Lothar Seiwert & Teresa Bücker

Die Arbeitszeiten sind kurz wie nie, viele müssen nur noch selten ins Büro und haben intelligente Maschinen, die ihnen bei vielen Tätigkeiten helfen. Warum nur sind alle immer so gehetzt?






Foto: Flatiron Building, © Peter Neusser

• Der Ökonom John Maynard Keynes blickte 1928, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, weit in die Zukunft. In hundert Jahren werde unser Lebensstandard dank des technischen Fortschritts „vier- bis achtmal so hoch sein“, prophezeite er in einem Vortrag. Und sobald die materiellen Bedürfnisse befriedigt seien, könnten die Menschen frei von Zeitdruck leben: Statt wie damals üblich rund 50 Stunden an sechs Tagen die Woche zu schuften, würden 15 Wochenstunden genügen. Und statt nach Besitz und Reichtum zu streben, würden die Menschen sich dann vor allem damit beschäftigen, wie sie ihre Freizeit gestalten.

Fast ein Jahrhundert später ist der Lebensstandard tatsächlich um ein Vielfaches gestiegen. Und zugleich ist die wöchentliche Arbeitszeit gesunken, auf durchschnittlich 35 Stunden. Doch Zeitwohlstand ist nach wie vor eine Utopie: Jeder Vierte hierzulande ist laut Umfragen häufig gestresst. Rund ein Drittel hat das Gefühl, zu wenig Zeit für Familie und Freunde zu haben. Das gilt nicht nur für Deutschland: Fast die Hälfte der Beschäftigten in der EU gibt an, extremem Zeitdruck ausgesetzt oder überlastet zu sein.

Wie kann das sein, obwohl heute viele im bequemen Homeoffice sitzen, statt in der Fabrik zu schuften? Die Mehrheit am Wochenende frei hat? Und ein Mensch in Deutschland im Wochenschnitt über fast sechs Stunden Freizeit pro Tag verfügt?

Darauf gibt es verschiedene Antworten. Ein Experte für Zeitmanagement sieht das Thema anders als eine Rechtsanwältin, bei der alles zusammenkam: die Selbstständigkeit, drei kleine Kinder und ein Buchauftrag. Was sagt die Wissenschaft zu wahrer und wahrgenommener Zeitarmut? Und was ein Mensch, der durch einen schweren Motorradunfall zur Entschleunigung gezwungen wurde?


Foto: »Fifth Avenue Frieze« aus der Serie Lunch Pictures 1999 - 2007, Courtesy Micamera Milano, © 2015 Gus Powell


Foto: »Pursuits« aus der Serie Lunch Pictures 1999 - 2007, Courtesy Micamera Milano, © 2015 Gus Powell

Weniger Druck machen

Lothar Seiwert beschäftigt sich seit den Achtzigern mit Zeitmanagement. Er hat Dutzende Ratgeber geschrieben und gibt sein Wissen in Vorträgen und an Firmen weiter. Man hätte ihn gern in Neustadt an der Weinstraße besucht, aber das ging terminlich nicht: Der 70-Jährige ist im Oktober viel unterwegs. Also Zoom. Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit betritt Seiwert den Warteraum.

Eines stellt er gleich klar: „Zeitmanagement ist eigentlich ein falscher Begriff. Wir können Zeit nicht managen – sie verrinnt, ob wir wollen oder nicht.“ Nur uns selbst könnten wir managen. Wie und wofür, das habe sich in den vergangenen 40 Jahren gewandelt. „Früher war der Ansatz eher materialistisch: Wie kann ich noch mehr in weniger Zeit wegarbeiten?“, sagt er. Inzwischen gehe es eher darum, mehr Raum für Familie, Freunde und sich selbst zu schaffen.

