Ich arbeite, also bin ich?

Ist der hohe Wert, den wir der Erwerbsarbeit zusprechen, noch angemessen? Drei kritische Perspektiven.

Text: Anabelle Körbel
Fotografie: Felix Hüffelmann, Julian Baumann und Oliver Helbig



• Wir leben in einer Gesellschaft, in der Arbeit mehr sein soll als eine finanzielle Notwendigkeit: Wir sind auf der Suche nach dem Traumjob, in dem wir uns verwirklichen können. Menschen, die wir treffen, sortieren wir anhand ihrer Berufe blitzschnell in Kategorien – kaum ein Kennenlernen, das ohne die Frage auskommt: „Und, was machst du?“

Das ist die eine Seite. Auf der anderen sind viele Menschen mit ihrer Arbeit unglücklich. Etwa wegen der hohen Belastung, des Zeitdrucks und der zunehmenden Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben. In den USA haben zwischen Januar 2021 und Februar 2022 knapp 57 Millionen Menschen ihre Jobs hingeschmissen. So viele, dass das Phänomen einen eigenen Namen bekam: The Great Resignation. Auch hierzulande will trotz schwächelnder Konjunktur jeder dritte Angestellte kündigen, heißt es in einer McKinsey- Umfrage. Und knapp die Hälfte der Beschäftigten möchte laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin weniger als fünf Tage die Woche arbeiten. Ihnen gegenüber stehen Menschen wie Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der angesichts des Fachkräftemangels mehr Wochenstunden und „Bock auf Arbeit“ fordert.

In den vergangenen Monaten sind drei Bücher erschienen, die den Stellenwert von Arbeit hinterfragen. Die Soziologin Nadia Shehadeh fordert in „Anti-Girlboss“ dazu auf, auf „passion“, „purpose“ und Karriere zu pfeifen. Die Journalistin Sara Weber, die ihren Job nach einem Burnout kündigte, propagiert in „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ verkürzte Arbeitszeiten. Und Teresa Bücker, eine der bekanntesten feministischen Stimmen hierzulande, skizziert in „Alle Zeit – eine Frage von Macht und Freiheit“ eine neue Arbeitskultur, die mehr Raum für Beziehungen, Selbstfürsorge und gesellschaftliches Engagement lässt.

Schluss mit Purpose

„Ein halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter Tag bei der Arbeit.“ – Nadia Shehadeh

Sie sei ein Anti-Girlboss aus Überzeugung, sagt Nadia Shehadeh über sich selbst. Damit bezieht sie sich auf die Bewegung, die in den 2010er-Jahren von der US-Unternehmerin Sophia Amoruso und ihrem Buch „Girlboss“ angestoßen wurde. Kurz zusammengefasst lautet die Botschaft: Jede Frau kann es nach ganz oben schaffen, wenn sie nur ehrgeizig genug ist.

Shehadeh hält das für Unsinn. „Wir kennen doch die Zahlen: zur geringen sozialen Mobilität in Deutschland, zum Gender Pay Gap, zur unbezahlten Care-Arbeit“, sagt sie im Videogespräch. Die Erfolge einzelner Frauen wie Amoruso, die mit dem Online-Store Nasty Gal reich wurde, änderten nichts an grundlegenden Ungerechtigkeiten. Stattdessen schöben sie die Schuld dem Individuum zu: Wenn du nicht gut bezahlt wirst, liegt das an deiner mangelnden Disziplin.

Besonders in den sozialen Medien werden Girlbosse gefeiert. Dort sieht man einige, die ihren Tag um fünf Uhr morgens mit Zitronenwasser, Meditation und Sport beginnen, um sich dann perfekt gestylt an den Laptop zu setzen und ihr Business voranzubringen. „Ich schaue mir so was auch manchmal an“, gibt Shehadeh zu. „Die Idee ist ja auch verführerisch: Du musst nur das und das machen, und alles wird gut.“ Aber das sei ein Trugschluss.

Die Soziologin berät in Bielefeld hauptsächlich junge Menschen bei der Berufsplanung, etwa wenn sie eine Ausbildung beginnen wollen. In ihrer Arbeit habe sie gelernt, schreibt sie, dass „Erfolg in den meisten Fällen nur einer erlesenen Personengruppe zugänglich“ ist. Etwa denjenigen, die in einem wohlhabenderen Elternhaus groß geworden sind. So ordnet sie sich auch selbst ein: Als Tochter eines Arztes mit palästinensischen Wurzeln und einer deutschen Hausfrau sei sie „gepudert“ aufgewachsen.

