Zeichen und wunder 02 01
Zeichen und Wunder

Handschriften

Was macht sie so besonders?



• Als ich wieder aus dem Keller hochkam, hatte ich sie dabei: die Kiste mit Kassetten. Ich hätte sie unbesehen wegwerfen können, tat das aber nicht. Einen Blick wollte ich vorher noch auf die Kassetten werfen, für die ich längst schon kein Abspielgerät mehr habe.

Ungefähr in Erinnerung hatte ich noch, wie die Kassettenhüllen aussehen. Zum Beispiel die meines Studienfreundes Peter, mit einer geflügelten grün-samtenen Fee, ein Ausschnitt aus einem »Zeit«- oder »SZ«-Magazin. Oder die von mir selbst gemalte Hülle, transparent-rote Lackfarbe über den Linien einer Schwarz-Weiß-Kopie eines mittelalterlichen Stichs mit anzüglichem Motiv (meine Version zu „Klaus Kinski spricht François Villon“). Collagen, Fotokopien, Gestaltungen aller Art. Mixed Tapes, Alben, Hörbücher. Etwas hat mich dabei besonders überrascht und berührt: Wie sicher und schnell ich nach all den Jahren die Handschriften wiedererkannte, mit denen die Inhalte in den Innenseiten und auf den Rücken der Kassettenhüllen geschrieben waren.

Sabria David
Sabria David

Peter, Ulla, Axel, Thomas, viele dieser Menschen habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Von einigen wüsste ich heute nicht einmal mehr die Augenfarbe, aber ihre Handschrift erkenne ich sofort. Offenbar prägt sich die Schrift eines Menschen tief und nachhaltig ein. Das Speichermedium selbst ist ohne Kassettenrekorder obsolet geworden, aber die Handschrift bleibt.

Wir Menschen haben den Wunsch eine Spur in der Welt zu hinterlassen. Die Handschrift ist eine unverwechselbare Spur. Wir können uns damit verständlich machen, wir nutzen das Alphabet, allgemeinverständliche Chiffren, die das Gegenüber entziffern kann. Wir stellen eine Verbindung her, tauschen uns aus, kommunizieren und verständigen uns. Und zugleich sind wir damit einmalig, unverwechselbar, eindeutig und einzigartig. Wir werden sichtbar. Wir sind wir und niemand anders. Das ist unsere und nur unsere Handschrift. Der Neigungswinkel unserer Schrift ist der Neigungswinkel unseres Daseins. Wir können uns miteinander verständigen, bleiben aber dennoch individuell. Das ist eine schöne Mischung. Die perfekte Balance zwischen Autonomie und Verbindung.

Natürlich gab es auch in der Handschrift Moden. Ina und Kerstin, damals in der Schule, schrieben sehr ähnlich. Sie hatten die „Must have“-Mädchen-Handschrift: aufrecht, mit einem kleinen Seitenschlenker in den Mittelbögen. Aber wenn man genau hinschaute, dann konnte man selbst diese ähnlichen Handschriften unterscheiden. Auch wenn die Schriftprobe nur aus wenigen Worten auf einem winzigen Zettelchen bestand. Anonyme Briefe zu schreiben war damit unmöglich, in der Schule wie im echten Leben. Die Verfasser von Erpresserbriefen nahmen, um anonym zu bleiben, sicherheitshalber den Umweg über die gedruckte Schrift und schnitten aus Zeitungen unverfängliche Buchstaben aus. Auch die Dadaisten nutzten diese Technik und erteilten damit dem Künstler als individuellem Geniewesen eine Absage. Wo das Unpersönliche zur Absicht erklärt wird, hat Handschrift keinen Platz.

Eine besondere Aura haben Handschriften in den Archiven. Wenn wir den Abdruck des weichen Bleistifts auf weichem Papier sehen, mit den Augen fast fühlen können, erfüllt uns das mit Ehrfurcht, weil wir uns diesem Menschen nahe fühlen. Handschriftensäle haben deshalb ihre ganz eigene Atmosphäre, mit all diesen andächtigen Menschen, die mit Schutzhandschuhen durch Schriften blättern. Dichtende und Schreibende notieren ihre handschriftlichen Notizen gerne in Büchern, auf der Rückseite von Briefumschlägen und Zetteln, überall, wo sie Ideen haben. Orte und Momente der Inspiration werden so sichtbar und nachvollziehbar.

