Nicht mal die Weidenkätzchen schaukeln

Die Gemeinde Elisenwaara am karelischen Ladogasee ist bettelarm. Eines Tages kamen Investoren aus Sankt Petersburg und wollten dort eine Kiesgrube bauen. Das versprach Arbeit und etwas Wohlstand. Doch die Dorfbewohner verlangten mehr. Ein russischer Präzedenzfall.




Tatjana Gerasimowa ist weißblond, blauäugig und athletisch wie eine skandinavische Speerwerferin. Deshalb wirkt ihr Schreibtisch sehr klein. Neben dem altmodischen PC der Bürgermeisterin steht eine Vase mit drei Tulpen aus rotem Plastik. Russlands Staatsmacht kann sehr bescheiden sein. „Es ist oft bedrückend, hier zu sitzen“, sagt Gerasimowa. „Wenn die alten Frauen kommen und eine Fuhre Brennholz brauchen. Wenn du statt Hilfe nur gute Ratschläge hast.“

Tatjana Gerasimowa steht Elisenwaara vor, einer 1500-Seelengemeinde in Karelien. Birkenhölzerne Sommerfrische auf halbem Weg zwischen den Schären des Ladogasees und der finnischen Grenze. Die meisten Leute hier arbeiten bei der Eisenbahn, aber der breite Bahndamm, der die Siedlung teilt, schweigt, es fahren immer weniger Züge. Die alten Holzgebäude sind sargschwarz, und die paar Steinhäuser sehen aus, als wären sie zuletzt gestrichen worden, noch bevor das Dorf 1947 im Pariser Frieden von Finnland an die Sowjetunion fiel. Die Sowjetunion ist längst tot. Von der Sowchose „Sarja“, einer staatlichen Rinderfarm, die seinerzeit reich gewesen sein soll, sind nur die Mauern der Kuhställe übrig.

Die Gerasimowa verwaltet den nackten Mangel. Der Jahreshaushalt der Gemeinde, umgerechnet 51000 Euro, geht zu 70 Prozent für Gehälter drauf – obwohl die Chefin spart, sich weder Fahrer noch Stellvertreter leistet. „Zu Sowjetzeiten gab es einen Rüffel, wenn der Ortsvorsitzende zu wenig Geld ausgegeben hatte.“ Sie lächelt unfroh.

Als Arkadij Moltschanow zu Silvester nach Elisenwaara fuhr, begegnete ihm auf einer einsamen Straße ein siebenjähriges Mädchen, das mit seiner noch jüngeren Schwester an der Hand allein durch die Winternacht wanderte. „Und 200 Kilometer weiter leuchtet Sankt Petersburg wie Las Vegas“, sagt Moltschanow. Der 34-jährige Generaldirektor des Karelischen Kombinats für Tagebau (russisch kurz: KKNI) trägt einen silbern melierten Zweitagebart, keinen Schlips. Ein braun gebrannter Vertreter der neuen russischen Managergeneration: jung, dynamisch und professionell. „Die Lebenszustände in Elisenwaara sind heute noch trauriger, als sie zu Sowjetzeiten in weiter abgelegenen Dörfern im Norden waren.“ Er macht eine kurze Pause und stellt fest: „Das ist erstaunlich.“

Moltschanow ist ein Mann, der rechnet. Er erörtert die Bedeutung von Eisenbahn- und Arbeitskraftkapazitäten für die Rentabilität von Granitkiesgruben. Er zeigt keinerlei Betroffenheit, wenn er von seinen Besuchen im Dorf erzählt. Generaldirektor Moltschanow fährt oft nach Elisenwaara.

Der Manager: Arkadij Moltschanow ist Generaldirektor des Karelischen Kombinats für Tagebau. Der Konzern will rund um Elisenwaara Granit abbauen und so 430 neue Arbeitsplätze schaffen.
Die Bürgermeisterin: Tatjana Gerasimowa steht dem Dorf Elisenwaara vor. Die Gemeinde trotzte Moltschanow und seinem Kombinat Zugeständnisse ab, von denen Bürger und Umwelt profitieren.

