Wie kommen wir voran?

Drei junge Menschen machen es vor.



Maren Busch ist mit 27 Jahren eine der jüngsten hauptamtlichen Bürgermeisterinnen in Deutschland. Und verändert ihren Heimatort Diez an der Lahn mit erfrischend neuem Stil.

Text: Janina Martens
Fotografie: Michael Hudler

• Maren Busch ist spät dran an diesem verregneten Novemberabend. Ihre rötlich-blonden Locken und ihr Blazer sind nass geworden, aber das stört sie nicht weiter. „Als Bürgermeisterin darf man nicht eitel sein“, sagt sie. „Die Hauptsache ist: Ich bin da und wach.“

Als Maren Busch im November 2022 gewählt wurde, war sie 26 – und damit die jüngste hauptamtliche Bürgermeisterin Deutschlands. Busch vertritt die rheinland–pfälzische Verbandsgemeinde Diez an der Lahn (VG Diez), etwa 50 Kilometer östlich von Koblenz. Dazu gehören neben der Stadt Diez 22 Gemeinden, insgesamt leben hier knapp 25.500 Menschen.

An diesem Abend ist Busch zu Gast im Feuerwehr-Dienstleistungszentrum, kurz FDZ, im Nachbarort Nastätten. Rund 20 Leute sind hier zusammengekommen, um sich einen Eindruck von dem Zentrum zu verschaffen, in dem die Ausrüstung von Feuerwehren aus der Region gewartet wird. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer Verbandsgemeinden. Diez war bislang nicht an dem FDZ beteiligt – das war eine Entscheidung von Buschs Vorgänger. Die junge Bürgermeisterin will das ändern.

„Die Feuerwehr ist eine neue Leidenschaft von mir“, sagt sie. Seitdem Busch Bürgermeisterin ist, beschäftigt sie sich mit vielen neuen Themen. In ihrer Amtszeit gab es schon zwei Ereignisse, die Busch zeigten, wie wichtig die Feuerwehr ist: einen Brand in der Diezer Altstadt und Starkregen mit großen Sachschäden. Deshalb findet Busch auch das FDZ wichtig und will mit der VG Diez beitreten. Für eine Umlage könnte die Freiwillige Feuerwehr das Zentrum dann mitnutzen.

Busch sagt: „Ich sitze an einem Machthebel. Das ist neu für mich.“ Auf die Idee, als Bürgermeisterin zu kandidieren, brachte sie eine Freundin, erst als Scherz, doch dann wurde daraus Ernst. Busch war immer schon in ihrem Heimatort aktiv, da ergab die Kandidatur Sinn. Sie ist in der Verbandsgemeinde Diez aufgewachsen, hat immer dort gelebt, ist im Kirchenvorstand, Gründungsmitglied von zwei Nachhaltigkeitsvereinen und engagierte sich im Willkommenskreis für Geflüchtete. „Und jetzt gehören diese Themen zu meinem Job! Ich kann all meine Energie nutzen, um hier das Zusammenleben zu gestalten.“

Bevor Maren Busch Bürgermeisterin wurde, studierte sie Wirtschaftspsychologie und arbeitete für eine Immobilienfirma. In Politik und Verwaltung ist sie also Quereinsteigerin. Das Bürgermeisteramt sieht sie nicht als Sprungbrett für eine politische Karriere, sondern als „Beruf mit Sinn“. Busch ist parteilos und will das auch bleiben.

Sie hat sich vorgenommen, die Verwaltung zu digitalisieren. Dabei muss sie allerdings auf einem recht niedrigen Niveau anfangen: Fürs Erste haben alle ehrenamtlichen Ortsbürgermeister der Verbandsgemeinde Laptops, einheitliche E-Mail-Adressen und IT-Schulungen erhalten.

Aber Technik ist bekanntermaßen nicht alles. „Ich führe auf meine eigene Weise“, sagt sie. Allein auf dem Weg in ihr Büro durch das Verwaltungsgebäude ist zu erahnen, dass sie damit einen sehr persönlichen Stil meint: Sie ruft jedem fröhlich „hallo“ zu, duzt die meisten, umarmt ihren Ersten Beigeordneten.

