Fünf Millionen Frauen, eine Selbsthilfegruppe
Diese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt. Und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Im sechsten Teil zeigt der Bundesstaat Kerala der Welt, wie Frauen auf dem Land zu Unternehmerinnen werden können.
• Vorsichtig schlängelt sich Mini Santosh durch das Kletterpflanzendickicht, das an Holzpfählen emporrankt. Sie prüft, wie reif die stacheligen Bitterkürbisse sind, die roten Bohnen, die grünen Gurken. Plötzlich bleibt die 37-Jährige stehen, schaut sich um und sagt mit Stolz in der Stimme: „Das ist unser Hof.“
Abseits des schmalen, steinigen Weges, umgeben von üppigem Grün, steht ein strohgedeckter Stall für ihre zwei Kühe. Mehrmals am Tag steigen Mini Santosh und ihre vier Mitstreiterinnen diesen Hügel hinauf. Vorbei an Gummi- und Moringabäumen, an Kokospalmen, Muskat- und Betelnussbäumen und schwarzem Pfeffer.
Mini Santosh ist Bäuerin, aber sie besitzt kein Land. So ist sie geboren. Damit wäre ihr Schicksal eigentlich besiegelt: Sie würde ein Leben lang auf den Feldern anderer als Tagelöhnerin arbeiten und so wenig verdienen, dass sie sich niemals einen eigenen Acker pachten könnte – vom Kauf ganz zu schweigen.
Schätzungsweise 144 Millionen Menschen in Indien teilen dieses Schicksal. Dass die Landlose Santosh jetzt einen Hof bewirtschaftet, ist angesichts der Dauerkrise der indischen Landwirte (siehe Seite 20) ein großes Wunder. Aber eines, das nicht auf göttlichem Wohlwollen beruht, sondern auf klugen Entscheidungen aus der Verwaltung. Und auf dem Fleiß von fünf Millionen Frauen.
Heute leitet Mini Santosh eine fünfköpfige Gruppe, die in Nadathara, einem Ort mit 31.000 Einwohnern im Distrikt Thrissur im südlichen Küstenstaat Kerala, zwölf Hektar Ackerland gepachtet hat. Um ihre Ernte aufzuwerten, trocknen sie das angebaute Gemüse, verarbeiten es zu Chips und verkaufen es verpackt auf dem Markt. Außerdem stellen sie Kokosöl her.
Mindestens acht Monate im Jahr verkaufen die Bäuerinnen Gemüse und Gewürze auf den lokalen Märkten. Jede von ihnen verdient damit durchschnittlich 168 Euro im Monat – das liegt knapp unter dem Durchschnittseinkommen aller Bauern im Bundesstaat Kerala, aber deutlich über dem landesweiten Schnitt. „Das ist ein gutes Einkommen“, sagt Santosh. Besonders für eine Gruppe von Frauen, die in der konservativen ländlichen Gesellschaft zwar hart arbeiten müssen, aber nicht zum Unternehmertum ermutigt werden. Santosh geht davon aus, dass ihr Einkommen weiter steigen wird, wenn sie die Produktion noch effizienter gestalten.
„Ich bin in Armut aufgewachsen“, sagt Mini Santosh. Eine weiterführende Schule hat sie nicht besucht. Ihre Eltern waren Hilfsarbeiter, sie hat mit 19 Jahren geheiratet. Von da an half sie ihrem Mann, der als Tagelöhner auf einer kleinen Farm arbeitete. Für drei Euro am Tag. Die meiste Zeit des Jahres hatte sie kein festes Einkommen. Santoshs vier Mitstreiterinnen Sumidha Unnikrishnan, Mini Vinod, Juby Roy und Biji erzählen ähnliche Geschichten – vom Aufstieg aus bitterer Armut in ein nun relativ geregeltes und auskömmliches Leben.
Reaktion auf die Agrar-Krise
Hinter Mini Santoshs Gruppe steht eine Organisation, die einen landestypisch komplizierten Namen trägt: Mission zur Beseitigung der Armut im Bundesstaat Kerala und zur Stärkung der Rolle der Frau. Im Volksmund heißt sie Kudumbashree, was so viel bedeutet wie Wohlstand der Familie. Diese Initiative ist heute ein schier unüberschaubares Netzwerk mit fünf Millionen Mitgliedern und unzähligen Unternehmungen (siehe Seite 20). Kudumbashree ist bekannt für die fünfköpfigen Frauenkollektive, die gemeinsam wirtschaften. Wie die Gruppe von Mini Santosh.