Vor zwei Jahren fanden seine Geologen in den Hügeln südlich des Dorfes Granit. Den will sein Kombinat abbauen, jährlich zwei Millionen Kubikmeter. Das wären mehr als zehn Prozent der Kiesmenge, die die boomende Bauindustrie im Großraum Sankt Petersburg derzeit braucht, um das Wachstum voranzutreiben. Ein 30-Millionen-Euro-Investor für eine vergessene Gemeinde. Aber Elisenwaara empfing ihn nicht mit offenen Armen.

Bislang musste die prosperierende russische Rohstoffwirtschaft beim Ausschöpfen der Ressourcen in weiten, unendlichen Landschaften vor allem Rücksicht auf die Moskauer Staatsmacht nehmen. Der westlich geprägte Begriff der „sozialen Verantwortung des Business“ kam erst zur Jahrtausendwende in Mode. Mit dieser Parole und drohendem Unterton verlangte Wladimir Putin den Wirtschaftsbossen des neuen Russland politische Willfährigkeit und patriotische Wohltätigkeit ab. Seitdem bemühen sich Moskaus Milliardäre um möglichst spektakuläre Beweise ihrer Vaterlandsliebe. Sie kaufen Millionen Euro teure Fabergé-Eier im Ausland und überlassen sie dem Kremlmuseum. Oder sie bezahlen das Millionengehalt des in den Niederlanden eingekauften Trainers der Fußballnationalmannschaft.

In Russland findet sich eher Potemkinscher Finanzheroismus als echte, korporative soziale Verantwortung. Mit Blick auf das, was der Westen Corporate Responsibility nennt, nimmt das Land nach einer Studie des IMD in Lausanne den 55. Platz ein – unter 55 untersuchten Staaten.

Aber Russlands Elend sind keineswegs seine Unternehmer. Russlands Elend ist, dass sich kaum jemand um das Allgemeinwohl schert. Wer redlich seine Steuern zahlt, gilt noch immer als Idiot. Die Masse des Volkes schimpft auf die Beamten, aber sie kuscht vor ihnen. Ein Großteil der Beamten wiederum betrachtet seinen Posten als Geldquelle und nicht als Verpflichtung. Doch die Lage wandelt sich. Je niedriger die Dächer, unter denen sie sitzen, je kleiner ihre Schreibtische, desto häufiger findet man neuerdings andere Amtsträger. Auch die Bürger ändern sich. Und manche Unternehmer.

In Elisenwaara, einem der hintersten Winkel des europäischen Russlands, stieß KKNI auf eine selbstbewusste kommunale Verwaltung. Durch Ausbeutung und leere Versprechen misstrauisch geworden, ließ die kleine Gemeinde den Konzern abblitzen. Die Aussicht auf Investitionen war den Menschen zu wenig. Sie forderten eine Umgebung, in der sich leben und arbeiten lässt. Und KKNI entschloss sich – eher unrussisch – zu massiven sozialen Investitionen und zum öffentlichen Dialog. Das Ergebnis des Konflikts ist eine Zweckgemeinschaft aus Lokalpolitik, Volk und Unternehmen. Eine vertraglich festgeschriebene Partnerschaft zwischen Kombinat und Gemeinde. Die Verbindung von Verantwortungsgefühl, Zivilcourage und sozialer Intelligenz. Und ein russischer Präzedenzfall.

