Indien – Treiber der Transformation

Cyriac Abby Philips, ein renommierter Arzt und Leberspezialist aus Kerala, wurde zum Social-Media-Star, weil er medizinische Fehlinformationen bekämpft. Ihm steht eine riesige Industrie entgegen, die auf Quacksalberei und Pseudowissenschaft baut – und mächtige Verbündete in Gesellschaft und Politik hat. 





• Wer in Kerala auf der Suche nach einer Apotheke ist, steht vielerorts vor der Wahl: Es gibt „Englische Apotheken“ und „Indische Apotheken“. In ersterer findet man Medikamente, die von Wissenschaftlern entwickelt und deren Wirksamkeit getestet wurden. In letzteren bekommt man selbstgemischte Tinkturen und von Alters her überlieferte Mittelchen, die kaum reguliert sind.

Dieses duale Apothekensystem wäre eine Kuriosität, wenn sie nicht auf ein größeres Problem hinweisen würden: Besonders in den ländlichen Gebieten Indiens verlieren Menschen ihre Gesundheit und viel Geld an Scharlatane, weil sie keine ausreichende Gesundheitsversorgung finden. Über 75 Prozent der indischen Gesundheits-Infrastruktur konzentriert sich in den Großstädten, wo nur 27 Prozent der Bevölkerung leben. Die restlichen 73 Prozent der indischen Bevölkerung haben keine grundlegende medizinische Versorgung. Viele von Ihnen behelfen sich mit der Konsultation von Heilern und frei verkäuflichen Mittelchen, die ihnen Linderung versprechen. Die dahinterstehende Industrie der alternativen Medizin boomt, wird mit Millionen von der Regierung gefördert und sogar mit einem Ministerium geadelt. Und das in einem Land, das das Streben nach einem „wissenschaftlichen Geist“ als Ziel in der Verfassung festgeschrieben hat. Wie viele Menschen zwischen Mangel und Desinformationen zerrieben werden, darüber lässt sich bisher nur spekulieren.

Cyriac abby philips illustration rachita vora brandeins
Illustration: Rachita Vora

Einer, der sich diesem Problem angenommen hat, ist Dr. Cyriac Abby Philips, Gastroenterologe aus Kerala. Tagsüber behandelt er als Leberspezialist Patienten an einem Klinikum in der Hafenstadt Kochi, nachts sitzt er an seinem Schreibtisch, in einem Apartment mit Blick über die Stadt und kämpft gegen den Irrsinn im Internet. Ein bisschen wie Batman, aber mit Studien und per-review-Prozessen. Auf Twitter, Youtube und Co ist Philips als „TheLiverDoc“ bekannt, hat Hunderttausende Follower, ein stetig wachsendes Publikum – und mächtige Feinde, die ihn bedrohen, seine Studien sabotieren, ihn verklagen und seine Veröffentlichungen verhindern wollen. Dabei, so sagt Philips, schreibe er ja nichts anderes, als den Stand der Forschung.

Angefangen hat alles 2017: Philips begegnete bei seiner Arbeit immer wieder Patienten, die ohne erkennbaren Grund Gelbsucht und Hepatitis entwickelt hatten. Übliche Auslöser wie Alkoholmissbrauch, kontaminiertes Wasser oder Reaktionen auf Medikamente konnte er ausschließen. Dann fiel ihm auf, dass viele seiner Patienten pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel einnahmen, meist ayurvedische Mittelchen, die das Immunsystem stärken, gegen Diabetes und Bluthochdruck helfen sollen. Die Lebererkrankungen korrelierten zeitlich oft mit der Einnahme der ayurvedischen Produkte. „Ich suchte in der Literatur nach Studien, fand aber wenig, vor allem keine Daten aus Indien“, sagt Philips. Also startete er gemeinsam mit Kollegen 2018 eine Studie, und fand bei 94 von 1440 untersuchten Patienten einen Zusammenhang zwischen schweren Leberschäden und der Einnahme von ayurvedischen Medikamenten. Bei 33 Studienteilnehmern konnten die Leberschäden durch ein akribisches Ausschlussverfahren eindeutig auf die traditionelle Medizin zurückgeführt werden – durch die hochkonzentrierten Pflanzen-Tinkturen hatten die Patienten sehr viel Schwermetalle wie Arsen und Quecksilber aufgenommen. 20 Prozent von ihnen starben schließlich an den von den Kräuter-Präparaten herbeigeführten Schäden. „Ich war selbst überrascht von der Drastik der Ergebnisse“, sagt Philips.