Kudumbashree geht zwei strukturelle Probleme Indiens an: die ruinöse Agrarwirtschaft, die zu großer Armut führt, und die geringe Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt. Deren Erwerbsbeteiligung ist zwar gestiegen, liegt aber immer noch bei 37 Prozent.
Und die Situation in der Landwirtschaft hat sich weiter verschlechtert. In Indien heißt das nicht, dass Bauern ein paar Formulare zu viel ausfüllen müssen, sondern dass sie so verschuldet sind, dass sie sich das Leben nehmen, indem sie ihr eigenes Unkrautvernichtungsmittel trinken. Und das in erschreckenden Dimensionen. Laut Regierungszahlen haben sich zwischen 1997 und 2021 rund 400.000 Bauern das Leben genommen. Das sind durchschnittlich 43 Tote pro Tag. Und diese Statistiken erfassen noch nicht einmal Ehefrauen von Bauern.
Indiens demografische Dividende – also ein hoher Anteil junger, erwerbsfähiger Menschen im Vergleich zu nicht erwerbsfähigen Menschen – verpufft. Trotz des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei rund neun Prozent, das sind fast 130 Millionen Menschen. Neben der Erwerbslosigkeit auf dem Land und in den Städten nimmt auch die Ungleichheit zu. So ist es nicht verwunderlich, dass die Proteste der Bauern immer häufiger und heftiger werden – wie im Jahr 2020, als Bauern monatelang Straßen in der Hauptstadt Delhi blockierten und damit weltweit Aufsehen erregten.
Kerala, einer der fortschrittlichsten Bundesstaaten Indiens, macht es auch bei diesem Thema anders und hat 1998 die gemeinnützige Organisation Kudumbashree gegründet. Die Idee: Frauen als Problemlöserinnen. Kudumbashree ist mehrstufig organisiert (siehe Seite 20) und bündelt die staatlichen Initiativen zur Unterstützung lokaler Existenzgrundlagen.
Mithilfe von Krediten und Schulungen des Netzwerks bewirtschaften die Frauen kleine Farmen, bauen Nahrungsmittel an, halten Vieh, kochen an staatlichen Schulen, betreiben Frauen-Taxis und leiten kleine Hotels, Restaurants und kleine Läden. „Die Frage ist nicht, was diese Frauen können, die Frage ist, was sie nicht können“, sagt Jafar Malik, Chef des Netzwerks und hoher Verwaltungsbeamter in Kerala. Kreditausfälle in nennenswerter Größe gebe es bisher nicht.
Das ist nicht selbstverständlich. Indische Banken haben in den vergangenen zehn Jahren faule Kredite von Großunternehmen in Höhe von 170 Milliarden Euro abgeschrieben – Geld, mit dem man in Indien gut 100.000 Kilometer Straßen bauen könnte.
Einem offiziellen Dokument vom März 2023 zufolge belaufen sich die Ersparnisse der Frauen im Netzwerk auf 921 Millionen Euro, die von Kudumbashree intern vergebenen Kredite auf 2,7 Milliarden und die bei Banken aufgenommenen Kredite auf 2,9 Milliarden Euro.
Plötzlich selbstständig
Der Aufstieg der Landlosen Mini Santosh zur Unternehmerin begann im Jahr 2008. Damals ging sie auf Anraten von Freundinnen zu einer Veranstaltung von Kudumbashree und schloss sich mit anderen Frauen zusammen. „Wir fingen an, kleine Summen zu sparen“, sagt Santosh, „es war nicht viel, aber allein die Tatsache, dass wir zu unseren wöchentlichen Treffen kamen, gab uns das Vertrauen, dass wir gemeinsam etwas erreichen können.“
Im Jahr 2012 gründeten Santosh und ihre vier Nachbarinnen eine offizielle Fünfergruppe. Sie nannten sich Paval-Konsortium. Paval bedeutet in der Landessprache Malayalam Bitterkürbis. Mithilfe der Projektmitarbeiter lernte die Gruppe, wie andere sogenannte Joint Liability Groups (Gruppen mit gemeinsamer Haftung, kurz JLG) arbeiten. Und ihre Zuversicht wuchs, dass auch sie Unternehmerinnen werden können. Sie begannen mit zwei Hektar Land, das sie günstig gepachtet haben. Die Fläche haben sie stetig erweitert, auf mittlerweile zwölf Hektar.