„Ich bin neu in der Verwaltung, da konnte ich jede Art von Unterstützung gebrauchen“, sagt Busch. So nahm sie Kontakt zu anderen Bürgermeisterinnen auf, um sich auszutauschen. „Manchmal denke ich: In welchem Jahrhundert leben wir? Bei einigen Veranstaltungen in der Kommunalpolitik treffe ich fast nur Männer. Da ist es gut zu wissen: Ich bin nicht die Einzige.“

Auch an diesem Abend bei der Feuerwehr netzwerkt Maren Busch mit Leichtigkeit, geht von einem zum Nächsten, begrüßt alle mit Handschlag oder Umarmung, stellt Fragen, unterhält sich.

Ob Diez dann bald einsteige bei dem Feuerwehrzentrum, fragt jemand. „Hoffentlich“, antwortet Busch ehrlich. „Ich arbeite daran.“ Im Alleingang etwas durchdrücken will und kann sie nicht. Auch das ist Teil des Jobs: Mehrheiten zu organisieren.

Laila Zohaib baut ein Netzwerk für Gründer mit Migrationshintergrund auf – zum Wohle der schwächelnden Volkswirtschaft.

Text: Hannes M. Kneissler
Fotografie: Anne-Sophie Stolz

Im „Pokkez“, einem Restaurant auf dem Hochschul-Campus in Stuttgart-Vaihingen, treffen sich viele, die man korrekt BIPoCs nennt: Black, Indigenous, People of Color. Es gibt Bowls mit Superfood und Wraps, die Bali, Marrakesh oder New York heißen. Laila Zohaib, 30, sieht aus wie auf den Fotos im Internet: eine Frau mit stolzer Haltung, markanten Gesichtszügen und einem leicht trotzigen Blick. Sie bestellt eine vegetarische Bowl.

Sie hat pakistanische Wurzeln und glaubt, dass Deutschland einen schlimmen Fehler macht, wenn es Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund nicht besser unterstützt. „Sie sind mutiger, risikobereiter, kreativer und schon wegen ihrer Herkunft internationaler als deutsche Gründer – und trotzdem werden sie noch oft diskriminiert, wenn sie sich selbstständig machen wollen.“

Damit man begreift, was das genau bedeutet, zeigt sie die E-Mail eines indischen Gründers. „Tag 0 meiner Gründungsreise in Deutschland: In der Lobby einer großen Bank in Berlin-Mitte wird mir in perfektem Englisch mitgeteilt, dass sie keine Geschäfte mit Nichtdeutschen machen, die kein Deutsch sprechen“, schreibt er. „Später kündigt mir eine andere Bank das Konto, weil ich ,verdächtige‘ Überweisungen nach Indien mache. Es nützt nichts, dass ich mit Unterlagen meiner in Berlin registrierten GmbH belege, dass ein beträchtlicher Teil unseres Business völlig legal in Indien stattfindet.“ Er habe mehrmals überlegt, sein Unternehmen in ein Land zu verlegen, in dem sein Aussehen und sein Name die Chance als Unternehmer nicht schmälern. „Aber dann dachte ich mir: Wenn ich in dieser feindlichen Umgebung überleben kann, dann kann mich nichts mehr stoppen. Heute existiert mein Unternehmen trotz aller Widrigkeiten schon mehr als zwei Jahre.“

Das sei ein typischer Fall, sagt Zohaib. „Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund werden in Deutschland übersehen und unterfinanziert.“

Um das zu ändern, hat sie 2022 The Migrant Accelerator gegründet, eine Non-Profit-Organisation, die Migrantinnen und Migranten auf dem Weg in die Selbstständigkeit unterstützt. Lange finanzierte sie das Projekt selbst, zusammen mit ihrem Mitgründer Bartosz Kajdas, einem Science-Tech-Coach aus Mannheim. Nun bekam sie eine Förderung in Höhe von 25.000 Euro. Damit will sie eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gründen, eine Art Mini-GmbH.