Auch das Prozesshafte der Textentstehung selbst ist in handschriftlichen Spuren sichtbar. Wenn man sieht, wie Paul Celan neben einem Gedicht von Henri Michaux, das er aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat, zuerst mit Bleistift „unübersetzbar“ ins Buch notierte, das Wort später durchstrich und „übersetzt!“ daneben schrieb, dann wohnt man dem Stolz des Dichters und Übersetzers bei. Die verschiedenen Phasen des Entstehungsprozesses auf einen Blick, das hat das Digitale nicht.

In meinem alten, handschriftlichen Adressbuch aus Papier konnte man, bevor es auseinanderfiel, den Lebensweg von Freunden und Freundinnen anhand der häufig durchgestrichenen und aktualisierten Adressen, Telefonnummern, Städte und Länder ablesen. Das waren die Metadaten der vordigitalen Zeit, wenn bei „W“ kein Platz mehr für andere war, weil Ulla Wingert so oft umgezogen ist. Digitale Adressbücher ersetzen das Alte ersatzlos durch das Neue. Das ist schön und schade zugleich. Schön, weil klar und strukturiert die aktuelle Information zur Verfügung steht. Schade, weil das andere fehlt.

Schreiben zu lernen ist das erste und zugleich langwierigste Unterfangen nach der Einschulung. Dass es so lange dauert, bis Kinder eine Schreibschrift flüssig beherrschen, hat seinen Grund. Mit der Hand zu schreiben ist eine feinmotorisch und neurophysiologisch sehr komplexe Angelegenheit. Auge, Hand, Verstand, alles muss zusammenwirken. Eine Schreibschrift zu erlernen eignet sich deshalb nicht zur Massenabfertigung. Das Schreibenlernen braucht Hinwendung und Hingabe. Es braucht Übung, Geduld und Frustrationstoleranz. Und es braucht eine so feine Abstimmung verschiedener Hirnareale, dass man eine Demenz offenbar nicht nur an Veränderungen der Handschrift erkennen kann, sondern auch damit dagegen antrainieren kann. Das Schreiben ist eine Meisterleistung des Gehirns.

Auch ich bin in der Grundschule mit Schönschrift gequält worden. Das Quälende daran war das Einhalten einer exakten Norm. Jeder individuelle Ausdruck wurde einem ausgetrieben. Sogar mit welcher Hand geschrieben werden sollte, war genormt: mit der rechten. Basta. Die Norm stand über jeder Individualität, über der Selbstwerdung. Aber wäre es nicht schön, die Handschrift, dieses Medium des Selbstausdrucks, das einen ein Leben lang begleitet, mit neuem Respekt wiederzuentdecken? Es ist doch schön, sich mit einem Medium auszudrücken, das schon in seiner Form zeigt: „Seht her. Ich bin es. Ich. Ich bin es, der hier schreibt.“ Erfreuen wir uns doch daran, wenn wir Handgeschriebenes auf Einkaufszetteln, Postkarten oder Bierdeckeln sehen.

Ich habe jedenfalls eine Handvoll aus der Zeit gefallene Tonkassetten wegen der Handschriften behalten. Wir brauchen – denke ich – mehr solcher Dinge, die individuelle Freiheit und Verbindlichkeit gegenüber der Allgemeinheit versöhnen können. Und auf jeden Fall sollten wir uns die Handschrift bewahren, damit wir uns im Altersheim noch Liebesbriefe schreiben können. ---

Sabria David, 56, hat in der Septemberausgabe 2009 uns und unseren Lesern erklärt, was es mit dem damals neuen Twitter auf sich hat – nun kehrt sie als Kolumnistin zurück. In der Zwischenzeit hat die Medienphilosophin das Slow Media Institut gegründet, das „Interaktionsmodell Digitaler Arbeitsschutz“ entwickelt und war von 2014 bis 2022 Mitglied im Präsidium von Wikimedia Deutschland.

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