Shehadeh stört sich daran, dass Arbeit heute romantisch aufgeladen sei: „Wie der richtigen Partnerin oder dem richtigen Partner soll man auch der ‚richtigen‘ Stelle hinterherjagen und seiner Arbeit mit Passion nachgehen.“ Da man diese „Liebe“ vom Job aber nicht zurückbekomme, opfere man sich einseitig auf. Den Ursprung sieht Shehadeh in der Reformation: Seit Martin Luthers Beruf als Berufung werde Arbeit nicht mehr als reine Notwendigkeit angesehen. Die Erwartung, dass man den Job auch noch lieben soll, habe sich im 20. Jahrhundert entwickelt, schreibt sie in ihrem Buch: Damals habe die Oberschicht – die vorher lieber andere für sich hatte schuften lassen – begonnen, selbst viel zu arbeiten und dieses Lebensmodell anzupreisen.

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Heute wollen gerade jüngere Menschen den Job nicht mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen – auch, weil man sich Wohlstand anders als zu Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders kaum noch erarbeiten kann. Im Juli 2022 ging ein Tiktok-Video viral, in dem ein 24-Jähriger zum Dienst nach Vorschrift aufrief: „Man erfüllt immer noch seine Pflichten, aber man unterwirft sich nicht mehr der Mentalität der Hustle-Kultur, dass Arbeit das Leben sein muss.“ Shehadeh findet die „Quiet Quitting“-Bewegung sehr sympathisch. Viele Menschen wollen einfach ihren Job erledigen und pünktlich Feierabend machen, sagt sie. Dazu zählt sie auch sich selbst. Chillen ist für Shehadeh politisch, denn: „In den Momenten, in denen wir auf der Couch liegen, kann unsere Arbeitskraft nicht ausgebeutet werden.“

Ihr Buch wird als „Plädoyer für das gute Leben in der Komfortzone“ beworben. Aber wie soll man als Frau eine Chance auf finanzielle Unabhängigkeit haben, wenn man ohne Ambitionen ins Berufsleben geht und eine Familie gründen will? Oft arbeitet dann die Person mit dem höheren Gehalt (meist der Mann) in Vollzeit, und die andere reduziert die Stunden. „Sobald man sagt, dass man keine Karriere machen möchte, denken viele, man wählt das Hungertuch. Das stimmt aber nicht: Die Realität der meisten Menschen ist ein ganz normaler Job“, sagt Shehadeh. Finanzielle Selbstbestimmung sei selbstverständlich wichtig. „Umso wichtiger ist es, zu verstehen, dass nicht das individuelle Streben nach Erfolg das Allheilmittel ist – sondern gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne.“

Shehadeh ist neben ihrem Vollzeitjob noch Autorin. Inwiefern, fragt man sich da, „… widerspricht mein Lebensstil meiner These?“, vollendet sie den Satz und lacht. „Es ist definitiv ambivalent, dass ich das durchschnittliche Leben predige und dann ein Buch schreibe. Aber ich schreibe aus Spaß, nicht, um mir daraus eine Karriere zu stricken.“ Sie habe das große Privileg, dass ihre Arbeit ihr noch Kraft und Zeit für dieses „Jobby“ lasse – so nennt sie ihre Autorinnentätigkeit.

War sie eigentlich besorgt, was ihre Vorgesetzten zu Sätzen wie: „Ich arbeite, weil ich muss. Ich mache Feierabend, sobald ich kann.“ sagen würden? Das habe sie beim Schreiben schon beschäftigt, sagt Nadia Shehadeh. „Aber ich weiß auch: Ich mache meinen Job sehr gut. Und so wie mir geht es vielen, also spreche ich das einfach mal aus.“

Nadia Shehadeh, 43, ist Soziologin. Sie arbeitet in der Jugendberufshilfe und als Autorin: Seit 2010 betreibt sie den Blog »Shehadistan«, sie ist Kolumnistin bei »nd« und Mitautorin des Buchs „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Ihre Schwerpunkte fasst sie so zusammen: „Feminismus, Rassismus und Pop-Kultur“. Im Februar 2023 erschien ihr Buch „Anti-Girlboss: Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen“ im Ullstein-Verlag.