Dass manche pflanzliche Wirkstoffe schwere Leberschäden auslösen, ist unter Gastorentrologen kein Geheimnis: Alleine Nahrungsergänzungsmittel mit hochkonzentriertem Kurkuma wurden 2020 in Italien sieben Fälle von schwerer Gelbsucht angelastet, in den USA löste das Wurzelextrakt 2022 bei 10 Patienten ebenfalls eine Hepatitis aus, ein Patient verstarb sogar. Die Pflanze ist als Gewürz im Curry oder Tee vollkommen harmlos. Wird die Aufnahmefähigkeit des Wirkstoff allerdings künstlich erhöht, kann das zu Leberschäden führen – nur ein Beispiel für eine Reihe von Problemen, die Mediziner weltweit mit unzureichend getesteten, vermeintlich harmlosen pflanzlichen Mitteln umtreibt. 

Für seine erste Studie bekommt Philips unter Kollegen viel Anerkennung, publizierte in angesehenen Journalen in Indien und den USA, gewann den „National Paper of the Year Award 2018“ der indischen Gesellschaft für Gastroenterologie. Aber er wollte mit seinen Ergebnissen nicht nur andere Mediziner erreichen, sondern auch seine Patienten – und jene, die es nicht werden sollten. „Darum habe ich angefangen, meine Ergebnisse in einer vereinfachten Form in die Öffentlichkeit zu tragen“, sagt Philips. Er beginnt, auf Facebook und WhatsApp über die Probleme mit traditionellen Heilmitteln zu schreiben – und trifft einen Nerv.

Tausendfach werden seine Beiträge weitergeleitet, die meisten Menschen sind entrüstet über die wissenschaftliche Abwertung der traditionellen Medizin. Philips bekommt Abmahnungen und Hassbriefe, die sich vor allem darauf beziehen, dass er einen christlichen Namen trägt und darum der „Hinduphobie“ bezichtigt wird.

Wenige Wochen darauf bekommt er eine Einladung aus dem AYUSH-Ministerium, das für Bildung und Recherche in Bezug auf Ayurveda, Yoga und andere traditionelle Naturheilkunden zuständig ist. Das Ministerium arbeitet seit November 2014 parallel zum Ministerium für Gesundheit und hat einen Haushalt von aktuell rund 400 Millionen Euro, mit dem es neben Forschung und Aufklärung über alternative Heilmethoden auch Gesundheitsprogramme fördert, besonders in ländlichen Regionen. Die Wiederbelebung des Ayurveda ist eines der Aushängeschilder der hindunationalistischen Regierung unter Narendra Modi. Das Ministerium machte unter anderem 2017 Schlagzeilen, als es ohne wissenschaftliche Grundlage schwangere Frauen dazu aufrief, auf Eier, Fleisch und „Wollust“ zu verzichten. 

Nachdem seine Kritik an Ayurveda-Praktiken bekannt wurde, habe ihn das AYUSH-Ministerium zum Gespräch gebeten, sagt Philips, aber nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Konsultation anderer Gesundheits-Experten. „Es war klar, dass es ihnen nicht um Aufklärung und die öffentliche Gesundheit geht, sondern darum, schlechte Publicity von der Industrie abzuwenden.“ 

Philips schlägt die Einladung aus. Und stößt stattdessen weitere Studien an, die die Wirkung von ayurvedischen Kräutern bei Patienten mit schwerer Lebererkrankung untersucht und die verheerende Wirkung bei Patienten mit chronischen Lebererkrankungen nachweist. Außerdem publiziert er über Einzelfälle von jungen, gesunden Menschen, die durch die Einnahme von ayurvedischen Diätpillen starben und Kindern, deren Lebern unwiederbringlich geschädigt wurden.