Das Paval-Konsortium ist eines von 7.500 JLGs im Distrikt Thrissur, zu dem auch Nadathara gehört. In Kerala gibt es nach Angaben der Hilfsorganisation mehr als 200.000 solcher Kollektive, die zusammen mehr als 60.000 Hektar bewirtschaften – oft auf vorher brachliegendem Land. Lokale Regierungen fördern die Pachtverträge, indem sie ungenutztes staatliches oder privates Land zur Verfügung stellen.
Das Projekt geht damit neben der Landlosigkeit noch ein weiteres Problem an: die Fragmentierung der landwirtschaftlichen Betriebe in Kerala. Gut zwei Drittel der 6,8 Millionen bäuerlichen Haushalte dort bewirtschaften weniger als zwei Hektar Land, die Mehrheit weniger als einen halben. Mit weniger als zwei Hektar und den üblichen Anbaumethoden ist kein nennenswertes Einkommen möglich. Hinzu kommen Wetterextreme wie anhaltende Dürren und Überschwemmungen sowie die Volatilität der Weltmärkte für Agrarprodukte.
„Landwirtschaft ist harte Arbeit“, sagt Mini Santosh, „aber ohne Fleiß kein Preis.“ Fast ein Jahr habe es gedauert, bis die Gruppe 2021, mitten in der Covid-Pandemie, die Holzpfähle für die Kletterpflanzen auf ihrer kleinen Farm aufgestellt hatte, erzählt sie. Jeden Tag haben sie den Hügel erklommen, Stämme gesammelt und die Konstruktion errichtet, die nun fünf Jahre halten soll.
Bildlich gesprochen, ist ihr Aufstieg auf den Hügel auch ein gesellschaftlicher – einer, der sie stolz und unabhängig macht. „Wir klettern mehrmals am Tag auf diesen Hügel“, sagt Mini Santosh, „aber wir sind nie erschöpft.“
Ihre Gruppe kümmert sich um fast alles: von der Feldarbeit über das Bedienen der Verarbeitungsmaschinen bis zu Marketing und Buchhaltung. Die Idee mit der Veredelung zu Chips war besonders lukrativ. Während ein Kilo Bitterkürbis 22 Cents einbringt, bringen Chips das Zehnfache.
Finanziert vom Netzwerk und mithilfe von Bankkrediten, wird diese Einheit innerhalb eines Jahres in der Lage sein, nachhaltig zu wirtschaften, sagen die Verantwortlichen bei Kudumbashree, die die Frauen betreuen und schulen.
Mini Santoshs Gruppe hat nach eigenen Angaben einen Bankkredit über 15.000 Euro und über Kudumbashree eine Starthilfe von 11.000 Euro bekommen. Die Frauen legten ihre Ersparnisse dazu und kauften die Anlage zum Veredeln der Lebensmittel. Zum Fuhrpark zählen heute neben einem Gemüsetrockner auch eine Schneidemaschine, ein Zerkleinerer, ein Mixer und eine Maschine zur Herstellung von Kokosöl. In wenigen Jahren will die Gruppe durch die Mehreinnahmen damit schuldenfrei sein.
In einer geräumigen Halle mit hohen Decken und großen Holztüren führt Mini Santosh ihre Produktionsanlage vor. Dazu breitet sie Moringa-Blätter auf einem großen Tablett aus, schiebt sie in den Trockner und stellt sie schließlich zum Abkühlen beiseite. Die getrockneten Blätter werden später verpackt und auf den Märkten verkauft. Die vitamin- und eisenreichen Moringa-Blätter werden in Suppen oder Currys verwendet.
Noch stammt das Gemüse, das sie hier verarbeiten, aus eigenem Anbau, aber wenn sie ihren Betrieb vergrößern, werden sie auch Gemüse von anderen Bauern im Dorf kaufen. „Wir sind jetzt beides, Bäuerinnen und Unternehmerinnen“, sagt Mini Santosh.
