Große Fragen

1. Wie sieht das Unternehmen der Zukunft aus?
2. Kann man Kriminalität abschaffen?
3. Brauchen wir eine Weltregierung?
4. Können wir ewig leben?

Hier einige Antworten.





Wie ist es organisiert? Und wie agiert es? Wir haben einen Blick in die Studien von Trendforschern und Beratern geworfen. Das sind ihre Idealvorstellungen:

Text: David Selbach

Künftig bestimmen wir alle, welche Produkte und Dienstleistungen entstehen. Je nachdem, was wir zum Leben und Arbeiten brauchen. Weil die Entwicklerinnen und Entwickler bei der Umsetzung der Projekte Zeit und Kosten sparen wollen, schaffen sie Prototypen, die zwar schon funktionieren, aber noch nicht ganz ausgereift sind. Die ersten Kunden von uns testen sie und geben den Entwicklern Feedback. Die verbessern die Produkte laufend.

(Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), Accenture)

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Unternehmen haben jederzeit den vollen Überblick über ihre Lieferketten. Sie wissen, wo auf der Welt sich Rohstofflieferungen oder bestellte Bauteile gerade befinden. In Containern können sie Werte wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Luftdruck in Echtzeit prüfen. Ihnen ist auch bekannt, von wo genau ihre Waren stammen. Möglich ist das, weil diese mit Sensoren ausgestattet sind, die durch selbstlernende Systeme vernetzt sind. Mithilfe der Blockchain-Technik werden die Informationen über die Produkte fälschungssicher in dezentralen Datenbanken gespeichert. So können die Firmen beispielsweise beweisen, dass sie umweltschonend arbeiten. Dank all der Informationen, die ohne Verzögerung übermittelt werden, können sie jederzeit in Lieferketten eingreifen – etwa wenn sich das Bestellte verspätet. Falls die IT nicht schon selbstständig umdisponiert hat.

(Deloitte, Gartner, Oliver Wyman)

In Zukunft werden wir mit Industrierobotern zusammenarbeiten – oder sogar mit ihnen verschmelzen. Zum Beispiel durch Exoskelette (siehe auch brand eins 08/2021: „Zwei Elefanten pro Schicht“), die am Körper getragen werden. Diese verleihen uns große Kräfte und lassen uns mühelos schwere Lasten heben und über Kopf arbeiten. Das Fachwort für die Zusammenarbeit von smarter Technik und Menschen: lautet Human-Digitale-Teams. Außerdem hat sich die „additive Fertigung“ durchgesetzt: Industrielle 3D-Drucker stellen Einzelstücke und Kleinserien her.

(Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme, 2bAhead, Hewlett-Packard)

Für Werbezwecke auf Internetplattformen beauftragen Firmen sogenannte „Micro-Influencer“ – Konsumentinnen und Konsumenten mit etwas mehr Followern als der Durchschnitt. Diese leiten ihre Fans dann direkt zu den Shops weiter, für die sie werben. Es ist längst Standard, vor allem online einzukaufen. Um Geschäftskunden im Netz zu gewinnen, setzen Firmen auf ein ähnliches Vorgehen, nur dass die Markenbotschafter „Corporate Influencer“ heißen. Für Beschäftigte ist es normal, Social-Media- Werbung für den Arbeitgeber zu machen. In den sozialen Medien gibt es keine Grenzen mehr zwischen Werbung und emotionalen Geschichten.

(YouGov, Roland Berger, Fink & Fuchs)

Die Logistik ist digitalisiert worden und funktioniert teilweise autonom. Unterirdische Röhrensysteme (siehe brand eins 01/2021: „Die neue Rohrpost“) untertunneln Straßen, in ihnen transportieren unbemannte, elektrisch angetriebene Lastzüge Waren von außerhalb gelegenen Sammelstellen in die Ballungszentren. Die letzte Meile zum Kunden übernehmen autonome Liefer- und Transportdrohnen – kleine Roboter, die selbstständig durch die Straßen rollen oder fliegen.

(MHP, Bundesvereinigung Logistik, Gartner)

Eine klassische Verwaltung haben kaum noch Unternehmen. Standardaufgaben wie Buchhaltung erledigt die IT automatisch. Komplexere Aufgaben übernehmen Teams eigenständig – in verschiedenen Ländern, meist von zu Hause aus. Die Geschäftsführung sorgt für ein Umfeld, das ein möglichst reibungsloses Arbeiten ermöglicht. In der Firma trifft man sich häufig nur noch für Teambuilding-Maßnahmen oder zum Brainstormen. Viele Menschen arbeiten inzwischen in den neuen Co-Working-Spaces auf dem Land.