Seit 1991 die Sowjetunion kollabierte, war es für Elisenwaara bergab gegangen: Melkerinnen und Traktoristen verloren ihre Jobs, Jelzins Inflationen pulverisierten Sparbücher und Renten. Von 1200 Rindern sind heute noch drei übrig. „Das Viehfutter ist zu teuer“, sagen die Leute. Selbst Putins rohstoffgetriebener Aufschwung bot dem Dorf keine Perspektive: Alle Jungen und Mutigen sind ins boomende Sankt Petersburg geflohen. Wer geblieben ist, scheint sich abgefunden zu haben. Die Gerasimowa sagt: „Die Leute erwarten nichts Gutes mehr.“

Trübe Aussichten? Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es für Elisenwaara bergab.
 Viele Junge zogen auf Arbeitssuche nach Sankt Petersburg.
Zurück blieben die Alten.

In diese Tristesse platzte im vergangenen Sommer jene Nachricht, die das Dorf auf die Beine brachte. Damals sickerte durch, dass das Ministerium für Naturressourcen der Republik Karelien klammheimlich 41 Rohstofflizenzen für den Landkreis Lachdenpochja verkauft hatte, zu dem auch die Gemeinde Elisenwaara gehört.

Lachdenpochja, das ist ein Rechteck zwischen Ladogasee und finnischer Grenze. 70 mal 30 Kilometer karge, schöne Waldlandschaft, voller Felsen und kleiner Hügel, von wenigen Menschen bewohnt. Und jetzt gab es 41 Einladungen, die Bodenschätze dieser Landschaft auszubeuten. Ein Großteil der Lizenzkäufer gab sich nicht zu erkennen – offenbar Dealer, die ihre Nutzungsrechte gar nicht selbst ausschöpfen, sondern mit Gewinn weiterverkaufen wollten. Dem Landkreis und seinen 17 000 Einwohnern drohte über Nacht ein Schicksal, das nicht nur Umweltschützer entsetzte: eine Kraterlandschaft, auf der eine industrielle Dauerschlacht toben würde, mit Explosionen, Lärm, Staub und endlosen Lastwagenkolonnen. Allein fünf Lizenzen betrafen Elisenwaara. Die umfangreichste hatte ein entschlossener und finanzstarker Investor aus Sankt Petersburg erworben: KKNI. Für Granitkiestagebau auf 157 Hektar, mehr als ein Viertel des gesamten Gemeindegrunds.

Tatjana Gerasimowa und der Gemeinderat trommelten die Bürger zusammen. Die Zeit reichte nicht, KKNI schriftlich zu der öffentlichen Versammlung einzuladen. Mündlich hat es die Gerasimowa versucht. Es kam keiner. So fand die Abstimmung allein unter den Dorfbewohnern statt. Alle 120 Anwesenden stimmten gegen die Kiesgrube.

Laut Gesetz ist dieses „Njet“ der Bevölkerung nicht verbindlich. Aber aufgeschreckt von so viel Widerstand, stellte sich der karelische Präsident Sergej Katanandow hinter die kleine Gemeinde: „Ohne Einverständnis der Bevölkerung wird keine einzige Kiesgrube aufgemacht“, bestimmte er. Genau wie Elisenwaara votierten drei weitere Gemeinden im Landkreis geschlossen gegen den Tagebau.

„Das habe ich nicht kommen sehen“, sagt KKNI-Chef Moltschanow heute. Russische Unternehmer sind Schikanen der Bürokratie gewohnt, aber keine vom Volk getragenen Umweltinitiativen. Schon gar nicht vom russischen Landvolk, das berühmt für seinen Fatalismus ist.

Die anderen Investoren waren vermutlich nicht weniger überrascht. Nach dem deutlichen Votum warteten einige einfach stillschweigend ab, wohl in der wiederum sehr russischen Hoffnung, die Proteste aussitzen zu können. Andere kauften sich bei der Regionalpresse ein, um die Stimmung zu drehen. Sie schickten PR-Profis aus Sankt Petersburg. Die zogen durch die Dörfer, besuchten Lehrer, Gemeinderäte und andere lokale Autoritäten, verteilten Werbekataloge, in denen westliche Tagebautechnik dargestellt war, ökologisch einwandfrei. Wunschlisten wurden geschrieben, Versprechungen gemacht. Oder sie sicherten sich die Gunst der örtlichen Beamten: Mehrere Gemeindevorsteher erstaunten ihre Wähler dadurch, dass sie bei öffentlichen Versammlungen lautstark für die Kiesgruben plädierten. Das roch nach Schmiergeld.