Eine Frau schult die andere
„Eine der Stärken unseres Systems ist die ständige Weiterbildung, das Lernen und der Aufbau von Kapazitäten“, sagt Deepa A., die als Mentorin für Landwirtschaft Santoshs Gruppe begleitet. „Was immer wir tun, es muss ausreichend gegen Risiken abgesichert sein. Und es muss menschliche Fehler und Rückschläge in der Anfangsphase einkalkulieren“, sagt sie. „Die Gemeinschaft entscheidet über den Weg und das Tempo.“
Jedes Mitglied muss zwei Orientierungskurse absolvieren, sobald es dem Kollektiv beitritt. Santoshs Gruppe bekommt dazu noch Schulungen von Beamten aus der Landwirtschaft und von Marketing-Experten, die beim Aufbau des Betriebs und beim Erstellen von Businessplänen helfen.
Andere Frauen aus dem Netzwerk bringen ihre eigene Erfahrung ein und helfen den Neuzugängen. So entsteht eine enge Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt – fachlich wie emotional.
Die Grenzen des Kollektivs
Der wirtschaftliche Aufstieg der Frauen in Kerala sei mit Verbesserungen wie einem „fast flächendeckenden Zugang zu privaten Toiletten und sauberer Energie zum Kochen“ einhergegangen, schreiben die Ökonomen K. P. Kannan und G. Raveendran in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Poverty, Women and Capability – A Study of Kerala’s Kudumbashree System“. Der vielleicht bedeutendere Effekt bestehe aber darin, dass die Frauen ein neues Selbstvertrauen und mehr Wissen über staatliche Programme und mehr Fähigkeiten erworben haben, mit öffentlichen Institutionen zu verhandeln.
Das Projekt ist wirtschaftlich wie gesellschaftlich ein großer Erfolg für Kerala. Und doch kann es nicht alle Probleme lösen. Kannan und Raveendra schreiben in ihrer Studie, dass die zunehmende Sichtbarkeit zwar zu einer verstärkten Nachfrage nach den Dienstleistungen der Frauen geführt habe, oft aber noch nicht mit einer angemessenen Bezahlung einhergehe. Kurz: Die Frauen haben zwar jetzt Arbeit, werden aber noch immer über den Tisch gezogen. Selbst Kommunalverwaltungen sehen in den Kudumbashree-Frauen bisweilen eine Quelle billiger Arbeitskräfte für ungeliebte Arbeiten wie die Müllabfuhr.
Auch beim neuen Rollenbild ist das Projekt noch nicht am Ziel. Einigen Männern passt das neue Selbstbewusstsein der Frauen nicht. So stellte J. Devika, eine der führenden Historikerinnen in Kerala vom Centre for Development Studies (CDS), in ihrer 2016 veröffentlichten Studie zu Kudumbashree fest, dass die Erfolge der Frauen bei einigen Würdenträgern Unbehagen auslösten. Sie würden aufgrund ihres wachsenden Einflusses als „zu durchsetzungsfähig und sogar als arrogant und ungehorsam“ wahrgenommen.
Neue Nachbarschaftshilfe
Aufstiegsgeschichten wie jene von Mini Santosh gibt es millionenfach bei Kudumbashree. Oftmals steht für die Betroffenen nicht einmal der finanzielle Aufstieg im Vordergrund, sondern der soziale. So auch bei Zeenath Hamsa, einer alleinstehenden muslimischen Frau Ende 50 in Ernakulam, 100 Kilometer von Thrissur entfernt. Hätte man sie vor 20 Jahren kennengelernt, da hätte sie einem fremden Mann nicht einmal ihr Gesicht gezeigt. Heute hat sie ihren eigenen Betrieb, und den Reporter empfängt sie ganz selbstverständlich. Ihr Ehemann ist 2004 gestorben, ihr einziger Sohn 2008. „Ich war am Boden zerstört“, sagt sie heute mit Tränen in den Augen. „Ich habe meine ganze Familie verloren, aber in Kudumbashree habe ich eine neue gefunden.“
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, der ein kleines Speditionsunternehmen geleitet hatte, war Hamsa ohne Hoffnung und Orientierung. Auf Anraten einer Freundin aus der Nachbarschaft schloss sie sich Kudumbashree an. Das Missionsbüro übertrug ihr eine kleine Aufgabe, die ihr zwar nur ein geringes Einkommen brachte, ihr aber eine emotionale Stütze war.