In den Achtzigern wurden noch Briefe verschickt, heute blinken im Minutentakt Benachrichtigungen auf. „Ein Problem ist, dass die Kommunikationswege sich exponentiell vermehrt haben.“ Wir erhielten weiterhin Post, aber auch Mails und immer mehr Whatsapp- und Social-Media-Nachrichten. Die hohe Taktung und Komplexität – Seiwert spricht von „Dynaxity“ – setze die Menschen unter Druck.

Was also tun? In der heutigen Welt, schreibt er in einem seiner Bücher, nähmen dringende, aber unwichtige Dinge „den größten Teil unseres Zeitbudgets in Anspruch“, etwa eine alltägliche Mail, auf die das Gegenüber eine zügige Antwort erwartet. Dabei verlören wir die wichtigen Dinge, unsere langfristigen Ziele, aus dem Auge.

„Außer bei der ärztlichen Notbereitschaft gibt es keinen Grund, ständig erreichbar zu sein“, sagt er. Und wenn der Chef um 22 Uhr noch eine Mail schickt? „Da frage ich immer: Warum schaust du dir das überhaupt an?“ Womöglich nicht ganz leicht für Arbeitnehmer in einem Abhängigkeitsverhältnis. Müsste man nicht eher der Firma Regeln auferlegen?

„Warten Sie“, sagt Seiwert und zeichnet drei Strichmännchen, die er 1, 2 und 3 nennt. „1 hat immer wenig zu tun, 2 irrsinnig viel und 3 mittelmäßig. Jetzt bin ich der Chef und habe kurz vor dem Wochenende Arbeit, die bis Montag erledigt werden muss. Wer von den dreien kriegt die auf den Tisch?“ Als man antwortet, dass er wohl auf Nummer 2 hinauswolle, ruft er: „Jawohl! Und an wem liegt es, ob Sie zur Kategorie 1, 2 oder 3 gehören?“

Klar gebe es äußere Umstände – Chefs, Kunden, familiäre Verpflichtungen –, sagt Seiwert, „aber es ist meine Überzeugung, dass es primär an uns selbst liegt, ob wir uns stressen lassen“.

Er plädiert dafür, gerade unter Zeitdruck einen Gang runterzuschalten – und öfter mal nichts zu tun. Mittlerweile sei er weitgehend im Ruhestand, arbeite aber schon seit 20 Jahren nur vier Tage die Woche. Auszeiten seien wichtig, sagt Seiwert. Aber wie verhindert man, dass wir Freiräume umgehend mit neuen Aufgaben füllen und, statt uns zu entspannen, die Steuer erledigen? Auch das ist für ihn eine Prioritäten-Frage. Er hält einen Brieföffner vor die Kamera: „Ich kann damit einen Brief aufschneiden – oder jemandem in die Hand.“ So sei es auch mit Zeitmanagement. Man könne damit Raum für Familie, Freunde und sich selbst schaffen. Oder sich noch mehr draufpacken.

Einen anderen Blick auf das Thema hat Teresa Bücker. „Zu wenig Zeit zu haben ist kein individuelles Problem, es ist gesellschaftlich erzeugt“, schreibt die Publizistin in ihrem Buch „Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“. Viele Menschen hätten gar nicht die Möglichkeit, Aufgaben abzugeben. Wie soll eine Alleinerziehende oder jemand, der seine Eltern pflegt, Nein sagen?

Und während sich wohlhabende Menschen Zeit „freizaubern“ könnten – etwa durch eine Putzhilfe, deren Arbeitszeit geringer bezahlt werde –, hätten andere diese Möglichkeiten nicht. Frei verfügbare und nutzbare Zeit sei ein Privileg der oberen Klassen.

Auch ihr ist das Paradox nicht entgangen, dass die Menschen heute statistisch betrachtet so wenig arbeiten wie nie zuvor – und zugleich über Zeitmangel klagen. Bücker weist darauf hin, dass heute viel mehr Menschen in Teilzeit tätig sind. Zwischen 1991 und 2022 hat sich die Quote mehr als verdoppelt, das drückt die durchschnittliche Arbeitszeit. Betrachtet man nur Vollzeit-Erwerbstätige, zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes, dass ihre Arbeitszeit – 40,4 Stunden im Schnitt – in den vergangenen drei Jahrzehnten fast konstant geblieben ist.