Unterstützung erfährt Philips online von Menschen, die ihre Gesundheit schützen wollen. In Indien, wo das staatliche Gesundheitssystem chronisch überlastet ist und immer wieder Fälle von verunreinigten oder unwirksamen Medikamenten die Patienten verunsichern , sind die Warnungen des Leberspezialisten zwar weitere schlechte Nachrichten – aber welche, die mit Quellen belegt sind. Philips schreibt für Nicht-Mediziner leicht verständlich, aber auch provokant und ohne Rücksicht auf religiöse Gefühle: Über die Wirkungslosigkeit von Kurkuma (das vom AYUSH-Ministerium zur Kurierung von Covid 19 empfohlen wurde ), von Homöopathie (deren Einfluss so weit reicht, dass entsprechende Tinkturen zur Hochzeit der Pandemie an Schulkinder in Kerala verteilt wurde), von Kuh-Urin-Kuren (die das AYUSH-Minister als Basis für Krebsmedikamente preist).

Ab 2019 publiziert der Liverdoc auch auf Twitter, 230.000 Menschen erreicht er dort, auf Youtube hat er 25.000 Abonnenten, die ihm regelmäßig zuhören. Seine Studienergebnisse und öffentliche Stellungnahmen werden zunehmend auch in lokalen Zeitungen und Fernsehsendern aufgegriffen und erreichen Menschen außerhalb der digitalen Sphäre. Sein Publikum wächst immer weiter – und so auch die Zahl seiner Gegner. Philips wissenschaftliche Artikel werden auf Druck von Tinktur-Produzenten depubliziert, ein für ihn arbeitendes Labor von einem Mob heimgesucht, große Unternehmen wie Himalaya Wellness Corporation verklagen den Arzt wegen Diffamierung auf rund eine Millionen Euro Schadensersatz und lassen kurzzeitig seinen Twitter-Account sperren. Im Februar 2022 wurde er vom AYUSH-Ministerium wegen seiner Kritik an der medizinischen Verwendung von Kurkuma abgemahnt und von der Ärztekammer des Staates Kerala zur Zurückhaltung aufgefordert. Philips Forschung bedroht eine mächtige Industrie: Der Jahresumsatz der ayurvedischen Medizin-Produktion in Indien stieg von drei Milliarden Dollar im Jahr 2014 auf 18,2 Milliarden Dollar im Jahr 2022 an, verkündete 2022 das AYUSH-Ministerium.

Am Tag nach dem Interview für diesen Artikel erhält Cyriac Abby Philips und seine Familie Morddrohungen, weil ein Yoga Guru (und Ayurveda-Geschäftsmann) Philips Aufklärung als antinational und antireligiös diffamiert und seine Gefolgschaft zum Gegenschlag aufruft.

„Mir wurde schon oft gesagt: Geh’ doch nach Pakistan, wenn es dir hier nicht passt. Ich sage dann immer, dass sie dort auch alles mit Kurkuma behandeln“, sagt Philips. Er begegnet dem Druck mit Sarkasmus. Über die Bedrohung, der er sich selbst und seine Familie aussetzt, will er nicht nachdenken, sagt er. „Ich empfange jeden Tag in der Klinik Patienten. Wenn einer ein Messer mitbringt, was kann ich dagegen tun?“ In einem Land wie Indien, in dem in den letzten Jahren Sozialreformer wie Narendra Dabholkar und Journalistinnen wie Gauri Lankesh für ihren Einsatz gegen Aberglaube und für wissenschaftsbasierten Fortschritt auf offener Straße erschossen wurden, changiert Philips Beharrlichkeit zwischen Naivität und Todesmut.

