Indien - Treiber der Transformation

Wer mit wem zusammen sein darf, das hängt in Indien bis heute stark von der Kaste und Religion ab. Paare, die diese Grenzen überschreiten, bekommen oft die ganze Härte der Gesellschaft zu spüren. Der Verein Dhanak of Humanity hilft ihnen – und unterstützt sie dabei, sich ein Leben abseits der indischen Norm aufzubauen.





• Die Widersprüchlichkeit Indiens ist oft schwer zu begreifen: Man kann in der Hauptstadt am selben Tag ein LGBTQI-Festival besuchen, bei dem Hunderte Trans-Personen und Homosexuelle lautstark ihr Recht auf Heirat einfordern, und mit einem verängstigten heterosexuellen Liebespaar sprechen, das wegen seiner Beziehung über religiöse Grenzen hinweg Todesdrohungen erhält und untertauchen musste. Während in Hochglanz-Magazinen die bekannteste interreligiöse Familie des Landes – Bollywood-Stars Shah Rukh (Muslim) und seine Frau Gauri Khan (Hindu) – gefeiert werden, sind die Tageszeitungen voll von Meldungen über Paare, die von ihren Familien oder von vermeintlichen Sittenwächtern zusammengeschlagen und getötet werden, nur weil sie nicht der gleichen Kaste oder Religion angehören:

Januar 2024: Sechs Männer stürmen ein Hotelzimmer, verprügeln ein interreligiöses Paar und filmen ihre Tat.

Oktober 2023: Ein Vater zwingt seine 14-jährige Tochter, Pestizide zu trinken, weil ihr Freund einer anderen Religion angehört. Das Mädchen stirbt.

Juni 2023: Zwei Schwestern nehmen sich das Leben, weil ihre Eltern ihre interreligiösen Beziehungen nicht akzeptieren.

Juni 2023: Vater, Bruder und Onkel erdrosseln ein Mädchen, weil sie sich außerhalb ihrer Kaste verliebt hat.

Bis heute gilt in weiten Teilen Indiens: Nur eine kleine Elite kann es sich leisten, mit den jahrhundertealten Traditionen zu brechen. Für die absolute Mehrheit des Landes sind die Kategorien „Kaste“und „Religion“ so unüberwindlich wie eh. Und: In einer Umfrage der indischen Lok Foundation in Zusammenarbeit mit der Oxford University gaben noch vor sechs Jahren 93 Prozent der verheirateten Menschen in indischen Städten an, dass ihre Familie ihren Partner ausgesucht hat.  Das US-amerikanische Pew Research Center ermittelte 2020, dass 99 Prozent der Inderinnen und Inder mit Menschen des gleichen Glaubens verheiratet sind  und 95 Prozent der Hindus nur innerhalb ihrer Kaste heiraten.

Auch in anderen Ländern spielen sozialer Status und Herkunft eine große Rolle bei der Partnerwahl: Man bleibt weltweit gerne unter sich. Allerdings sind die Möglichkeiten des Aufstiegs etwa in Europa besser und die Abschottung der religiösen Gruppen voneinander weniger rigide. In Indien kommen noch sehr angespannte Verhältnisse zwischen der hinduistischen Mehrheit und den kleineren Religionsgemeinschaften erschwerend hinzu. In zitierter Pew-Umfrage gaben fast zwei Drittel der Hindus an, dass nur Hindus wirklich indisch seien – eine Haltung, die von der rechtskonservativen Regierungspartei befeuert wird. 

In diesem gesellschaftlichen Klima leben Menschen, die sich außerhalb ihrer sozialen Gruppe verlieben, gefährlich. Diejenigen, die gegen die rigiden Regeln aufbegehren und außerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten wollen, brauchen also Hilfe. Etwa von Asif Iqbal.

