innovativ. Doch mit dem unscheinbaren Nachsatz, der bei „soweit“ beginnt, mit „Lage“ endet und das Eingeständnis „überhaupt“ einschließt, relativiert er die Kernaufgabe von Politik. Orientierung und Halt vermitteln, Sinn stiften, Ziele aufzeigen. Genau dieses Gespräch wurde in Martinsried nie geführt, sei es aus Zeitmangel oder Inkompetenz. Hier fällt Martinsried auseinander. Es gab jede Menge Geld, Ansiedlungen, Gebäude. Aber keine Schnittstellen, Dialoge, Treffpunkte.

Der Berater

„Standort Deutschland? Eine Katastrophe“, ruft Björn Hoffstedt, noch bevor der Besuch Platz genommen hat. Hoffstedt berät US-Unternehmen, die sich in Europa niederlassen wollen. „Bayern geht noch einigermaßen, aber Berlin? Mit Kommunisten und der SPD in der Hauptstadt können wir uns das abschminken. Da geht gerade gar nichts. Verlassen Sie sich darauf. Setzen Sie sich“, sagt Hoffstedt. „Cambridge? Lustig, die waren richtig schlecht vorbereitet. Die haben sich gar nicht für uns interessiert. Baden-Württemberg hat sich Mühe gemacht. Aber zu weitflächig. Die meisten Mitarbeiter sind ja doch bequem.“

Björn Hoffstedt ist Schwede. Wenn er so schwadroniert, ist das skurril. So harte Worte ist man in dem Akzent nicht gewohnt. Vor ein paar Jahren ist Björn Hoffstedt mit dem europäischen Headquarter des Genetics Institutes von Paris nach Martinsried gezogen. Jetzt sitzt er hier. Mittendrin, wo man keine Parkplätze findet. Aber bezahlbare Arbeitskräfte. „In Paris haben wir jahrelang auf die kritische Masse der umgebenden Firmen gewartet. Aber nichts ist passiert. In London und Brüssel bekommen Sie keine guten Leute auf der mittleren Ebene. Dafür ist das Wohnen dort zu teuer.“ Und München? „Wir waren erstaunt über die Kompetenz im Wirtschaftsministerium“, sagt Hoffstedt. „Beim ersten Treffen waren unsere US-Leute dabei, die haben einfach nur zugehört. Die in München haben eine Vision, einen Plan.“ Dann grinst Hoffstedt. Die Investoren kamen damals direkt aus China, ebenfalls von einem Sondierungsgespräch für Investitionen. „Dort haben sie sich ausschließlich mit Generälen getroffen, die ihnen versicherten, alles im Griff zu haben.“

Björn Hoffstedt redet noch eine Weile weiter und erzählt, was auch andere Unternehmer und Berater erzählten. Kompetenz und Masterplan auf Ministeriumsseite, die Nähe zum Deutschen Patent- und Markenamt in München, sogar die Steuerberater hätten hier Ahnung von der Materie, letzten Endes die kritische Masse: große Chemiekonzerne in der Nähe, die kleine Start-ups in harten Zeiten mit flankierenden Aufträgen über Wasser halten.

Ein Location-Scout für Technologieunternehmen, der lieber nicht genannt werden möchte, sagt: „Hamburg: Vom Senat gibt es immer nur Lippenbekenntnisse. Die Bundesländer um Hamburg finden nicht zusammen. Berlin: schlechte Rahmenbedingungen. International, vor allem in den USA, misstrauen sie der PDS. Mecklenburg-Vorpommern: Die wichtigste Ressource sind erfahrene Manager. Aber da gehen Sie doch nicht nach Greifswald!“

Björn Hoffstedt steht auf, stellt sich neben ein lebensgroßes Skelettmodell und schaut aus dem Fenster. Jetzt kommt der zweite Teil der Arie, der traurige. Martinsried. Andere Gesprächspartner schlugen dieselben Töne an, wenngleich nicht so hart wie Hoffstedt. Es gebe keine Hotels, keine Tagungsräume, jede Mittagspause ist eine fatale Entscheidung zwischen dem Metzger an der Ecke und einem italienischen Restaurant namens Eboli, „das Essen dort ist sehr gut oder sehr schlecht“. Manchmal trifft man sich auch in der Kantine von Telegate. Sie hatten hier auch mal so was wie einen Gründerstammtisch, in einem Gasthaus. Der Wirt guckte sich das nicht lange mit an. Ein paar Wochen, dann flogen die Unternehmer raus, weil sie nur Apfelsaftschorle tranken und sonst nichts verzehrten. Jetzt treffen sie sich im Café Freshmaker.