Die Gerasimowa schlug sich nicht auf die Seite der Unternehmer. Obwohl sie persönlich schon damals der Ansicht war, die Gemeinde brauche die Grube. „Aber die Menschen hier haben mich gewählt. Ich stelle mich nicht gegen meine Leute“, sagt sie. Stattdessen wollte sie mit den Gemeinderäten den Preis hochtreiben – nicht für sich, sondern für alle Einwohner.

Neue Hoffnung? Mit dem Geld der Kiesgruben-Investoren sollen unter anderem kaputte Häuser und der
alte Spielplatz erneuert werden.

Auch auf Landesebene formierte sich plötzlich Widerstand. Von unerwarteter Seite, von den „Datschniki“. Am Ladogasee wimmelt es von Datschen und Landsitzen. Sie gehören ganz normalen Bürgern aus Sankt Petersburg, aber auch Fabrikanten und Aussteigern, ein ehemaliger Präsidentenberater ist dabei, ein Skiliftbesitzer, sie alle genießen hier die Ruhe und die Natur. Manche Datschniki reagierten überdreht, zum Beispiel die Bienenzüchterin, die versicherte, ihr Insektenvolk habe die Katastrophe schon im Spätherbst zuvor gespürt und sei kollektiv in den frostigen Freitod geflogen. Aber die Datschniki sind auch finanzstark und sehr gut vernetzt. Sankt Petersburger Wirtschaftsjournalisten vermuten, dass zwei große Konzerne, die den Kiesmarkt an der Newa kontrollieren, die Ferienhausbesitzer unterstützten – um der Konkurrenz zu schaden.

So entbrannte im Sommer 2007 ein Informationskrieg um die Gunst von 17000 längst vergessenen Seelen. Auf der einen Seite: offen auftretende Investoren aus Sankt Petersburg wie KKNI oder „Jefimowskij Karer“, anonym zahlende Lizenzinhaber und die von ihnen gedungenen PR-Leute und Regionaljournalisten, aber auch Gemeinderäte, die auf die Investoren und ihr Geld setzten. Auf der anderen Seite: die „Initiativgruppe“ der Datschniki und ihr Sprachrohr, die Lokalzeitung Wolniza, die vehement vor Kiesgruben und Staublungen warnte. Auch ihnen schlossen sich Gemeinderäte und Lehrer an, selbst örtliche Staatssicherheitsmänner waren gegen die Gruben. Es hagelte Meinungen und Argumente aus allen Richtungen, Flüche und Verheißungen flogen hin und her, Wirtschaftswunder- und Horrorszenarien wechselten einander ab.

Um die Ansiedlungspläne zu vereiteln, hoben die Datschniki sogar ein Gegenprojekt aus der Taufe: ein Konzept für einen „Nationalpark Ladoga-Schären“, dessen Wasserschutzauflagen jeden Tagebau im Landkreis unmöglich machen würden. Im September vergangenen Jahres gelang es einer Delegation der Datschniki, Präsident Putin persönlich einen offenen Brief gegen die Kiesgruben und für den Nationalpark zu überreichen. Nach den Regeln der zentralistischen politischen Kultur Russlands besaßen die Naturschutz-Sommerfrischler damit einen direkten Draht zur Macht – und das bedeutete eine Vorentscheidung gegen die Gruben. Fast alle Investoren resignierten.

