Updates aus dem Rathaus, Teil XVI
„Vielleicht habe ich die Bürokratie unterschätzt“
Claus Ruhe Madsen ist der erste ausländische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt: der Hansestadt Rostock. Seit September 2019 ist der parteilose Däne offiziell im Amt. Zuvor war er Unternehmer, hat eine Möbelkette und eine Wohnmobilvermietung gegründet. Der Neuling im Politikbetrieb möchte Rostock innovativer und lebenswerter machen.
Im 16. Teil von „Updates aus dem Rathaus“ spricht Claus Ruhe Madsen über Anweisungen, die nicht ausgeführt werden, die schwierige Umsetzung der Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen – und fatale Büroklammern.
— Rostock, Januar 2022
brand eins: Herr Madsen, Anfang Januar haben die MV Werften in Rostock, Wismar und Stralsund mit ihren rund 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Insolvenz angemeldet. Die Werften sind einer der größten Arbeitgeber in Rostock. Das war bestimmt ein Schock?
Claus Ruhe Madsen: Ja, denn nahezu jeder Mensch in Rostock hat auf der Werft gearbeitet oder dort seine Ausbildung gemacht. Oder er hat ein Familienmitglied, das dort tätig ist.
Wie geht es denn jetzt weiter für die Beschäftigten?
Es sieht leider nicht gut aus. Voraussichtlich wird es noch eine Übergangsgesellschaft für zwei Monate geben. Und dann folgt die Arbeitslosigkeit.
Sie wollen das rund 700.000 Quadratmeter große Gelände der MV Werften in Warnemünde, einem Ortsteil der Stadt, kaufen. Warum?
Es ist wichtig, dass das Gelände, von dem die Zukunft der Stadt abhängt, nicht an irgendeinen Investor verkauft wird. Der Rostocker Hafen ist das wichtigste Industriegebiet in Mecklenburg-Vorpommern. Er sorgt für 40 Prozent der Wirtschaftskraft des Landes. Wenn es nach mir geht, sollen dort bald Offshore-Windkraft-Anlagen und Wasserstoff produziert werden. Außerdem soll dort Unterwasserforschung stattfinden.
Die SPD kritisiert, dass Sie bereits öffentlich über die Zukunft des Hafens sprechen – Sie hätten die Werftarbeiter aufgegeben.
Das Gegenteil ist richtig: Ich möchte den Werftarbeitern zeigen, dass ihr Bürgermeister sie nicht vergisst. Das mögen manche als vorschnell kritisieren, aber ich suche nach Lösungen, statt abzuwarten.
Die Partei Die Linke fragt, wo das Geld für den Kauf der Flächen herkommen soll, es stehe keine Gelddruckmaschine im Rathauskeller.
Wenn wir auf den Flächen Neues entwickeln wollen, ist nicht der Kaufpreis entscheidend, sondern das Konzept. Die Bundes- und die Landesregierung haben in den vergangenen Jahren Fördermittel in Höhe von drei Milliarden Euro an die Werften gezahlt. Es sollten also auch Mittel für Zukunftsinvestitionen da sein.
Der Hafen ist nicht das einzige Problem, vor dem Sie stehen. In wenigen Wochen tritt die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kliniken, Pflegeheimen, Arztpraxen oder Rettungsdiensten müssen ihren Arbeitgebern bis zum 15. März einen Nachweis über eine abgeschlossene Impfung vorlegen, einen Genesenen-Nachweis oder ein ärztliches Attest, dass sie nicht geimpft werden können.
Diese Maßnahme ist nicht zu Ende gedacht. Wir sind nicht in der Lage, sie umzusetzen. Soweit ich weiß, soll mein Gesundheitsamt in Einzelfällen abwägen, was zu tun ist, wenn Leute in Pflegediensten, Arztpraxen, Kliniken oder bei der Feuerwehr sich nicht daran halten. Ich halte es für unrealistisch, dass wir das durchsetzen können.
Haben Sie die Hoffnung aufgegeben?
Nein, wir versuchen noch so viele Menschen wie möglich vom Impfen zu überzeugen. Aber ein Problem bekommen wir wahrscheinlich bei unserer Berufsfeuerwehr.
Warum?
Weil rund 15 Prozent der Feuerwehrleute nicht geimpft sind und weitere 20 Prozent keine Auskunft über ihren Impfstatus geben. Wenn wir die Wortführer nicht überzeugen können, auf ihre Kolleginnen und Kollegen einzuwirken, müssen wir einen Teil der Truppe voraussichtlich nach Hause schicken. Ich weiß nicht, ob wir dann die Arbeit der Feuerwehr noch aufrechterhalten können.
Auch in Rostock gehen Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen – teilweise gewalttätig.
Dafür habe ich kein Verständnis, denn denen, die sich so aufführen, geht es gar nicht ums Impfen, die greifen unsere demokratische Ordnung an. Verständnis habe ich für Menschen, die nach zwei Jahren Pandemie zermürbt und verunsichert sind.
Was läuft Ihrer Meinung nach falsch?
Wenn man eine Impfpflicht kategorisch ausschließt, muss man meiner Überzeugung nach bei dieser Position bleiben. Das Hin und Her verunsichert die Leute. Und Maßnahmen, von denen wir nicht wissen, wie wir sie umsetzen sollen, sind auch nicht besonders sinnvoll. In Dänemark läuft das viel besser, dort setzt die Regierung auf die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger – und das funktioniert auch. Die Impfquote liegt dort aktuell bei 80 Prozent. In Deutschland bei etwa 71 Prozent.