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Illustration: Rachita Vora

Wer ihn treffen möchte, muss in den Osten Neu-Dehlis fahren. In einem verwinkelten Viertel jenseits des Flusses Yamuna, das Einheimische schon nicht mehr zur Stadt zählen, lädt er in das Büro des Vereins Dhanak of Humanity zum Interview ein. „In unserer Gesellschaft ist es traditionell Aufgabe der Eltern, einen Partner für die Kinder auszusuchen“, sagt Iqbal. „Die Paare, die zu uns kommen, haben mit dieser Tradition gebrochen – aber trotzdem ist es schwer für sie, ohne den Segen ihrer Eltern zu leben. Mit einem Mal haben diese jungen Menschen keine Unterstützung mehr, im schlimmsten Fall müssen sie diejenigen, die ihnen am nächsten stehen, sogar fürchten. In dieser Notsituation melden sie sich bei uns.“ 

Den Verein Dhanak of Humanity gibt es seit fast zwanzig Jahren. Seit der Gründung 2004 beraten Asif Iqbal und sein derzeit fünfköpfiges Team Verliebte in Not: unterstützen sie dabei, ihre standesamtliche Heirat anzumelden, beraten sie im Umgang mit ihren Familien und bringen sie bei akuter Bedrohung in einer von der Polizei geschützten Unterkunft unter, einem staatlichen Safehouse. Eigentlich sollte es davon nach einer Direktive des Obersten Gerichtshofs seit 2018 pro Bezirk mindestens eines geben. Tatsächlich gibt es bis heute nur in 3 von 28 Bundesstaaten solche Einrichtungen. Das Safehouse in Delhi bietet Platz für gerade mal zehn Paare. Ein Paar, das auf einen dieser raren Plätze wartete, schlief im letzten Jahr monatelang im Büro von Dhanak of Humanity – der junge Mann (aus einer streng religiösen Hindu-Familie) war von seinen Geschwistern entführt worden, bevor ihm und seiner muslimischen Freundin mit Unterstützung von Iqbal und dessen Team die Flucht nach Delhi gelang. 

Während des Interviews klingelt immer wieder das Telefon, Iqbal verspricht den Anrufern mit ruhiger Stimme, zurückzurufen. Jeden Monat melden sich bis zu 60 Paare, doch nur etwa 40 begleitet das Team pro Jahr durch die Krise, bis zur Heirat und darüber hinaus. „Es braucht Vertrauen, um mit uns zusammenzuarbeiten“, sagt Iqbal, viele Paare hätten am Ende doch zu viel Angst vor den Konsequenzen ihrer Entscheidung.

Mehr als 5.000 Paaren hat der Verein nach eigenen Angaben seit 2004 geholfen. Die Mittel, umgerechnet rund 30.000 Euro im Jahr, stammen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. „Jeder Mensch soll frei wählen können, mit wem er sein Leben verbringt – das ist unsere Überzeugung, das treibt uns an“, sagt Iqbal. Außer ihm haben sich noch weitere Mitarbeiter im Besprechungsraum versammelt, sie sitzen auf Stühlen oder Sitzkissen auf dem Boden. Alle hier wissen, was ihre Klientinnen und Klienten durchmachen, denn fast alle in diesem Büro sind Survivors –Überlebende einer Gesellschaft, die sie verstoßen hat, weil sie es gewagt haben, ihre Partner selbst zu wählen. „Wir alle kennen den Schmerz und die Ausgrenzung, die diese Entscheidung mit sich bringen kann“, sagt Iqbal.

Er selbst lernte seine Frau Ranu Kulshrestha während des Studiums kennen, beide studierten Soziale Arbeit. Er stammt aus einer muslimischen, sie aus einer hinduistischen Familie, ihre Eltern waren strikt gegen die Verbindung. „Wir haben jahrelang versucht, sie davon zu überzeugen, dass wir zusammenbleiben wollen. Als das nicht funktioniert hat, haben wir schließlich gegen ihren Willen geheiratet“, erzählt er. Bittere Vorwürfe und Kontaktabbruch waren die Folge. Mittlerweile ist das Ehepaar seit 24 Jahren zusammen und Iqbals greise Eltern lieben die Schwiegertochter sowie die Enkel – halten die interreligiöse Ehe ihres Sohnes aber bis heute für „die größte Sünde“. Nach all den Jahren kann Iqbal über ihre Sturheit lachen und seine Erfahrung nutzen, um den hilfesuchenden Paaren Hoffnung zu geben. „Jede dieser Liebesgeschichten stellt das System infrage. Darum werden sie so harsch bekämpft. Und darum liegt in jeder dieser Ehen auch so viel Kraft für Veränderung.“