Die Spielregeln ändern

„Wie wir heute arbeiten, macht uns krank. Ich verstehe alle, die keinen Bock mehr darauf haben, sich für ihren Job kaputt zu machen.“ – Sara Weber

Chefredakteurin des Jahres 2019. Redaktionsleiterin bei Linkedin. Wenn man es an ihren damaligen Titeln misst, hätte es für Sara Weber kaum besser laufen können. „Aber innen drin hat es sich oft ganz anders angefühlt“, schreibt sie in ihrem Buch. Sie sei müde gewesen. So müde, dass sie ihren Job im April 2021 wegen eines Burnouts kündigte. Zwei Jahre später sitzt Weber in einem Berliner Café und scheint nur so vor Energie zu strotzen. Nach ihrem Ausstieg bei Linkedin nahm die Deutsch-Amerikanerin eine siebenmonatige Auszeit. Sie besuchte Familie in den USA, traf Freundinnen, las viel. Und sie dachte darüber nach, warum die Arbeit so viele Menschen erschöpft – sie selbst spricht von einem „kollektiven Burnout“.

Für Weber war die Pandemie ein Beschleuniger. Während andere Bananenbrot backten oder ihren grünen Daumen entdeckten, arbeitete sie durch. Machte kaum noch Pausen. Hangelte sich von Meeting zu Meeting. „Ich dachte: Wenn man eh nichts unternehmen kann, arbeite ich halt. Da gibt es immer etwas zu tun.“ Sie war damals für ein Team von sechs Personen und unter anderem für die aktuelle Berichterstattung verantwortlich, die sich im Pandemie-Chaos ständig selbst überholte. Anfangs habe das Adrenalin sie angetrieben, sagt sie. „Aber dann habe ich gemerkt, wie mich die Nachrichtenlage zermürbte, und dass es mir nicht mehr gelang, von der Arbeit abzuschalten.“

Dass dies die Probleme vieler privilegierter Wissensarbeiterinnen und -arbeiter sind, ist ihr bewusst. Lange habe sie sich gefragt: „Darf ich überhaupt so fühlen, obwohl ich bequem im Homeoffice sitze, mit einem sicheren, gut bezahlten Job?“ Aber auch aus einer privilegierten Position könne Erschöpfung entstehen.

„Ich bin überzeugt, dass sich der Wert von Arbeit in der Pandemie verändert hat“, sagt Weber und nimmt einen Schluck von ihrem Ingwer-Minze-Tee. Das zeigen auch Studien: Während 2016 fast 80 Prozent der Befragten in Deutschland angaben, nach einer hohen Erbschaft weiterarbeiten zu wollen, waren es 2021 nur noch 61 Prozent. „Viele haben gemerkt, was ihnen wirklich wichtig ist – und was nicht.“ Für Weber selbst lautete das Ergebnis: Ich brauche keine Führungsposition mehr, um zufrieden zu sein. Und ich möchte meine Arbeit eher um mein Leben herumplanen als andersherum. Mittlerweile hat sie sich selbstständig gemacht und arbeitet „eher vier als fünf Tage die Woche“.

Sara Weber ist überzeugt, dass eine Vier-Tage-Woche viele Probleme mildern würde: „Wenn Menschen mehr Zeit und Platz im Kopf haben, können sie sich um andere Dinge kümmern“ – um sich selbst und ihre Familie, aber auch um das, was in der Welt passiert. Vor allem: die Klimakrise. „Ich glaube, das kennen wir alle: Stressige Woche, Kopf voll, und dann soll man sich noch mit dem neuen Klimareport beschäftigen? Da denkt sich doch niemand: geil, mach‘ ich.“ Arbeiteten wir weniger, so Webers Argumentation, wäre das anders. Zudem würden wir umweltfreundlichere Entscheidungen treffen, etwa Zug fahren anstatt der Zeitersparnis wegen zu fliegen. Dass kürzere Arbeitszeiten mit weniger Emissionen einhergehen, bestätigen diverse Studien.