(Metaplan, Robert Half, eurac, Bertelsmann-Stiftung)

Nein, sagt Gina Rosa Wollinger, Kriminologin und Soziologin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW. Und findet das auch nicht wünschenswert.

Interview: Celine Schäfer

brand eins: Wirtschaftskriminalität, sexuelle Gewalt, politischer Extremismus – versinken wir im Verbrechen, Frau Wollinger?

Gina Wollinger: Für Deutschland lässt sich ganz klar sagen: Dieser Schein trügt. Die Kriminalitätsraten sinken seit Jahren. Dazu hat auch die Pandemie beigetragen – es gibt beispielsweise weniger Diebstahlsdelikte wie Wohnungseinbrüche. Aber auch Gewalttaten, vor denen sich ja die meisten Menschen fürchten, haben stark abgenommen.

Wie kommt es, dass viele einen ganz anderen Eindruck haben?

Zum einen gibt es nach wie vor schlimme Gewalttaten, über die Medien meist ausführlich berichten. Zum anderen ist die deutsche Gesellschaft sehr sensibel für das Thema geworden. Schon vor 20 Jahren wurde beispielsweise das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft: Eltern dürfen ihre Kinder nicht mehr schlagen. Wir sprechen mittlerweile auch viel über psychische Gewalt wie Mobbing. So etwas wurde früher öffentlich nicht thematisiert.

Beseitigen wir Kriminalität, indem wir mehr über sie reden?

Zumindest hat der Gesetzgeber neue Straftatbestände geschaffen. Als aktuelles Beispiel könnte man die Einführung des Paragrafen 184i Strafgesetzbuch nennen, also die Reform des Sexualstrafrechts, mit der auch sexuelle Belästigung strafbar wurde. Der Anstieg der Sexualstraftaten ist vor allem auf diese Neuerung zurückzuführen. Auch in Bezug auf sexualisierte Gewalt an Kindern gibt es den politischen Willen, mehr Taten aufzudecken. So kommen etliche ans Licht, was den Eindruck erweckt, dass die Fälle zunehmen. Aber es gibt natürlich auch Bereiche, in denen die Kriminalität wirklich gestiegen ist – zum Beispiel Cyberkriminalität. Aber im Grundsatz sind die Entwicklungen hierzulande sehr positiv.

Wäre eine Gesellschaft ganz ohne Kriminalität möglich?

Das bleibt utopisch. Wir können sicherlich die Zahl der Delikte weiter senken, zum Beispiel durch Präventionsangebote und Aufklärung. Aber ganz abschaffen werden wir die Kriminalität wohl nie. Warum ein Mensch kriminell wird, hängt schließlich zu einem großen Teil von dessen persönlicher Situation ab: Mit wem verbringt er seine Zeit? Welche Schicksalsschläge ereilen ihn? Mit welchen Problemen muss er umgehen? Der Staat kann zwar versuchen zu verhindern, dass sich jemand kriminalisiert, aber er kann nicht dessen Leben kontrollieren. Es ist auch nicht erstrebenswert, jeden Aspekt von Kriminalität abzuschaffen.

Warum nicht?

Wie müsste unser Zusammenleben dann aussehen? Wir bräuchten eine ständige Kontrolle, das wäre keine freie Gesellschaft mehr. Außerdem gibt es ja nicht nur Gewaltdelikte. Menschen verstoßen ständig gegen alle möglichen Normen und machen sich damit strafbar. Aber manchmal sind solche Verstöße auch nötig für die gesunde Entwicklung.

Wie meinen Sie das?

Fast jeder Mensch begeht im Laufe seines Lebens ein Bagatelldelikt, gerade als Jugendlicher. Man bricht nachts ins Schwimmbad ein oder lässt etwas aus einem Laden mitgehen. Das ist kriminelles Verhalten, aber in einem gewissen Maß unverzichtbar für die Entwicklung des Einzelnen. Eine freie Gesellschaft muss einen gewissen Raum für solches Fehlverhalten lassen – und offen dafür sein, Normen infrage zu stellen.

Sind unsere Gesetze nicht sinnvoll?

