Am Wasser gebaut
Seoul hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einer armen Stadt zu einer funkelnden Metropole entwickelt. Wie ging das?
• Wer den Namen Seoul hört, mag an eine hypermoderne Metropole denken. An Bauten aus Glas und Stahl, ein Stadtbild voller Videowände, an superschnelles Internet. Stimmt auch alles. Noch dazu ist der öffentliche Nahverkehr erstklassig, der Straßenlärm erträglich, und bis zur nächsten Grünfläche ist es nie weit.
Aber man muss nicht sonderlich weit in der Stadtgeschichte zurückgehen, um von einem ganz anderen Seoul zu erfahren – einem Ort, der von Armut und Slums geprägt war. Tatsächlich ist die südkoreanische Hauptstadt unter Historikerinnen und Historikern bekannt als Paradebeispiel für Urbanisierung im Schnelldurchlauf: Zwischen 1960 und 1980 stieg die Bevölkerung von 2,5 auf mehr als 8 Millionen Menschen an, heute leben dort rund 10 Millionen. Erst wuchs die Stadt chaotisch, dann wurde sie mit harter Hand – und ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen – von oben geplant. Heute gilt Seoul als Beispiel für die vorausschauende Entwicklung einer Metropole.
Besonders deutlich sichtbar wird der Wandel an einem Fluss, der einst keiner mehr sein durfte. Der schmale, ruhige Cheonggyecheon prägt heute das Zentrum von Seoul, dient als Flaniermeile und Strecke zum Joggen; Cafés und Restaurants sorgen für ein entspanntes Flair. Aber das war nicht immer so. Erst seit den Nullerjahren, als ein jahrelanges Revitalisierungsprojekt fertiggestellt wurde, gibt es hier überhaupt wieder Wasser.
In den Jahrzehnten zuvor stand der Fluss nicht etwa für die Begrünung und Belebung urbanen Raums, sondern galt als Störfaktor. Um einer autofreundlichen Stadt willen wurde er ausgetrocknet und mit einer Schnellstraße überbaut. So wurde nicht nur das Straßennetz erweitert, sondern auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Slums entlang des Wassers vertrieben. Denn dies galt damals als größte stadtplanerische Herausforderung: Man wollte die irregulären Siedlungen loswerden, die mit dem Wachstum der Hauptstadt entstanden waren.
In den Fünfzigerjahren war Südkorea arm. Nach der japanischen Kolonialherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg wütete drei Jahre lang der Koreakrieg. Die USA und andere Staaten unterstützten den kapitalistischen Süden, die Sowjetunion und China den Norden. Millionen Menschen starben, Städte wurden zerstört.
Dann legte Südkorea den Turbogang ein. Nachdem sich Anfang der Sechzigerjahre das Militär an die Macht geputscht hatte, wurde die ökonomische Entwicklung mit einem staatlich gelenkten Kapitalismus vorangetrieben: Binnen kurzer Zeit mauserte sich Südkorea vom Agrarland zum Exporteur von Textilprodukten, gefolgt von einer konkurrenzfähigen Schwerindustrie und schließlich einer innovativen Elektronikbranche. Im Zentrum des Geschehens stand Seoul.
So platzte die Hauptstadt, damals eine der am schnellsten wachsenden Metropolen weltweit, aus allen Nähten. Und die mehr als 50 000 Hütten, die auf den Hügeln und im Zentrum Seouls entstanden, machten die Regierung nervös. Denn die illegal gebauten Häuser, in denen auf rund 20 Quadratmetern im Schnitt sieben Personen wohnten, hatten kein Abwassersystem. Abfälle wurden in den Cheonggyecheon gekippt. Beheizt wurden die oft aus Holz gebauten Häuser mit Kohle – brandgefährlich.
So läutete die Umwandlung des Flusses in eine Schnellstraße viel mehr ein als den Wandel Seouls zu einer Autostadt: Sie zeigte den Hunderttausenden Slumbewohnern, dass sie nicht mehr willkommen waren. In den Sechzigerjahren wurden die Viertel zerstört. Anfangs wurden die Bewohnerinnen und Bewohner in Zelte außerhalb des Stadtzentrums geschickt, später baute man Sozialwohnungen.