Aber auch 40 Stunden sind weniger als die Wochenarbeitszeit, die zu Keynes Zeiten üblich war. Dass sich trotzdem so viele Menschen von der Uhr unter Druck gesetzt fühlen, liegt für Bücker unter anderem an der gestiegenen Arbeitsintensität: 40 Prozent der Beschäftigten hierzulande gaben 2021 an, ihre Aufgaben seien in der regulären Arbeitszeit nicht zu schaffen. Letztere dehnt sich zudem aus: Knapp jeder Fünfte arbeitet laut Umfragen abends, 40 Prozent regelmäßig am Wochenende. Und die ständige Erreichbarkeit lässt ein Drittel von ihnen auch nach Feierabend nicht abschalten.

Bücker merkt an, dass auch unsere Freizeit voller Verpflichtungen sei, etwa die unbezahlte Sorgearbeit, die nach Dienstschluss und am Wochenende geleistet werde – nach wie vor zum Großteil von Frauen, die auch deshalb öfter in Teilzeit arbeiten. Zudem litten wir unter einem Produktivitätszwang: Beschäftigtsein sei heute ein Statussymbol, eine „immaterielle Währung“, schreibt Bücker. „Wer nicht das meiste aus der eigenen Zeit herausholt, versagt.“

Das zeigt sich besonders in den sozialen Medien. Dort kann man Influencer dabei beobachten, wie sie ihren Tag um fünf Uhr morgens mit einem Workout beginnen, sich ein Frühstück zubereiten, das auch in einem In-Café im Prenzlauer Berg serviert werden könnte, und sich dann perfekt zurechtgemacht an ihren Laptop setzen, um den Rest des Tages produktiv zu sein. Die Botschaft: Nur wer in jeder Situation Besonderes leistet, ist etwas wert.


Foto: Seagram Building, © Peter Neusser


Foto: »Gray Exit« aus der Serie Mise en Scene, 2011-2023, Courtesy Micamera Milano ©2023 Gus Powell

Die Kehrseite der Produktivität

Wie konnte es dazu kommen? Und warum tun wir uns so schwer mit dem Müßiggang? Früher war das ganz anders. In den vorindustriellen, agrarischen Gesellschaften, so der Soziologe Jürgen Rinderspacher, war der Tag der meisten Menschen ausgefüllt mit schwerer Arbeit, Unterhaltung und Geselligkeit sowie Ruhephasen. Die Industrialisierung veränderte das radikal. Im Laufe der Jahrzehnte verringerte sie die Armut und erhöhte Lebensstandard sowie -zeit.

Doch der frühe Kapitalismus wirkte auf die Menschen, die in Massen vom Land in die Stadt zogen und bis zu 16 Stunden täglich in den neuen Fabriken arbeiteten, wie ein Freiheitsentzug. Anders als in den bäuerlichen Betrieben und im Handwerk durfte der Arbeiter nun nicht mehr Anspannung und Entspannung nach eigenem Rhythmus abwechseln. Die Fabrikherren drohten in ihrer Hausordnung für „Kartenspielen und faules Gerede“ drakonische Strafen an. Diese Fremdbestimmung löste heftige Konflikte aus, bis die Gewerkschaften eine Reduzierung der Arbeitszeiten erkämpften, den geregelten Feierabend, das freie Wochenende und einen Anspruch auf Urlaub, die sogenannte Freizeit.