Schon, aber wenn sich eine Gesellschaft weiterentwickelt, verändern sich auch ihre Werte, Normen und Grenzen. Ein Beispiel: Männliche Homosexualität war bis zum Jahr 1994 ein Straf- bestand, inzwischen dürfen schwule Männer heiraten. Oder denken Sie an die Debatte um die Legalisierung von Cannabis oder den Streit um den Paragrafen 219a, der Ärztinnen und Ärzten lange verbot, auf ihrer Website für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Die neue Regierung will ihn nun abschaffen. Meiner Meinung nach gehört es zum freiheitlichen Zusammenleben dazu, dass wir uns immer wieder fragen, ob etwas wirklich kriminell ist.

Corona und die Erderwärmung – davon sind fast alle Menschen weltweit betroffen. Und dennoch versuchen Nationalstaaten nach wie vor, internationale Probleme allein zu lösen.

Text: Jennifer Garic

Matthias Lutz-Bachmann, Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, findet:


„Ja, eine Weltregierung ist die einzige Option“

„Wir benötigen dringender denn je eine weltweit handlungsfähige Regierung mit einer Zuständigkeit für bestimmte, ausgewählte Handlungsfelder der Politik – eine ,partielle Weltregierung‘. Anders können wir große Probleme wie die Klimakrise, Hungersnöte oder die beständige Kriegsgefahr nicht lösen. Den jüngsten Beweis dafür liefert uns die Klimakonferenz in Glasgow: Die Staaten haben sich auf Ziele geeinigt, an die sie sich aber nicht halten müssen. Unter diesem Problem leiden die Vereinten Nationen (UN) generell.

Der UN-Sicherheitsrat kommt einer Weltregierung am nächsten, ist aber auch nicht wirklich handlungsfähig. Seine wichtigste Auf-gabe besteht darin, den Frieden weltweit zu sichern. Doch täglich führen Staaten Krieg, darunter auch solche, die einen festen Sitz mit Vetomacht im Sicherheitsrat haben.

Ich sehe drei mögliche Lösungen für diese Problemlage. Erstens: Die UN reformiert sich grundlegend und schafft es, eine Gewaltenteilung und eine alle Staaten bindende Verfassung einzuführen. Zweitens: In den Vereinten Nationen bilden sich einzelne Vertragsregime, die, analog den Ministerien in den Staaten, die Beschlüsse der Vollversammlung oder auch der UN-Konferenzen global durchsetzen können. Ähnlich wie der Internationale Währungsfonds verfügen sie über eigene Sanktionsmechanismen. Drittens: Die demokratisch verfassten Staaten der Erde übertragen gewissermaßen das Modell der Europäischen Union auf die globale Ebene. Sie formen einen verbindlichen Zusammenschluss von Rechtsstaaten und setzen eine global agierende Exekutive für ausgewählte Felder der Politik ein – also eine Art partielle Weltregierung.

Aus meiner Sicht wäre das die Erfolg versprechendste Variante. Die einzelnen Staaten blieben, jedenfalls für bestimmte Bereiche der Politik, (teil)souverän, und die von ihnen getragene partielle Weltregierung wäre über nationale Parlamente legitimiert. Sie wäre nur für diejenigen Themen zuständig, die alle Menschen gleichermaßen betreffen und auf die sich alle Vertragsstaaten einigen können. Es soll also keine Weltregierung mit einer allumfassenden Zuständigkeit entstehen. Das wäre genauso wenig umsetzbar und erstrebenswert wie die Gründung eines Weltstaats. Eine partielle Weltregierung sollte vielmehr bestimmte Regeln und Minimalstandards schaffen, die eine lebenswerte Welt ermöglichen: keine Kriege mehr, weniger Hunger und Elend, kein Zusammenbruch des ökologischen Systems der Erde.

Das klingt nach einer Utopie, nach einer Welt ohne Konflikte, ist aber das Gegenteil. Guter Wille und Freundschaft allein würden die partielle Weltregierung nicht weit bringen. Sie hätte nur mit einem klaren Rechtsrahmen inklusive Gewaltenteilung Erfolg. Ich weiß: Es wäre eine enorme Herausforderung, aber ich halte die Idee nicht für philosophisches Wunschdenken. Wenn wir beispielsweise die Klimakrise bewältigen wollen, sehe ich eine solche Weltregierung als die einzige realistische Option.“

Michael Hüther, Honorarprofessor an der EBS Business School in Wiesbaden und Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, argumentiert:


„Nein, regionale Staatenbünde sind effizienter “

„Wir leben in einer globalisierten Welt – und doch bin ich der Meinung, dass es keine Weltregierung braucht. Ökonominnen und Ökonomen sind ja klassischerweise der Ansicht, dass der Markt sich selbst regelt, wenn die Regeln klar und stimmig sind. Das ist auch im globalen Kontext die Herausforderung. Wir benötigen daher mehr Koordinierungsregeln. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte ,effects doctrine‘: Derzufolge können nationale Kartellbehörden Fusionen in anderen Staaten untersagen, wenn ihnen dadurch eine zu große Marktmacht im eigenen Land droht.