„Die Mikro-Infrastruktur hier ist leider nicht gut ausgebaut. Die Mischung zwischen Gewerbe und Wohnen ist nicht optimal“, sagt Björn Hoffstedt. „Schauen Sie sich das mal an.“ Er zeigt auf die nahe gelegene Siedlung. „Die gehört abgerissen.“ Hoffstedt weiß, das ist frech. Er weiß auch, das stimmt nicht, aber es scheint ihm Spaß zu machen. „Oder die Sache mit dem Bannwald“, sagt er und spielt auf die Gewerbegebiets-Erweiterung im Rahmen des Bio-Regio-Würmtal-Konzeptes an, die im Süden geplant war. „Da stehen ein paar mickrige Fichten, das war’s. So was überhaupt einen Wald zu nennen – lächerlich.“

Der neue Bürgermeister

Dieter Friedmann sitzt in seiner dunklen holzvertäfelten Küche. Seine buschigen Augenbrauen stehen ab wie Federn, eine hoch, die andere runter, er sieht aus wie der Würmkauz, das Wappentier der Gemeinde Planegg. Das zauselige Vögelchen ziert das Wahlprogramm der SPD, Friedmann ist ihr Bürgermeisterkandidat. Dieter Friedmanns Haus steht am Waldrand, in der Jörg-Tömlinger-Straße. Beste Wohngegend, vor den Villen parken Karossen und geländegängige Zweitwagen. Friedmann hat das Haus von seinem Vater geerbt, der war hier Förster. Jetzt könnte er das von seinem Lehrergehalt (Deutsch und Latein) nicht mehr bezahlen. Er sagt: „Von meinen ehemaligen Abiturienten wohnt keiner mehr hier. Das bereitet mir als Lehrer Kummer. Sogar als Zahnarzt können Sie hier nichts mehr machen.“ Dieter Friedmanns Wahlprogramm ist der genaue Gegenentwurf zu dem von Ulrike Höfer. „Fünf Bürgerinitiativen gibt es allein in Martinsried“, sagt Friedmann. Die meisten sind bürgerliche Ausgründungen seiner Opposition im Gemeinderat gegen die Bio-Regio Würmtal.

Und die Landschaftsplanung, das Raumkonzept? „Sie können aus einem Ackerboden nicht mal eben einen Wald machen. Neuen Wald bringen Sie hier in 50 Jahren nicht hin.“ Und die Arbeitsplätze, was passiert, wenn zum Beispiel Medigene mit 1300 Angestellten abwandert? „Das sind doch alles Einpendler. 4000 haben wir am Tag“, sagt Dieter Friedmann, hebt dabei die Arme, als ob er jeden Einzelnen ins Dorf tragen müsse und sieht wirklich wahnsinnig müde aus.

Aber Medigene ist doch ein ortsansässiger Mittelständler, quasi hier entstanden, lässt man so jemanden einfach ziehen? „Wir haben noch andere Gewerbe, die nach Martinsried drängen“, sagt Dieter Friedmann. Dann distanziert er sich so sehr von dem Biotech-Unternehmen, dass er nicht mal den Namen in den Mund nimmt: „Wenn nicht hier, dann da. Man kann sicher auch woanders etwas mit dieser Firma anfangen.“

Im Wahlprogramm der SPD heißt es: „Eine breit gefächerte Mischung von Betrieben auf vorhandenen Gewerbeflächen. Ortsansässige Firmen schaffen Arbeitsplätze.“ Gesunder Menschenverstand meint man, vielleicht auch eine Binsenweisheit. Doch im Fall von Martinsried bedeutet das Rückbau. Gegen alle entwicklungspolitischen Trends, die international und auch von München aus zu beobachten sind. Doch nicht aus Dieter Friedmanns Perspektive. Er sagt: „Wir sind von einer Bewegung überrollt worden, die vor zehn Jahren nicht abzusehen war. Wir brauchen jetzt eine Ordnung, in dem, was ist.“

Als der Besuch ins Auto steigt, steht Dieter Friedmann in seiner Küche. Er sieht nachdenklich aus, wie er so aus dem Fenster schaut, hinter ihm der dunkle Wald, er weiß ja nicht, was die Zukunft bringt. Der Lehrer hebt den Becher, nimmt einen Schluck Kaffee. Gleich muss er wieder los, zum Nachmittagsunterricht. Vier Wochen noch, dann wird Dieter Friedmann Bürgermeister sein.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.