Im Sommer 2023 endete die erste Bewerbungsphase. 60 Menschen hatten Projekte eingereicht, zehn wurden in das Programm aufgenommen (siehe Infokasten). Sie erhielten einen dreimonatigen Online-Workshop und ein individuelles Mentoring durch mehr als 70 erfahrene Gründerinnen, Geschäftsführer, Investoren, Wissenschaftlerinnen oder Trainer, viele aus dem gemeinnützigen Unterstützungsnetzwerk 2Hearts Community, eine Gruppe für Tech-Gründer mit Migrationshintergrund. Alle zehn Start-ups durchliefen das Programm erfolgreich. „Wir haben denen definitiv krass geholfen“, sagt Zohaib.

Geboren und aufgewachsen ist Laila Zohaib in Stuttgart. Sie trägt Kopftuch, seit sie 2012 in Ludwigsburg das Abitur gemacht hat. „Das ist ein sichtbares Ergebnis meiner spirituellen Selbstfindungstour, die ich während meiner Jugend durchgemacht habe“, sagt sie. „Es ist sehr verwirrend, wenn man in Deutschland, in einer christlich geprägten Kultur, aufwächst und daheim eine andere Sprache, Kultur und Religion erfährt.“

Zohaibs Vater war Handlungsreisender und verkaufte Kleidung auf Krämermärkten, die Kinder waren oft mit dabei. Zohaib hat zwei Brüder, die wie sie studiert haben – sie alle kennen also gegensätzliche Welten. Auf ihrer Suche fand Laila Zohaib schließlich ihre Identität: Sie betrachtet sich als Muslima in der säkularen Welt westlicher Geschäftsmodelle.

Mit ihrem Projekt ist sie hierzulande Vorreiterin. In der Schweiz und in Frankreich gibt es den Singa-Accelerator, in Großbritannien fördern Grassroot-Organisationen Migrantinnen und Migranten. „In Deutschland ist The Migrant Accelerator der erste Accelerator für migrantische Gründer:innen“, sagt sie. Zohaib spricht das Wort Gründer:innen gender-korrekt aus.

Um die Ecke ist die Hochschule der Medien, wo Zohaib als Coach im Gründerzentrum Generator arbeitet. Hier hat sie 2020 im Fach Medienwirtschaft ihre Bachelor-Arbeit geschrieben („Exploring Migrapreneurship“), in der sie untersuchte, warum und wie junge Menschen mit Migrationshintergrund zu Unternehmern werden. Manches unterscheidet sie von Gründerinnen und Gründern ohne Migrationshintergrund (siehe Infokasten): Sie nutzen die Selbstständigkeit, um der Diskriminierung im Beruf zu entgehen, wollen häufiger die Welt verbessern und kämpfen um soziale Anerkennung. „Die kriegen sie in klassischen Angestelltenverhältnissen oft nicht“, sagt Zohaib, „vor allem weibliche farbige Mitarbeiterinnen stoßen dort schnell an eine gläserne Decke.“

Aber der Weg nach dem Sprung in die Selbstständigkeit ist steinig. Visumprobleme, Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und vor allem die deutsche Bürokratie machen Migrapreneuren (so der Fachbegriff für Unternehmer mit Migrationshintergrund) das Leben schwer. In einem Handout, das sie zeigt, steht: „Gerade im Kontakt mit Behörden und Ämtern (42 Prozent) sowie Banken (31 Prozent) sehen sich Migrant Founders der ersten Generation im Nachteil gegenüber anderen Gründer*innen.“

Dass viele von ihnen übersehen werden, findet sie nicht angemessen, denn „seit den Sechzigerjahren bilden migrantengeführte Unternehmen das Rückgrat der lokalen deutschen Wirtschaft“. Trotzdem erhielten die Inhaber und Inhaberinnen oft keine Anerkennung. „Diese Einstellung wird uns in den Ruin treiben“, warnt Zohaib. „Einheimische gründen immer seltener, Migranten immer häufiger. Das sollte Deutschland wertschätzen.“

Dabei haben Gründer wie Haçan Kok (Auto1), Kağan Sümer (Gorillas) oder Uğur Şahin und Özlem Türeci (Biontech) längst gezeigt, dass sie ihre Unternehmen auf die Überholspur führen können. Doch Rollenbilder ändern sich nur sehr langsam.