Es klingt nach einer Heldengeschichte, aber Philips will kein Held sein. „Es macht mich traurig, dass es heute schon als mutig gilt, seine Forschung in die Öffentlichkeit zu tragen“, sagt Philips. Er wolle ein guter Arzt sein in einem Land, dass die Wissenschaft und seine Wissenschaftler würdigt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Vorstellung verfolgt er, sie hält ihn Nacht für Nacht wach, lässt ihn die zahllosen Social-Media-Posts, Videos, Podcasts produzieren, in denen er seine Arbeit darlegt und sie gegen wissenschaftsfeindliche Trolle verteidigt. Und diese Vision ist so stark, dass er sein Engagement nun trotz des Widerstands weiter ausweitet, statt sich zurückzuziehen.

Durch Zufall erfährt Philips 2022 von seiner Haushaltshilfe, dass sie rund vier Monate lang Medikamente gegen Diabetes und Bluthochdruck genommen hatte, ohne dass sich eine Besserung einstellte. Aus Neugier ließ er die Generika, die in einer zertifizierten Apotheke verkauft wurden, testen und konnte nachweisen, dass eines von vier Medikamenten von sehr schlechter Qualität waren. „Nach dieser Stichprobe begann ich mich zu fragen, wie viel unwirksame Medikamente da draußen zirkulieren“, sagt Philips. 

Gemeinsam mit rund 40 Biomedizinern, Mathematikern, Forschern, Juristen und Ärzten gründete er daraufhin ein neues Netzwerk, die „Mission für Ethik und Wissenschaft im Gesundheitswesen“. Ihr Ziel: Sie wollen Studien durchführen, bei der sie die Öffentlichkeit um Geldspenden bitten, um eine 72 weit verbreitete Generika auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen können: Unter anderem Fieber- und Diabetesmedikamente, Mittel gegen Bluthochdruck und zu hohen Cholesterinspiegel. Rund 30.000 Euro muss das Netzwerk sammeln, um diese Tests durchführen zu lassen und die Ergebnisse zu veröffentlichen. 

Wenn das gelingt, wäre es eine in Indien bisher einzigartige Initiative. Mangelhafte Medikamentenqualität ist in Indien seit Jahrzehnten ein Problem, immer wieder kommt es zu Skandalen wie 2022 und 2023, als hunderte Kinder in Gambia, Usbekistan und Kamerun an einem verunreinigten Hustensaft starben. Experten fordern daher schon lange unabhängige Prüfung in der Medikamenten-Herstellung, deren Ergebnisse veröffentlicht werden sollten. Die Medikamententests, die die „Mission für Ethik und Wissenschaft im Gesundheitswesen“ anstrebt, wären auf dem Weg dahin ein erster Schritt. Bisher wurde das Netzwerk als gemeinnützige Gesellschaft registriert, im Juni 2024 soll das Projekt starten und eine öffentliche Debatte über Medikamentenqualität auch abseits der Naturheilkunde anstoßen.

Die Probleme des indischen Gesundheitssystems – die Ungleichheit im Zugang zu Medizin und Behandlungen, den wachsenden Einfluss von wissenschaftsfernen Heilern und Wellness-Unternehmen – können Philips und seine Mitstreiter nicht lösen. Ihr Anliegen ist es, in einem ideologisch aufgeheizten öffentlichen Diskurs die Fahne der Rationalität hochzuhalten. Was Philips dabei antreibt? „Gestern kam ein Mann in meine Praxis, der über meine Arbeit auf Facebook gelesen hatte“, sagt er. Der Mann sei aus dem Landesinneren angereist, habe viele hundert Kilometer zurückgelegt, um seine Lebererkrankung nicht von Heilern, sondern vom „LiverDoc“ behandelt zu lassen. Nun könne er ihm helfen, sagt Philip. Patienten wie dieser zeigten ihm, dass seine Engagement trotz aller Widerstände Früchte trage. „Wir können die Desinformationen zurückdrängen, indem wir konsequent dagegen anreden.“--

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Zur Serie: Indien – Land im Aufbruch

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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