Durch die Industrialisierung – das ist für die Erklärung der heute gefühlten Zeitarmut wichtig – wurde Zeit ein knappes Gut. Um die Produktivität zu erhöhen, strebten die Unternehmen nach optimaler Ausnutzung aller Ressourcen. Daraus entstand laut Rinderspacher ein Paradox: je effizienter eine Gesellschaft, desto größer die Zeitknappheit. Das erklärt, warum – anders als von Keynes angenommen – der technische Fortschritt nicht zu mehr Entspannung führte. Denn wenn die Zeit besonders wertvoll ist, steigt der Druck, sie sinnvoll zu nutzen.

Diese Logik galt bald nicht mehr nur für die Fabrikbesitzer, sondern wurde in den sich rasant entwickelnden Industrieländern zur allgemeinen Lebensanschauung. Wie sich dies auch auf das Privatleben auswirkte, beschreibt Rinderspacher so: „Jede Minute ist kostbar und soll einen irgendwie gearteten Nutzen beziehungsweise einen bewusst arrangierten Genuss bringen; einfach aus dem Fenster auf die Straße zu schauen gilt nun (…) als eine gesellschaftlich gering geachtete Tätigkeit.“

Das zeitökonomische Paradox gibt einen Hinweis darauf, warum uns das Nichtstun so schwerfällt. Aber es erklärt nicht, warum heute viele Menschen, die vermeintlich selbstbestimmt über ihre Zeit verfügen, diese vor allem in ihren Job investieren. Eine, die dazu viel sagen kann, ist die Rechtsanwältin Cordula Schah Sedi. Die 60-Jährige ist lange durchs Leben gehetzt. Und vertritt Mandanten, die infolge eines Unfalls ihren Beruf nicht mehr wie gewohnt ausüben können und plötzlich vor der Frage stehen, wie sie ihren Tag ausfüllen sollen.

„Gibt es überhaupt jemanden, der die Zeit zum Freund hat?“, fragt sie an einem Oktobermorgen in ihrem Backsteinhaus in einem mecklenburgischen Dorf. Vom Wohnzimmer blickt man durch die Fensterfront auf einen See. Direkt vor dem Haus dreht auf einer großen, saftig-grünen Rasenfläche ein Mähroboter gemächlich seine Runden, während Schah Sedi von ihrer ebenso erfüllenden wie aufzehrenden Karriere erzählt. Jura- und Wirtschaftsstudium in Göttingen, Referendariat am Landgericht Aurich, Umzug nach Mecklenburg, wo sie 1996 mit ihrem Mann an zwei Standorten ein Anwaltsbüro eröffnet. Arbeit von frühmorgens bis in die Nacht, sieben Tage die Woche, egal, eine super Zeit, viele neue Mandanten, Flow.

1998 kommt das erste Kind zur Welt. 2001 folgen Zwillinge. Beide Geburten per Kaiserschnitt. Schah Sedi sitzt beide Male wenige Stunden zuvor noch am Schreibtisch, wenige Stunden danach lässt sie sich von ihrem Mann Akten ins Krankenhaus bringen. Den Geburten folgt eine Zeit mit viel Stress und wenig Schlaf, jahrelang. Eine Putzfrau macht sauber, eine Tagesmutter und ein Au-Pair-Mädchen kümmern sich um die Kinder, am frühen Abend übernimmt Schah-Sedi, am späten Abend arbeitet sie oft noch zwei, drei Stunden. „Ich war physisch kaputt“, sagt die Anwältin heute. Die Kinder sind noch klein, da bekommen die Schah Sedis das Angebot, ein Fachbuch zum Thema Personenschadensregulierung zu schreiben – die Chance, überregional bekannt zu werden. Zeit haben sie keine, trotzdem schreiben sie zwei Jahre an dem Buch, wenn die Kinder im Bett sind.

Ihre Kanzlei existiert bis heute. Die Kinder sind über 20 und aus dem Haus, studieren. Cordula Schah Sedi arbeitet neuerdings weniger, sie verzichtet auf Geld, um mehr Zeit zu haben – für ihre Kinder, deren Studienarbeiten sie regelmäßig liest, und für sich und ihren Mann. Warum erst jetzt?