Neue Firmen in Deutschland

Zahl der Gründer im Jahr 2022 550.000
darunter Gründerinnen 205.000
darunter Gründer mit Migrationshintergrund 121.000

Motivation zu gründen
Zahl der Erwerbstätigen, die lieber selbstständig arbeiten wollen als angestellt, in Prozent

ohne Migrationshintergrund 29
mit Migrationshintergrund 38

Zahl der Erwerbstätigen, die die Welt verbessern wollen, in Prozent

ohne Migrationshintergrund 42
mit Migrationshintergrund 66

Quellen: KfW-Gründungsmonitor 2023, Laila Zohaib: Exploring Migrapreneurship

Zehn Start-ups hat The Migrant Accelerator bislang unterstützt, darunter:
— Die Plattform Studeez vernetzt Studentinnen und Studenten miteinander, die sich auf Prüfungen vorbereiten.

— Das System Proteineer unterstützt Firmen mithilfe von KI und Hochleistungsrechnern dabei, Biokatalysatoren zu entdecken – Eiweißstoffe, die biochemische Reaktionen in Organismen beschleunigen oder verlangsamen.

— Die App SafeStreets schlägt Menschen, die allein unterwegs sind, die sichersten Routen vor.

— Die Software Deepfile sucht mithilfe von KI Dateien und Dokumente in Firmennetzwerken oder auf lokalen Laufwerken.

Die Start-up-Szene in Polen ist besonders vital. Einer ihrer Stars ist ein junger und erstaunlich vielseitiger Erfinder.

Text: Hannes M. Kneissler
Fotografie: Anna Liminowicz

Petros Psyllos, 29, ist hauptberuflich Erfinder und denkt sich alles Mögliche aus: Roboter, Kommunikationssysteme für Menschen mit Behinderung, Cyborgs, Lernhilfen für Schülerinnen und Schüler und sogar das Muster für sein Hemd. Er trägt es unter einem weinroten Jackett mit Einstecktuch, es ist sehr wild und bunt bedruckt. „Ein Schaltkreis, den ich mal erfunden habe“, sagt Psyllos. Der polnische Onlineshop Edytakleist.com stellt die Hemden für ihn her.

Noch während seiner Schulzeit entwickelte er ein bauchtaschengroßes Gerät mit Kameras und Sensoren, das Blinden erzählt, was sie nicht sehen können. Der kleine Computer ist mit Mustererkennung und Online-Zugang ausgestattet. Er kann nicht nur Hindernisse und Personen im Straßenverkehr beschreiben, sondern auch die Gemälde im Museum.

Psyllos neueste Erfindung ist eine Art Designer-Strandkorb, der sich mit dem Gehirn des Insassen verbindet (Neurostimulation nennt er das) und entweder für Entspannung oder frische Energie sorgt (siehe Infokasten). „Ist besser als ein Espresso“, sagt der Erfinder.

Psyllos hat nationale und internationale Preise gewonnen, er wurde von dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin »Forbes« als einer der 30 vielversprechendsten jungen Erfinder Europas ausgezeichnet und vom Massachusetts Institute of Technology als einer der zehn besten jungen Erfinder Polens. In seinem Heimatland ist er inzwischen ein Star. Seine wöchentliche Wissenschafts-Talkshow „Kącik Naukowy“ (Wissenschaftsecke) hat auf Youtube bis zu 1,6 Millionen Aufrufe.

Psyllos ist am Morgen mit seinem Ford-Kombi aus Białystok im Osten des Landes, wo er lebt, 200 Kilometer nach Warschau gefahren. Białystok hat 300.000 Einwohner und eine Technische Universität, an der Psyllos Informatik studierte und inzwischen das kognitionswissenschaftliche Forschungslabor Human Technical Support leitet. Außerdem sind dort an der Grenze zu Belarus die Lebenshaltungskosten sehr gering. Die Stadt ist voll von IT-Nerds aus der ganzen Welt, die für westliche Firmen arbeiten. Psyllos liebt Białystok.