Derzeit stehen die Zeichen allerdings eher auf Rückschritt: Seit 2017 kursiert in Indien unter dem Namen Love Jihad eine Verschwörungserzählung, die interreligiöse Ehen zwischen Hindus und Muslimen als groß angelegte Strategie der Umvolkung diffamiert. Dieser perfiden Propaganda zufolge heiraten (vor allem männliche) Muslime gezielt (vor allem weibliche) Hindus, um damit die hinduistische Mehrheitsgesellschaft zu unterwandern. Indische Ermittlungsbehörden bestätigen, dass es keinerlei Beweise dafür. Dennoch hat der Verschwörungsmythos es bis in den politischen Mainstream geschafft: 2020 warnte etwas die Vorsitzende der staatlichen Nationalen Kommission für Frauen öffentlich vor dem Love Jihad als „tickende Zeitbombe“. Und 2021 haben zahlreiche hindu-nationalistisch regierte Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die Konversionen, also Übertritte zu einem anderen Glauben erschweren.

Das hat weitreichende Folgen. Paare, die in Indien unkompliziert nach religiösen Riten heiraten wollen, müssen den gleichen Glauben haben – oder vor der Heirat konvertieren. In Bundesstaaten wie Uttar Pradesh und Madhya Pradesh müssen solche Glaubensübertritte den Behörden nun vorab gemeldet werden und die Konvertiten beweisen, dass ihr Entscheidung aus freien Stücken geschieht. Die Kriterien dafür sind mehr als vage und lassen großen Spielraum bei der Beurteilung durch die Beamten. Misslingt der Beweis, drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Laut unabhängigen Untersuchungen wurden die meisten diesbezüglichen Strafanzeigen von konservativen politischen Gruppen gestellt.

Paare, die das umgehen und unabhängig von der Religion standesamtlich heiraten wollen, sind kaum besser dran: Sie müssen dem sogenannten Special Mariage Act zufolge die Heirat einen Monat im Voraus anmelden. Ihre Namen – von denen sich die Religionszugehörigkeit meist ableiten lässt – und Anschriften werden dabei von den Behörden veröffentlicht. Konservative politische Gruppen durchsuchen diese Daten mittlerweile systematisch, um anschließend die Familien der Paare teils gewaltsam unter Druck zu setzen.

Vor diesen Extremisten müssen auch die Liebes-Berater von Dhanak auf der Hut sein. Um dem Vorwurf der Kuppelei zu entkräften, müssen die Liebenden vor der Beratung eidesstattlich erklären, dass sie freiwillig zusammen sind. Damit im Nachhinein keiner einen Love Jihad konstruiert. „Die Paare müssen von Anfang an mit der Polizei zusammenarbeiten – nur so können wir sichergehen, dass unsere Organisation später nicht angeklagt wird, wenn der Junge oder das Mädchen einen Rückzieher macht“, sagt Iqbal. An früheren Standorten gab es schon gewalttätige Proteste von aufgebrachten Eltern, die Adresse des Büros und des Safehouses sind darum geheim.

Iqbal umschreibt die politische Entwicklung vorsichtig, diplomatisch: „Die neuen Gesetzesänderungen, die den Glaubensübertritt erschweren, haben die Diskussionen über die komplizierte Verbindung von Religion, Ehe und persönlicher Autonomie intensiviert.“ Die Folge sei, dass mittlerweile oft selbst Freunde der Paare zögerten, als Trauzeugen aufzutreten. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen. „Offene Konfrontationen sind zwar selten, aber in den vergangenen Jahren sind Fälle bekannt geworden, in denen Eltern mit der Polizei zusammenarbeiteten und Drohungen aussprachen.“

Was sie dem wachsenden Druck entgegensetzen? Wichtig sei ihr Netzwerk, erzählen die Mitarbeiter von Dhanak, dieser Zusammenschluss von ausgestoßenen Paaren: Sie springen füreinander als Trauzeugen ein. Sie helfen einander, die schlimmen Wochen und Monate der Einsamkeit zu überbrücken. Sie kennen die Beziehungsprobleme, die entstehen können, wenn man sein ganzes Leben für den anderen aufgegeben hat. Aus vielen Unterstützern sind enge Freunde geworden – ein Kreis von Menschen, die am Fundament der Ausgrenzung rütteln. --

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Zur Serie: Indien – Land im Aufbruch

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Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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