Ihre erste Antwort lautet: „Es ging früher nicht.“ Es habe niemanden gegeben, der sie hätte vertreten können. Jede Akte müsse sorgfältig bearbeitet werden. „Wenn ich etwas mache, dann gründlich.“ Es gehe schließlich um die Zukunft der Mandanten. Weniger arbeiten hätte erfordert, Aufträge abzulehnen, aber das hätten sie sich damals als junge Selbstständige nicht leisten können.

Am Ende des Gesprächs gibt sie, nach einigem Nachdenken, eine zweite Antwort: „Aus der Distanz betrachtet, wäre es natürlich gegangen, aber ich war zu eng im Kopf.“ Jede Generation wachse in einer Box auf, die ihre Sicht beschränkt. In ihrem Elternhaus sei das Geld immer knapp gewesen, daher hätten ihre Eltern gewollt, dass sie Jura studiert, ein Fach, das einen sicheren Beruf und Wohlstand versprach. „Arbeit war mir immer unglaublich wichtig.“ Rückblickend hätte sie gern mehr Zeit für die Kinder gehabt. Das schlechte Gewissen begleitet sie nun.

Wenn Menschen bis zur Erschöpfung arbeiten, obwohl sie keine finanzielle Not leiden, tun sie das also keineswegs ganz freiwillig. Das persönliche Umfeld, aber auch gesellschaftliche Werte spielen eine große Rolle. Wer rastet, der rostet – Sprichwörter, die das ständige Machen idealisieren, gibt es in unserer Kultur zuhauf.

Diverse Studien haben ergeben, dass ab einem bestimmten materiellen Wohlstand eigentlich Gesundheit und soziale Beziehungen die wichtigsten Faktoren für Glück und Zufriedenheit sind. Und doch nehmen wir uns dafür erschreckend wenig Zeit – in den OECD-Ländern im Schnitt gerade mal sechs Stunden pro Woche für Freunde und Familie. Der Soziologe Fritz Reheis macht die Gleichsetzung von Zeit mit Geld für unser irrationales Handeln verantwortlich: 1748 prägte der Erfinder, Schriftsteller und spätere Gründervater der USA, Benjamin Franklin, die Formel „Time is money“ – sie blende den ökonomisch nicht verwertbaren Teil des Lebens aus und treibe systematisch Hetzen und Ausbrennen von Mensch und Natur an.

Die Rechtsanwältin Schah Sedi sagt, ein Drittel ihrer Mandanten äußern früher oder später Sätze wie „So konnte es ja nicht weitergehen. Der Unfall musste sein, damit ich aufhöre, durchs Leben zu rennen.“ Ein Schicksalsschlag als Ruhestifter und Augenöffner für ökonomische Zwänge.

Aber ist es wirklich vor allem das Geld, das die Menschen blind werden lässt für das Wesentliche im Leben?


Foto: UN-Hauptquartier, © Peter Neusser

Plötzlich mehr Zeit als gewollt

Frank Fitzner* sieht das nicht so. Als selbstständiger IT-Spezialist hat der 58-Jährige viele Jahre Infrastrukturen für große Firmen aufgebaut. Er hat von frühmorgens bis spätabends gearbeitet, war viel unterwegs. Bis zu der Nacht, als er von einem Team-Event mit seiner Harley nach Hause fuhr, auf der Landstraße von einer abbiegenden Autofahrerin übersehen wurde und sich einer Unterschenkelamputation unterziehen musste. Vor zehn Jahren war das. Heute arbeitet er als IT-Berater maximal zwei Stunden am Tag, mehr lassen seine Schmerzen und mentale Verfassung nicht zu. Er hat sich einen 3-D-Drucker zugelegt, mit dem er viel experimentiert, und hält sich über IT-Trends auf dem Laufenden. Aber wenn sein Beinstumpf wieder so wund ist, dass er die Prothese nicht anlegen kann und im Rollstuhl herumsitzt, wollen die Stunden einfach nicht vergehen.