Er wurde auf der griechischen Insel Chios nahe der türkischen Küste geboren, wo sein griechischer Vater als Koch arbeitete und seine polnische Mutter, eine Kellnerin, kennenlernte. Als der kleine Petros fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Białystok, was gut für ihn war, weil dort der polnische Opa lebte, ein Elektriker. Der hatte alles parat, was sich andere Jungs mühsam mit Erfinderbaukästen zusammenkaufen müssen: Kabel, Klemmen, Schalter, Werkzeug.

Der Junge begann zu experimentieren. Und es lief nicht immer gut. Er verband Stromleitungen mit Kinderspielzeug, was zu Funkenflug, Lichtbögen und Stromschlägen führte. Mit acht verwanzte er das Haus der Eltern mit Mikrofonen aus alten Telefonen und saß im Keller vor einem Lautsprecher, um die Familie abzuhören. Gab natürlich Ärger, als das aufflog. Später lief es dann besser. Mit zwölf programmierte er Computer, mit 19 gewann er die nationale Olympiade für technische Innovation in Polen mit einem sprechenden Handschuh, der Gesten erkennt und Menschen mit Behinderung hilft, mit der Welt zu kommunizieren.

Einen Teil des Monats lebt Psyllos in einem Hotel in Warschau. Die Stadt gilt neuerdings als eines der interessantesten Innovationszentren Europas. Die Start-up-Szene boomt. „Wenn du nach Berlin gehst und gründen willst, hast du jede Menge Bürokratie und Konkurrenz“, sagt Petros Psyllos. „Hier in Warschau brauchst du nur 5.000 Zloty als Startkapital (etwa 1.150 Euro) und erledigst die Gründung in zwei Tagen online. In Deutschland dauert das mehrere Wochen.“

Jetzt sitzt Psyllos in dem edlen Traditionslokal „Stary Dom“. „Ich war noch nie hier“, sagt er, „das haben mir Freunde empfohlen.“ Trotz seiner auffälligen Hemden tritt er sehr bescheiden auf – ist eher Nerd als Showman – und bestellt den Klassiker: Piroggen, gefüllte Teigtaschen. Zumindest beim Essen mag er keine Experimente. Er sagt, dass ihn als Jugendlicher die Bücher von Stanisław Lem und die Science-Fiction-Filme „2001 – Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick und „Terminator“ mit Arnold Schwarzenegger als Cyborg fasziniert hätten.

„Da kam schon künstliche Intelligenz vor, aber die war böse“, sagt er. „Schon damals habe ich beschlossen, dass ich es besser machen will. Meine künstliche Intelligenz soll die Welt retten, nicht zerstören.“ Er weiß, dass das schwierig wird: „In ein paar Jahren ist KI tausendmal klüger als wir. Wie sollen wir sie dann noch kontrollieren?“

Aber noch sitzen Menschen am längeren Hebel. Psyllos erfindet jetzt erst mal Lösungen, die unser Leben besser machen sollen. Kürzlich hat er eine Maschine für einen hochintelligenten Autisten, einen Doktor der Rechtswissenschaften, entwickelt. Der tut sich schwer, seine Gedanken zu kommunizieren. Bis er einen Satz aussprechen kann, dauert es Minuten, und auch dann ist er oft kaum zu verstehen. Tippen auf der Tastatur läuft nicht viel besser. Psyllos gab ihm also einen Computer samt Tastatur, der ihn mithilfe von KI nun jeden Tag besser kennenlernt. Wenn der Professor die Tastatur bedient, vervollständigt der Rechner die Sätze mittlerweile schon nach den ersten Wortfragmenten und wandelt sie in Sprache oder Schrift um.