Nur KKNI machte weiter. Im Spätsommer 2007 eröffnete das Tagebaukombinat in Elisenwaara ein Informationsbüro. Drinnen saß kein PR-Mensch, sondern Sergej Kowaljow, der Chefmechaniker des Betriebs. Ein Malocher mit Händen wie Maulwurfsschaufeln, bekennender Vertreter der Arbeiterklasse und Tagebauer seit 25 Jahren. „Ich habe den Leuten zuerst mal erklärt, dass die 41 Lizenzen, von denen die ganze Zeit die Rede war, kompletter Unsinn sind. Die Kapazität der alten Eisenbahnlinie reicht für eine, maximal zwei Gruben.“ Tatsächlich hatte sich herausgestellt, dass nur 17 Lizenzen für Kiesgruben vergeben worden waren. Um sie auszuschöpfen, müssten erst neue Straßen und Bahnlinien gebaut werden. Das würde dauern. Jahrelang. Zudem, so wurde publik, hatte das Ministerium die meisten Förderrechte widerrechtlich verschoben. Der stellvertretende Minister für Naturressourcen war schon im Juni 2006 verhaftet worden, unter dem Verdacht, fast anderthalb Millionen Euro Schwarzgeld kassiert zu haben. Die Staatsanwaltschaft focht die Lizenzen an, KKNI war einer der wenigen Investoren, der sein Projekt vor dem Karelischen Vermittlungsgericht verteidigen konnte.

Nach und nach glätteten sich die Wogen. Anfang dieses Jahres standen im gesamten Landkreis nur noch zwei oder drei Kiesgruben zur Debatte, maximal. Chefmechaniker Kowaljow beantwortete Fragen nach Umweltschäden inzwischen mit einem Grinsen: „Sehe ich etwa wie ein Rachitiker aus? Im Sommer macht jede ungeteerte Autostraße mehr Staub als eine Kiesgrube!“ Die Argumente des Mechanikers überzeugten die Leute, weil er einer von ihnen ist. Er hat es mit seiner Hände Arbeit zu etwas gebracht. Und er fürchtet die Gruben nicht. An den Wochenenden baut er sich ein Blockhaus in der 150 Kilometer entfernten Grubenstadt Kamenogorsk. Vom Pfosten seiner künftigen Gartenpforte bis zum Tor der nächsten Granitkiesgrube sind es 800 Meter.

Aber KKNI redete nicht nur, das Kombinat handelte. Als einziger Lizenzinhaber investierte es in die Gemeinde. Schon 2006, vor dem großen Krach, hatten die Kiesgrubenbetreiber Dach und Heizung der Mittelschule renoviert. Dann bauten sie ein neues Heizwerk und ließen eine Wärmetrasse zum Kindergarten legen. Auf den einstigen Mauerresten der Kuhställe sitzen jetzt tiefblaue, neue Stahldächer. Zwei Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 18 Wohnungen hat KKNI aus den Sowchos-Bauruinen gezaubert. Das sind mehr als Hoffnungsschimmer für Leute, die ihre hölzernen Behausungen „Scheunen“ nennen. Insgesamt steckten die Investoren rund eine Million Euro in die Gemeinde. „Auf dieses Argument hat keiner unserer Widersacher eine Antwort“, sagt Arkadij Moltschanow. „Wir haben in Elisenwaara noch keine Kopeke verdient. Aber schon sehr viel Geld hineingesteckt.“

Die Stimmung kippte – pro KKNI. „Es kamen immer mehr Männer und fragten nach Arbeit“, erzählt Mechaniker Kowaljow. Hundert Namen stehen inzwischen auf der Bewerbungsliste. Und die Bürger votierten erneut. Bei einer zweiten öffentlichen Versammlung im November 2007 stimmten im überfüllen Dorfklub 152 Gemeindemitglieder für die Kiesgrube. Nur noch fünf waren dagegen.