Weniger Wochenstunden wären auch gut für die Gesundheit, sagt Weber: Wenn der Job bereits jetzt so viele Menschen erschöpft, könne es keine Lösung für den Fachkräftemangel sein, noch mehr zu arbeiten. Die Forderung nach „mehr Bock auf Arbeit“ findet sie zynisch: „Viele Menschen arbeiten schon jetzt sehr hart. Stattdessen sollte man überlegen: Was bräuchten die Menschen, um gut und gerne zu arbeiten?“ Firmen, die sich dieser Frage annähmen, könnten sich künftig im Wettbewerb um Beschäftigte durchsetzen.

Im Fachkräftemangel sieht Weber eine große Chance für kürzere Arbeitszeiten. „Gerade die jüngere Generation hat keine ,Ich muss froh sein, wenn ich einen Job kriege‘-Mentalität mehr, sondern weiß, dass sie Bedingungen stellen kann. Die Arbeitswelt kann sich verändern, und wir können diesen Wandel mitgestalten.“

Sara Weber, 36, studierte Publizistik und Buchwissenschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule – eines ihrer Praktika absolvierte sie damals bei brand eins. Bis zu ihrer Kündigung im April 2021 war sie Redaktionsleiterin bei Linkedin für deutschsprachige Länder und den Benelux-Raum. Heute arbeitet sie als freiberufliche Autorin und Digitalstrategin. Im Januar 2023 erschien ihr Buch „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ bei Kiepenheuer & Witsch.

Eine neue Zeitkultur

„Wie würde sich unser Blick auf Arbeit verändern, wenn wir fünf Stunden Erwerb und fünf Stunden Care als Normalarbeitstag bezeichnen (…) würden?“ – Teresa Bücker

Es ist gar nicht so einfach, einen Interviewtermin mit Teresa Bücker (Foto links) zu vereinbaren. Die Publizistin ist viel unterwegs, zurzeit auf Lesereise in Freiburg, Düsseldorf und Zürich. Ende April sitzt sie mit Kopfhörern zu Hause in Berlin vor ihrem Laptop. Sie spricht sehr überlegt, nimmt sich Zeit, bevor sie antwortet.

Zeit ist auch das zentrale Thema ihres Buches: wie ungleich diese verteilt ist und wie verschieden ihr Wert bemessen wird. Sie fordert darin eine Abkehr von der bisherigen Praxis, die Erwerbsarbeit ins Zentrum des Lebens stellt. Welche Rolle Arbeit für sie selbst spielt? „Ich arbeite in einem Bereich, in dem berufliche und private Interessen oft verschwimmen: Informiere ich mich über das Weltgeschehen, weil es mich als Person oder weil es mich beruflich interessiert?“, sagt Bücker, die ihre Diskurse umtriebig auf Twitter fortführt. Ihre Arbeitszeit schwanke als Selbstständige stark: Mal seien es 15, mal 50 Wochenstunden.

Bücker kam in der Elternzeit nach der Geburt ihres ersten Kindes ins Grübeln. „Ich habe erst später verstanden, dass ich damals eine Identitätskrise hatte: Meine berufliche Identität war weggefallen, und die Sorgearbeit, die ich leistete, erschien mir nicht wertvoll genug.“ Sie habe damals erkannt, wie schädlich es ist, sich allein durch den Job zu identifizieren.

In ihrem Buch heißt es: Man müsse Anerkennung von Erwerbsarbeit entkoppeln. Wie soll das gelingen, in einer Gesellschaft, in der berufliche Leistung einen so hohen Stellenwert hat? „Ich sage nicht: Man darf auf keinen Fall weiterhin Anerkennung für Erwerbsarbeit bekommen. Aber es ist wichtig, dass man sie auch in anderen Bereichen bekommt.“ Auch, weil einem sonst, wenn der Job wegfällt – etwa durch Elternzeit, Krankheit oder Renteneintritt – wenig bleibe, woraus man seinen Selbstwert zieht. „Und dafür braucht es eine Neuverteilung von Zeit: Solange sich alles um Erwerbsarbeit dreht, ist es schwierig, ein Gegenwicht zu etablieren.“


„Was wäre denn, wenn die Care-Arbeit nicht mehr geleistet wird, weil alle Frauen in Vollzeit arbeiten? Bleiben die Babys dann allein zu Hause?“
Teresa Bücker