Mit solchen Maschinen, seinen öffentlichen Auftritten und den bunten Hemden ist Psyllos in Polen inzwischen so bekannt, dass er jeden Monat Dutzende Anfragen für individuelle Hilfsgeräte bekommt, mit denen Menschen mit Behinderung ein besseres Leben führen wollen.

Viel Geld verdiene er damit nicht. „Schade eigentlich: Als Bill Gates so alt war wie ich, war er schon Multimillionär.“ Insgesamt kommt Psyllos mit seinen individuellen Aufträgen, seiner Youtube-Talkshow, als Speaker, als Wissenschaftler und als dotierter Preisträger auf einen Jahresumsatz von mehr als 500.000 Zloty (umgerechnet mehr als 115.000 Euro). Davon bleibt viel für ihn selbst („Ich habe keine Zeit für eine Freundin, konzentriere mich voll auf meine Karriere“). Er hat sich schon ein Häuschen auf der griechischen Insel Chios, auf der er als Kind lebte, gekauft und sucht gerade eine Eigentumswohnung in Warschau.

In diesem Jahr arbeitet er an drei neuen Projekten. Erstens möchte er in der Kombination von künstlicher Intelligenz und Medizin promovieren. Dann tüftelt er an sogenannten Wearables zur Gesundheitsüberwachung, die man am Körper trägt. Sie sollen zum Beispiel vor Herzinfarkten oder Schlaganfällen warnen. Sein drittes Projekt ist ein Programm, das mithilfe von Large Language Models (ähnlich wie ChatGPT) Schülern beim Lernen helfen soll. „Eine Art Nachhilfelehrer, der dich und deinen Lernstand besser kennt als du selbst.“

Das erfordert allerdings die totale Überwachung. Ob das gut ausgeht? „Keine Ahnung“, sagt Psyllos. „Das ist ein Risiko. Entweder Batman oder Joker. Ich bin Team Batman.“ ---

Die Gründerszene in Polen
Rang im weltweiten Ranking des Global Startup Ecosystem Report 2023

der polnischen Start-up-Szene 33
der deutschen Start-up-Szene 7

Platz im Ranking der innovativsten Start-up-Städte weltweit 2023

Warschau 99
Berlin 11
Zahl der Venture-Capital- Investitionen in Start-ups in Polen im Jahr 2022 166
Zahl der Venture-Capital- Investitionen in Start-ups in Deutschland im Jahr 2022 873

Quelle: startupblink

Petros Psyllos’ Erfindungen
Die Entspannungskapsel sieht aus wie ein Strandkorb auf Speed und spricht mit dem Nutzer. Das von Psyllos auf psychologische Themen programmierte Sprachmodul funktioniert ähnlich wie ChatGPT. Die emotionale Reaktion des Nutzers wird mithilfe der Pulsfrequenz ermittelt. Dafür filmen hochauflösende Kameras die Gesichtshaut, aus minimalen Farbveränderungen werden Rückschlüsse auf den Puls getroffen. Der emotionale Zustand wird dann durch Gespräche, Musik und visuelle Effekte verändert – in Richtung Entspannung oder in Richtung Hochspannung. Ganz nach Wunsch.

Der sprechende Handschuh enthält sieben Beschleunigungs- und Magnetfeldsensoren und kann damit Gesten von Menschen mit Sprechbehinderung erkennen und in Sprache umsetzen. Mithilfe von KI-Modulen bildet der Handschuh aus rudimentären Satzstrukturen vollständige Sätze. Er kann Polnisch und Englisch.

Das Matia-Kamerasystem für Blinde
im Handy analysiert Umgebungen mit Kameras, Bewegungssensoren, GPS, künstlicher Intelligenz und neuronalen Netzwerken. So kann es dem Nutzer sagen, was er nicht sieht. Memory-Module merken sich den Weg und bringen den Nutzer bei Bedarf zurück. Funktioniert bisher nur mit Android.

Lesetipp: In brand eins 03/2014 berichteten wir über eine polnische Milchbar – eine Institution, in der sich die Geschichte des Landes spiegelt: „Ein Hoch auf die faulen Piroggen“