Ein zweiter Ansatz, um die großen globalen Probleme zu lösen, sind Regulierungen, die zu einem weltweiten Standard werden – wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Die Europäische Union hatte sich auf diesen Standard für den Schutz und die Verarbeitung von Daten geeinigt. Die Verordnung galt nur für EU-Mitglieder, und doch finden wir sie heute genauso oder so ähnlich in anderen Ländern wieder, etwa in den USA. Das hat auch rein praktische Gründe: Es ist für weltweit vernetzte Unternehmen schlicht zu kompliziert und zu teuer, in jedem Land andere Regeln einzuhalten. Da hält man sich im Zweifel an die strengste Verordnung. Es braucht also nur Staaten, die Gesetze verabschieden, die zum generellen Standard taugen.

Um bei strittigeren Themen Konsens zu erreichen, halte ich Staatenverbünde für sinnvoll. In denen können auch kleine und wirtschaftsschwache Nationen ihre Interessen vertreten. Wie gut das klappen kann, sehen wir zum Beispiel in Ansätzen bei der Afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, bei Mercosur, dem gemeinsamen Markt süd- und lateinamerikanischer Staaten, oder bei Asean, der Vereinigung südostasiatischer Nationen. Solche regionalen oder interessengeleiteten Zusammenschlüsse stärken kleine Staaten viel mehr als eine etwaige Weltregierung – und haben viel Potenzial.

Mit solchen Clubs könnten wir auch globale Probleme wie den Klimawandel angehen. Ein Klimaclub, wie ihn der neue Bundeskanzler Olaf Scholz angeregt hat, wäre ein guter Ansatz. In diesem würden sich nur jene Staaten zusammenschließen, die ein Interesse daran haben, klimaneutral zu werden. Wenn genug Nationen mitmachen, sollte das auch für andere ein Anreiz sein, sich an die damit verbundenen Restriktionen zu halten.

Dass so etwas gelingen kann, hat das Montrealer Protokoll zu FCKW im Jahr 1987 bewiesen. Der UN-Beschluss und die Androhung von Handelssanktionen haben gereicht, alle Länder zum Verzicht auf diese die Ozonschicht zerstörenden Stoffe zu bewegen. Manchmal braucht es eben nur ein paar Überzeugungs- täter und Anreize, um die ganze Welt zu bewegen.“

An der Unsterblichkeit arbeiten unter anderem Start-ups im Silicon Valley. Der renommierte Altersforscher Siegfried Hekimi von der McGill Universität in Québec erklärt, was er von diesen Projekten hält.

Text: David Selbach

Können wir ewig leben? Er findet die Frage lustig, das ist deutlich am spöttischen Lachen und dem Augenrollen zu erkennen. Siegfried Hekimi erforscht seit mehr als 30 Jahren die Biologie des Alterns – zuerst im britischen Cambridge, jetzt im Hekimilab der McGill-University in Québec, Kanada. Er hat unter anderem in Fadenwürmern eine Mutation entdeckt, die lebensverlängernd wirkt, und zuletzt in einem viel beachteten »Nature«-Artikel Altersstatistiken ausgewertet.

Seine Ergebnisse geben durchaus Anlass zur Hoffnung auf Unsterblichkeit. Die durchschnittliche Lebenserwartung habe sich in den vergangenen 250 Jahren verdreifacht und steige immer weiter an, „fast linear“, sagt Hekimi. Und deshalb, so folgert er mit seinem Co-Autor Bryan G. Hughes, gebe es auch keine Altersobergrenze.

Allerdings bedeute das nicht, dass wir ewig leben können. Den Zahn müsse er uns gleich ziehen, sagt Hekimi. Denn wir wüssten noch zu wenig darüber, warum unsere Zellen mit den Jahren immer weiter degenerieren – und wie sich das aufhalten ließe. Dieser Meinung ist auch der britische Biochemiker und Nobelpreisträger Paul Nurse.