Bürgermeisterin Gerasimowa und Generaldirektor Moltschanow unterzeichneten anschließend einen „Vertrag über soziale Partnerschaft“: Das Kombinat verpflichtete sich, vorrangig Einheimische einzustellen, den Schülern der Mittelschule Ausbildungsplätze zu verschaffen, ökologisch einwandfrei zu produzieren und weiterhin Geld in die Gemeinde zu investieren. Eine neue Sporthalle, Straßenlaternen und eine Busverbindung in die Kreisstadt soll es geben. Der mit Brettern vernagelte Eisenbahnerklub wird renoviert. Und bei den Abschlussfeiern im Kindergarten und in der Schule verteilt KKNI Geschenktüten. „Finanziell ist das kein Heroismus“, sagt Moltschanow nüchtern, dann lächelt er, und er benutzt das Wort tatsächlich: „Aber die Leute freuen sich außerirdisch.“

Gute Perspektiven? Der Investor
 aus Sankt Petersburg hat die Heizung 
im Kindergarten angeschafft. Den Jugendlichen, die im Dorfklub ihre Zeit vertrödeln, verspricht er neue Jobs.

KKNI erledigt gerade den letzten Papierkrieg. Das Dorf wartet. Hinter hölzernen Zäunen bücken sich Leute in Gummistiefeln über Kartoffelfurchen. „Ich säe nur noch einen Eimer aus, es gibt keinen Dünger mehr“, schimpft Igor Nikolajewitsch, der Vorsitzende des Veteranenklubs. „Im Laden verkaufen sie jetzt polnische Kartoffeln.“ Das Dorf sterbe aus, wenn nicht bald jemand zuziehe.

Die Idylle scheint greifbar nah: 430 neue Arbeitsplätze, neue Häuser, mehr Steuern und ab und zu eine leichte Explosion, nach der nicht mal die Weidenkätzchen schaukeln. Ein bärtiger Eisenbahner mit zwei stählernen Frontzähnen hat keine Angst: „Ich bin ganz laut für die Grube“, sagt er. Bei der Eisenbahn müsse er alle zwei Jahre einen Gesundheitstest bestehen. „Die checken mich durch, als wäre ich ein Kosmonaut.“ Wenn er durchfalle, bekomme er statt umgerechnet 350 Euro nur noch 55 Euro Invalidenrente. „Ich fange lieber sofort in der Grube an.“ Ein russischer Arbeiter auf dem Land verdient im Schnitt nur etwa 150 Euro im Monat.

Die Grube wird Udatschnoe heißen, „Glückauf“. „Auf jeden Fall liegt sie glücklich“, sagt die Gerasimowa. Sie hat sich zum Optimismus entschlossen. „Die Waldhügel zwischen uns und der Grube schlucken den Staub. Und wenn uns doch die Fensterscheiben wegfliegen, können wir den Betreiber zur Rechenschaft ziehen.“ Ist das korporative soziale Verantwortung? Sie denkt nach. „Business bleibt Business. Jeder arbeitet in seine Tasche.“

Auch Moltschanow reagiert nüchtern auf die Parole von der „sozialen Verantwortung“. „Schauen Sie“, erklärt der Manager gelassen, „es gibt da einen formalen Aspekt: Die Gesetzgebung in Russland bietet der Öffentlichkeit beste Möglichkeiten, jedes Business zu stoppen.“ Als Unternehmer sei er gezwungen, dieses Risiko minimal zu halten. Es gebe aber auch einen wirtschaftlichen Aspekt: „Wir sind hier mitten im Wald, weit weg von den großen Städten. Und ich brauche in der Produktion etwa 300 Arbeiter, Eisenbahner und vor allem Kraftfahrer.“ Solche Leute gibt es Elisenwaara: früh pensionierte Lokführer, Holzabfahrer oder ehemalige Traktoristen.