Im Buch stellt sie das Modell der Soziologin Frigga Haug vor: vier Stunden Erwerbsarbeit pro Tag, vier Stunden Sorgearbeit, vier Stunden kulturelle Arbeit, vier Stunden politische Arbeit. „Wenn man das Leuten erzählt, sind sie oft irritiert, weil sie denken, alle vier Aufgaben an einem Tag erfüllen zu müssen“, sagt Bücker. „Der Gedanke stresst mich auch.“ Das Modell sei als Denkanstoß zu verstehen – für eine Gesellschaft, die anderen Tätigkeiten dieselbe Zeit und denselben Wert beimisst wie der Erwerbsarbeit.

Ein großes Problem sei, dass nur bezahlte Arbeit als solche anerkannt wird. In Deutschland verbringen Frauen täglich 87 Minuten mehr mit unbezahlter Sorgearbeit als Männer. Weil Frauen öfter Kinder und pflegebedürftige Angehörige betreuen, sind sie häufiger in Teilzeit tätig, finanziell abhängig von ihren Partnern und von Altersarmut bedroht. „Eine Gesellschaft, die sich Gleichberechtigung ins Grundgesetz geschrieben hat, muss dafür sorgen, dass Care-Arbeit fairer verteilt und entlohnt wird“, sagt Bücker. Sie plädiert deshalb für verkürzte Arbeitszeiten mit einem Lohnausgleich für alle. Dadurch würde es für Männer gesellschaftlich akzeptierter, weniger zu arbeiten, und die Care-Arbeit könnte gleichberechtigt aufgeteilt werden.

„Und wer soll das bezahlen? Diese Frage bekomme ich immer wieder gestellt. Ich halte dann entgegen: Was wäre denn, wenn die Care-Arbeit nicht mehr geleistet wird, weil alle Frauen in Vollzeit arbeiten? Bleiben die Babys dann allein zu Hause? Hören wir auf, unsere pflegebedürftigen Eltern zu versorgen?“ Dieses Gedankenexperiment zeige, dass Sorgearbeit essenziell für eine funktionierende Wirtschaft sei.

Wenn es keine 40 Stunden mehr sein sollen – wie viele dann? In ihrem Buch zitiert Bücker eine Berliner Studie, laut der sich die Befragten bereits 1995 die 20-Stunden-Woche wünschten – vorausgesetzt, damit wäre der Lebensunterhalt gesichert. Ist das auch ihr Traum? Teresa Bücker lächelt. „Ich könnte mir das gut vorstellen. Es klingt sehr radikal, aber gerade, wenn man Familie hat, sind 20 Stunden das Maß, das genügend Zeit für andere wichtige Dinge lässt.“

Der Ökonom John Maynard Keynes sagte 1930 voraus, dass wir dank des technischen Fortschritts in 100 Jahren nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Vielleicht rückt diese Utopie nun näher: Einzelne Firmen reduzieren bereits die Stunden, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken spricht sich für eine Vier-Tage-Woche aus, und die IG-Metall will diese in den kommenden Tarifverhandlungen fordern – bei vollem Lohnausgleich.

Durch eine generelle Arbeitszeitverkürzung würden sich die Lohnabstände zwischen Männern und Frauen reduzieren, sagt Bücker. „Klar ist aber auch, dass die Vier-Tage-Woche nicht durch Zauberhand die Geschlechterverhältnisse neu sortiert.“ Männlichkeit sei „noch immer eng mit der Ernährerrolle verbunden“, folglich müssten viele Männer ihre Rolle neu definieren. Zudem gebe es Widerstände, da das gesellschaftliche Leben neu organisiert und finanzielle Mittel anders verteilt werden müssten.

Bücker blickt dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft: „Zurzeit vollzieht sich ein Wertewandel, der politische Kraft hat.“ ---

Teresa Bücker, 39, war Community-Chefin der Zeitung »der Freitag«, beriet die SPD in digitalen Fragen und baute das Frauenportal »Edition F« mit auf. Bis 2019 war sie dort Chefredakteurin, heute ist sie selbstständige Publizistin und schreibt unter anderem eine Kolumne im »SZ-Magazin«. Im Oktober 2022 erschien ihr Buch »Alle Zeit – Eine Frage von Macht und Freiheit« im Ullstein-Verlag.