Im Wesentlichen bedeutet Altern: Mit den Jahren werden die Reparaturprozesse des Körpers schlechter, beispielsweise um die immer wieder entstehenden Fehler im Erbgut zu beseitigen. Außerdem werden die Enden unserer Chromosom-Stränge – die sogenannten Telomere – kürzer und verhindern irgendwann, dass Zellen sich teilen.

So bleiben manche der toten Zellen, von denen der Körper sich normalerweise befreit, einfach da. Je älter ein Mensch wird, desto mehr solcher „Zombie“-Zellen trägt er in sich. Diese geben Schadstoffe ab und verursachen Entzündungen. Dem körpereigenen „Epigenom“-System, das Gene an sich präzise an- und abschaltet, passieren Fehler. Proteine falten sich nicht mehr richtig. Mitochondrien hören auf zu funktionieren. Zellen kommunizieren nicht mehr miteinander.

An diesen Mechanismen setzen die Anti-Aging-Forscher im Silicon Valley an. Mit ihren Unternehmen – zu denen beispielsweise die Google-Tochter Calico oder die Altos Labs zählen, hinter denen neben anderen der Amazon-Gründer Jeff Bezos steht – wollen sie das Altern besiegen. Die Grundidee ist dabei immer dieselbe: Wenn wir Telomere wieder verlängern oder das Epigenom restaurieren, muss der Körper nicht altern.

David Sinclair, Professor für Genetik an der Universität Harvard, ist einer der lautesten Verfechter solcher Ansätze: Er träumt von Gen-Therapien, bei denen Menschen Spritzen erhalten, wenn sie 30 geworden sind. In ihnen soll sich ein unschädliches Virus befinden, das manipulierte Gene in den Körper einschleust. Zum Beispiel die sogenannten Yamanaka-Faktoren – vier Gene, die der japanische Arzt und Nobelpreisträger Shinya Yamanaka entdeckt hat. Diese machen aus spezialisierten Körperzellen wieder Stammzellen, was die Menschen verjüngen soll.

Manche Anti-Aging-Forscher setzen dagegen auf das Diabetes- Medikament Metformin, unter anderem, weil es ähnlich wirkt wie Fasten, und das kann laut einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern lebensverlängernd sein. Es gibt auch Forscher, die Stoffe bevorzugen, die Zombie-Zellen ausschalten.

Siegfried Hekimi ist skeptisch, was all das angeht. „Falls – und ich betone falls – etwas davon funktioniert, sehe ich das als medizinische Behandlung der Folgen des Alters“, sagt er. Aber mit Verjüngung oder Unsterblichwerden habe das nichts zu tun. Gentherapien oder Pillen gegen Zelldegeneration definierten lediglich eine Alterserscheinung zur Krankheit um und heilten sie dann. Ein Beispiel seien Falten, sagt Hekimi. Er hält es für möglich, dass 80-Jährige irgendwann keine mehr haben. Und dass man im Alter nicht mehr so schnell blaue Flecken bekommt, weil die Haut so dünn geworden ist.

Hekimi findet es realistisch, dass Menschen ihre Lebenserwartung mithilfe neuer Behandlungsmethoden auf mehr als 120 Jahre ausdehnen können. Vielleicht sogar auf mehr als 200 Jahre. „Ich meine das im abstraktesten Sinne“, sagt er, „weil wir es in den vergangenen zwei Jahrhunderten geschafft haben, die unglaublichsten Dinge zu erreichen.“

Schließlich hätte es Ende des 19. Jahrhunderts kaum jemand für möglich gehalten, dass ein im Jahr 2021 in Deutschland geborenes Mädchen damit rechnen kann, 83,4 Jahre alt zu werden.

Also kein ewiges Leben. „Was heißt das auch?“, fragt Hekimi. „Wie lange muss ich leben, um als unsterblich zu gelten?“ Außerdem würden auch die langlebigsten Organismen irgendwann verschwinden: durch Gewalt, Krankheit oder spätestens dann, wenn die Sonne in etwa fünf Milliarden Jahren explodiert. Siegfried Hekimi ist jetzt 65 Jahre alt. Er hätte nichts dagegen, sehr alt zu werden, sagt er, er wüsste, was er mit 250 Jahren Lebenszeit anfangen würde. Sein Motto: „Solange das Sterben sicher kommt, wird das Leben immer kostbar sein.“ ---


 

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