Fitzner gehört nicht zu denen, die ihr altes Leben grundsätzlich hinterfragen. Ja, es sei zeitweise sehr stressig gewesen, aber er habe trotzdem oft seinen Sohn zur Schule gebracht. Ja, er hätte vielleicht nicht immer Vollgas geben müssen. „Aber ich bin eben auch ein Macher.“ Gibt es etwas, für das er im Rückblick mehr Zeit investiert hätte? Im Videogespräch hadert Fitzner. Er will dem Unfall nichts Positives abgewinnen. Doch dann beginnt er von seiner Frau zu erzählen, dass er sie früher in der Woche kaum zu Gesicht bekommen habe und jetzt eine viel intensivere Beziehung mit ihr führe, dass ihm erst jüngst bewusst geworden sei, dass sie unter seiner Arbeitswut gelitten hat. Was hat ihn getrieben?

Er erzählt von einem Samstag, er war mit seiner Frau beim Einkaufen, als sein Handy klingelte. Ein IT-Problem in einem Konzern. Die Riege der angestellten Informatiker war ratlos. Die Zentrale lag lahm. Fitzner machte sich sofort auf zum Flughafen. Im Konzern angekommen, verteilte er Aufgaben für die systematische Fehleranalyse. Wenige Stunden später war das Problem behoben. „Sich solchen Herausforderungen zu stellen und eine Lösung zu finden“, sagt er, „ist ein unbeschreiblich geiles Gefühl.“

Wirksamkeit, Erfolg, Anerkennung – danach streben viele, und in unserer ökonomisch geprägten Gesellschaft zählt vor allem das, was man in der Erwerbsarbeit leistet. Der Soziologe Rinderspacher hält es für müßig, die Zeit noch effizienter nutzen zu wollen, um endlich zu entspannen oder andere Dinge für mehr Lebensfreude tun zu können. Besonders angenehm empfänden wir Momente, in denen die Zeit gar nicht bemerkt würde, in denen sie stillzustehen scheint. In den Genuss dieses Zeitwohlstands kämen wir, indem wir die Zeit nicht mehr, sondern weniger bewirtschafteten – ähnlich wie bei einer Landschaft, die lange ausschließlich Agrarfläche war und im Zuge einer Renaturierung als wirtschaftliches Areal nicht mehr verfügbar ist. Freie Feierabende und Wochenenden, durch moderne technische Möglichkeiten verstärkt unter Druck geraten, gelte es unbedingt zu erhalten oder zurückzugewinnen.

Teresa Bücker sieht das ähnlich. In unserer heutigen Gesellschaft, in der wir fast rund um die Uhr arbeiten können, verschwänden „kollektive Zeitinstitutionen“: gemeinsam freie Zeiten, die wir mit der Familie und Freunden verbringen. Sie plädiert in ihrem Buch für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung und stellt als Denkanstoß das Modell der Soziologin Frigga Haug vor: vier Stunden Erwerbsarbeit pro Tag, vier Stunden Sorgearbeit, vier Stunden kulturelle Arbeit, vier Stunden politische Arbeit (siehe auch brand eins 06/2023 „Ich arbeite, also bin ich?“)

Man kann über solche Modelle streiten, zweierlei aber scheint im Kampf gegen die Zeitarmut unausweichlich: Löhne, die hoch genug sind, sodass niemand mehr als acht Stunden am Tag arbeiten muss, um überhaupt über die Runden zu kommen. Und ein kritischer Blick aus der Vogelperspektive: Widme ich meine Zeit den wirklich wichtigen Dingen? Was macht das gute Leben aus?

Fragen, die zu relevant sind, um das Nachdenken darüber auf eine To-do-Liste zu schreiben. --

*Er möchte anonym bleiben, daher wurde der Name geändert.

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