Zwei Jahrzehnte später gehört sie zu der angesehenen Gruppe der Trainerinnen und Mentorinnen des Netzwerks. Nach und nach habe sie dort gelernt, das geerbte Geschäft ihres Mannes zu übernehmen. „Bei Kudumbashree wurde ich in allen Aspekten des Geschäftslebens geschult, während ich mich mit meinen familiären Problemen auseinandersetzen konnte“, erzählt sie und wischt sich die Tränen ab, während ihre Kolleginnen sie tröstend in den Arm nehmen. Die meisten Frauen des Kollektivs hatten in ihrem Leben zu kämpfen und zu leiden gehabt.
Zeenath Hamsa hat viele arme muslimische Frauen zu Kudumbashree gebracht und es geschafft, das Vertrauen der muslimischen Männer in die Organisation zu gewinnen. Laut offiziellen Statistiken von 2022 liegt die Erwerbsquote muslimischer Frauen in Indien bei nur 15 Prozent – und damit weit unter dem ohnehin schon niedrigen Landesdurchschnitt. Zudem sei es für Musliminnen nicht üblich, sich solchen Gruppen anzuschließen. Das liege zum Teil am konservativen Charakter der Glaubensgemeinschaft, sagt Hamsa, „jetzt möchte ich das Netzwerk so gut unterstützen, wie es mich damals unterstützt hat. Wir sitzen alle im selben Boot!“
In ganz Kerala sind Tausende Frauen wie Zeenath Hamsa die Stütze von Kudumbashree. Sie haben andere Frauen aus Randgruppen und Minderheiten mobilisiert, sich weitergebildet, Neues gelernt, sich selbstständig gemacht und ihren Teil zum Erfolg beigetragen, indem sie zu Botschafterinnen eines neuen weiblichen Selbstvertrauens der indischen Landbevölkerung geworden sind.
Oder, wie es jüngst eine Kollegin von Zeenath Hamsa ausdrückte: „Wenn man einen Mann ausbildet, bildet man nur eine Person aus – aber wenn man eine Frau ausbildet, bildet man die ganze Familie aus.“ ---
Was ist Kudumbashree?
Kudumbashree ist ein Netzwerk von heute fast fünf Millionen Frauen. Es beruht auf einer Initiative des kommunistisch regierten Bundesstaates Kerala aus dem Jahr 1997 — als Reaktion auf die Krise in der Landwirtschaft und die Diskriminierung von Frauen. Ziel von Kudumbashree ist die Beseitigung der Armut und eine stärkere Rolle der Frau in der Gesellschaft. Zu diesem Zweck fördert die Regierung kleine Gruppen unternehmerisch aktiver Frauen. Die Organisation gilt landesweit als Vorzeigebeispiel.
Im Aufbau von Kudumbashree spiegelt sich die Seele der indischen Bürokratie wider. Stark vereinfacht, ist das Netzwerk organisatorisch so aufgebaut: Alles beginnt mit der Gründung einer Nachbarschaftsgruppe (NHG) von zehn bis zwanzig Frauen, wobei jede Familie nur eine Frau entsenden darf. Auf dieser Ebene bilden sich dann auch die fünfköpfigen Frauengruppen (JLG). Mehrere NHGs indes können sich organisatorisch zu einer Area Development Society (ADS) zusammenschließen, die wiederum Eingang in eine Community Development Society (CDS) findet. Jede dieser Einheiten arbeitet auf ihrer Ebene mit lokalen Behörden zusammen, die Teil des indischen Panchayat-Systems sind – eine Art Dorfrat, nur komplizierter. Offiziellen Angaben zufolge ist Kudumbashree in mehr als 300.000 NHGs organisiert, die sich zu 20.000 ADSs und etwa 1.100 CDSs in Kerala zusammengeschlossen haben.
Finanziert wird Kudumbashree 2024/25 mit knapp 30 Millionen Euro durch die Landesregierung von Kerala. Daneben hat das Großprojekt noch Seitentriebe, für die aus allerlei Töpfen vom Staat und anderen Körperschaften weitere Millionen zusammenkommen. Aufgrund der komplexen Zusammensetzung ist die exakte Summe der Zuwendungen unbekannt.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 erwirtschaften die Frauen des Kollektivs im Jahr rund 430 Millionen Euro. Heute geht man von rund 560 Millionen Euro aus. 2015 lag das Durchschnittseinkommen eines Mitglieds bei rund 230 Euro. Zum Vergleich: Über ganz Indien hinweg lag das Einkommen landwirtschaftlicher Haushalte im Jahr 2019 bei durchschnittlich 110 Euro im Monat.