Dänemark hat seit Wochen eine der höchsten Inzidenzen der Welt.
Und trotzdem gibt es dort keine Panik, weil die Zahl der Intensivbetreuungen kontinuierlich sinkt. Was auch damit zu tun hat, dass sich dort jeder jederzeit darüber informieren kann, wie hoch die Impfquoten in bestimmten Alters-, Berufsgruppen oder Stadtteilen ist – das schafft Vertrauen.
In Deutschland hat man eine andere Vorstellung von Datenschutz.
Bedauerlicherweise. Ich war vor wenigen Tagen im Rostocker Impfzentrum. Es ist beeindruckend, was dort geleistet wird, aber ich dachte, ich wäre bei einem Umzugsunternehmen, weil da so viele große Kartons mit Papier herumstanden. Wir müssen das Thema Datenschutz neu diskutieren. Sind unsere Daten sicher, wenn sie in Pappkartons lagern?
Was passiert mit den Kartons?
Ein Dienstleister holt sie ab und scannt die Unterlagen ein. Das Unternehmen ist aber unter anderem deshalb noch mit den Dokumenten der ersten Impfwelle beschäftigt, weil man mit dem Entfernen von Büroklammern zu tun hat – sonst können die Unterlagen nicht gescannt werden.
Sie wollen Rostock zur Modellstadt für digitale Behördengänge machen. Wie stehen die Chancen?
Ich habe vor wenigen Tagen mit Markus Richter, dem Beauftragten der Bundesregierung für Informationstechnik, gesprochen. Die Chancen stehen gut, dass wir die Möglichkeit erhalten, Dinge auszuprobieren, die nicht mit dem Bundesgesetz abgestimmt sind. Auch meine Landesregierung hat mir signalisiert, dass wir in Rostock eine neue Art Verwaltung ausprobieren können – smarter, mit Lösungen, die wir im laufenden Prozess weiterentwickeln, statt sie jahrelang zu planen. Wir haben uns mit dänischen Kommunen ausgetauscht, die da schon viel weiter sind, und mit Software-Lieferanten. Wir könnten sofort loslegen.
Womit zum Beispiel?
In Dänemark können Bürgerinnen und Bürger Dokumente wie Pässe oder Führerscheine online beantragen. Die Dokumente werden in den Ortsämtern ausgestellt und in Schließfächer gelegt, wo die Leute sie mit einem Zugangscode jederzeit abholen können – auch nachts. Das könnten wir sofort umsetzen. Ein anderes Beispiel: Gerade kommen wir mit dem Austausch der alten Papierführerscheine nicht hinterher, weil unsere Führerscheinstelle völlig überlastet ist. Warum gibt es die Fahrerlaubnis nicht einfach als App? Auch das würden wir ausprobieren.
Das ist ein beeindruckender Plan – ebenso wie der, Rostock zur Fahrradstadt zu machen. Allerdings ist seit 2018 kein zusätzlicher Kilometer Radweg entstanden.
Damit bin ich auch nicht zufrieden. Über dieses Thema wird bis zum Umfallen diskutiert, statt einfach mal zu machen. Vielleicht habe ich die Bürokratie unterschätzt.
Aber Sie sind doch der Chef der Stadtverwaltung. Könnten Sie nicht einfach sagen: Jetzt wird gebaut?
Das rufe ich jede Woche mindestens einmal – doch es finden einfach keine Neuplanungen statt. Im Mai werden wir immerhin eine unserer Hauptstraßen in der Innenstadt für ein Jahr zu einer Fahrradstraße machen. Das freut mich, aber eigentlich hätte ich erwartet, dass wir neben dieser Fahrradstraße noch zehn weitere erproben. Dann wüssten wir viel schneller, was funktioniert und was nicht. Vielleicht überfordere ich Teile meiner Verwaltung. Aber vielleicht haben wir einfach noch zu viel Angst, Fehler zu machen.
Wie meinen Sie das?
Bürgerbeteiligung läuft zum Beispiel häufig darauf hinaus, Projekte wie eben Fahrradstraßen zur Sicherheit nie zu verwirklichen. So kommen wir aber nicht voran.
Der Hauptdarsteller der britischen Politik-Serie „Roadkill“, Peter Laurence, sagt: „In der Politik gibt es keine Siege, man vermeidet nur Niederlagen.“ Sehen Sie das nach zwei Jahren im Amt auch so?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Chance, Rostock zu gestalten – und möchte das auch. Ich bin permanent ungeduldig mit allen Dingen. Das ist vielleicht nicht immer gesund, hilft aber bei einem Wandlungsprozess wie diesem.
Claus Ruhe Madsen (gesprochen: Mäsn), 49,
gewann im Juni 2019 die Wahl zum Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock. Seit September ist der parteilose Däne, der während des Wahlkampfes von der CDU und der FDP unterstützt wurde, offiziell im Amt. Seit November 2019 begleitet ihn brand eins für die Online-Rubrik „Updates aus dem Rathaus“.
— Der nächste Teil der Serie erscheint im Mai 2022. Alle bisherigen Teile finden Sie hier: „Updates aus dem Rathaus“