Moltschanow will, dass diese Leute für ihn arbeiten. Und sie sollen das gern tun. „Warum baut Mercedes andere Autos als Lada mit seinen Schiguli?“, ereifert er sich: „Weil die Arbeiter in Deutschland gute Laune haben, gute Wohnungen und gutes Essen. Abends gehen sie in Ruhe mit ihren Kindern durch beleuchtete Parks spazieren.“ In Elisenwaara fehle all das. „Meine Leute werden an fünf Millionen Rubel teuren Kiesmühlen handwerklich präzise Arbeit machen müssen. Wie soll das einer hinkriegen, der schlecht gelaunt zur Arbeit kommt, womöglich sogar verkatert, weil ihm hier nichts anderes bleibt, als zu saufen?“

Moltschanow lässt keinen Zweifel: Die Verantwortung ist ein Geschäft. Und trotzdem hat die Partnerschaft zwischen Betrieb und Gemeinde sehr viel von einer Patenschaft. Fast ist sie eine Neuauflage der sozialistischen Planwirtschaft: Damals unterhielten die Kombinate eigene Kindergärten, Krankenhäuser, Erholungsheime, Klubhäuser und Sportklubs, aber auch Wasserwerke und Stromnetze, sie unterhielten ganze Städte.

Heute herrscht russische Marktwirtschaft. KKNI wird hier knapp 30 Millionen Euro investieren, jährlich zwei Millionen Kubikmeter Granitkies fördern, eine Menge Steuern zahlen. Vor Ort wird davon nicht viel landen. „In Finnland bräuchten wir diese Wohltaten des Kombinats nicht, weil unsere Gemeinde dort in Steuern schwimmen würde“, räsoniert ein Einwohner. Elisenwaara behält nur die Lohnsteuer. Der Löwenanteil, auch die komplette Gewinnsteuer, werden im Landkreis, in der Republik und vor allem in Moskau verschwinden. „Unser Steuerrecht ist nicht ganz durchdacht“, sagt Arkadij Moltschanow nicht ohne Sarkasmus. Und meint: Der Staat kassiert eifrig am Gewinn, einen Großteil seiner sozialen Verantwortung aber bürdet er der Wirtschaft auf.

Am Waldrand steht die Mittelschule von Elisenwaara, ein altes finnisches Steingebäude. „Früher gab es hier so viele Kinder, dass wir in zwei Schichten unterrichten mussten“, erzählt die Direktorin Olga Anatoljewna, eine Frau mit weichem Blick und Pagenfrisur. Jetzt sind es 150 Schüler. „Dieses Jahr haben wir 13 Erstklässler, für 2012 rechnen wir noch mit drei.“ In Russland gilt die Schule als Herz eines Dorfes. Schließt sie, stirbt meist auch das Dorf.

Die Anatoljewna gehörte zu den Ersten, die für die Kiesgrube waren. „Wenn ihr nach der Schule hier bleibt und Familien gründet“, predigte sie ihren Schülern, „habe ich weiter Arbeit.“ Sie führt den Besucher über steile Treppen durch das Gebäude, zeigt die Computerklasse, stellt drucksende und grinsende Kinder vor. Im Erdgeschoss riecht es „unerwünscht“, sagt die Direktorin und seufzt. „Mangels Kanalisation haben wir fünf Chemietoiletten.“ KKNI ist offiziell auch Pate der Schule.

Olga Anatoljewna präsentiert die provisorische Turnhalle, ein Raum, dessen Größe eher für Tischtennis geeignet ist. Sechs Abiturienten üben für den Abschlussball. Sie tanzen Walzer. Was sie von der Kiesgrube halten? „Nichts!“, rufen die Jugendlichen. Es gebe Vorund Nachteile. Aber alle Arbeitsplätze würden die Umweltbelastung nicht aufwiegen. „Das Kombinat will moderne Technik einsetzen. Wie in Finnland“, hält die Anatoljewna dagegen. „Aber hier ist Russland. Hier machen Unternehmer immer Dreck“, schimpft die 16-jährige Anja. Dann streiten die Schüler mit der Schulleiterin über Holzraubbau, natürliche Radioaktivität und nationale Schlamperei. Sie argumentieren ohne jede Angst vor Direktoren oder Generaldirektoren. Mit jugendlichem Maximalismus: „Wenn die so viel Geld haben“, erklärt Anja, „dann müssen sie helfen!“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.