Eine der wichtigsten Aktivitäten ist die Entwicklung von Kleinstunternehmen von Frauen, meist in der Landwirtschaft – so wie jener von Mini Santosh. Aktuell bewirtschaften die Frauen mehr als 100.000 Betriebe, darunter viele kleine, aber auch größere wie das Café Kudumbashree mit mehr als 1.000 Filialen in ganz Kerala. Der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung ist in Kerala zwischen 2005 und 2022 stark gestiegen – von 38 auf 58 Prozent.
Die Landwirtschaft
sorgt in Indien aktuell für rund 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Die IT-Industrie, für die Indien weltweit bekannt ist, machte in den vergangenen Jahren nur halb so viel aus, rund 8 Prozent des BIP. Indien ist der weltweit größte Produzent von Milch, Hülsenfrüchten und Jute und Nummer zwei bei Reis, Weizen, Zuckerrohr, Erdnüssen, Gemüse, Obst und Baumwolle. Die Landwirtschaft und dazugehörige Sektoren sind die wichtigste Quelle für den Lebensunterhalt in Indien. 70 Prozent der ländlichen Haushalte sind hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht abhängig, 82 Prozent der Landwirte sind Kleinbauern. Landesweit arbeiten rund 250 Millionen Menschen unmittelbar in der Landwirtschaft, knapp die Hälfte aller aktiver Arbeitskräfte.
Zwar ging die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor zwischen 2004 und 2018 um 67 Millionen zurück, da viele in besser bezahlte Jobs in der Industrie und im Dienstleistungssektor wechselten. In den Folgejahren aber stieg die Zahl der Landwirte wieder um 60 Millionen, da nicht ausreichend Jobs in anderen Branchen entstanden sind.
Proteste
Viele Bäuerinnen und Bauern können kaum von ihrer Arbeit leben und sind hoch verschuldet. Manche nehmen sich aus Verzweiflung das Leben: Der Bundesstaat Maharashtra verzeichnete 2023 mit 2708 die meisten Suizide von Landwirten. An zweiter Stelle lag der südliche Bundesstaat Karnataka mit mehr als 1.300 Todesfällen durch Suizid. Zu den Hauptgründen zählen Verschuldung und Konkurs.
Im Jahr 2020/21 protestierten Landwirte in Delhi gegen eine Agrarreform und die Liberalisierung des Marktes. Geplant war unter anderem die Abschaffung des staatlich garantierten Mindestpreises für Reis und Weizen. Gängiges Mittel der Demonstranten ist die Blockade von Bahnstrecken und Straßen. 2021 kam es dabei in Delhi zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Bauern forderten einen Mindestabnahmepreis, der 50 Prozent über ihren Produktionskosten liegt. Das hatte zuvor schon 2006 ein von der Regierung eingesetztes Expertengremium verlangt. Außerdem forderten sie den Erlass von Schulden, Renten für Landwirte über 60, eine deutliche Lohnerhöhung sowie eine Beschäftigungsgarantie für 200 Tage pro Jahr. Und dass Indien aus der Welthandelsorganisation austreten solle. Die Mehrheit der protestierenden Bauern stammt aus dem wohlhabenden Punjab. Das mag an der geografischen Nähe zur Landeshauptstadt Delhi liegen, aber auch daran, dass sich die dort besser gestellten Bauern professioneller organisieren und politisch engagieren können.
Frauen
stellen offiziell in Indien knapp ein Drittel der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte. Da sie aber oft als unbezahlte Helferinnen ihres Ehemannes arbeiten, dürfte die tatsächliche Zahl weitaus größer sein. Schätzungen sehen die weibliche Erwerbsbeteiligung bei rund zwei Dritteln – weit mehr als in allen anderen Sektoren. Das liegt auch daran, dass immer mehr Männer zum Arbeiten in die Metropolen abwandern. Die Frauen bleiben zurück und übernehmen die Arbeit in der Landwirtschaft.
Diese Serie wird gefördert vom European Journalism Centre, im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
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