Der nigerianische Traum

Lagos könnte bis Ende des Jahrhunderts zur größten Stadt der Welt anschwellen. Dabei ist sie schon heute hoffnungslos überfüllt.




• Im Eingangsbereich des Institute for African and Diaspora Studies, einem kleinen, rotbraunen Unigebäude, umringt von riesigen Betonbauten, haben sich rund 50 Menschen auf Plastikstühle in einen Halbkreis vor die Soziologin Taibat Lawanson gesetzt: Wissenschaftlerinnen, Bewohner und Vertreter der Lokalregierung. Sie wollen darüber diskutieren, wie es mit ihrer Stadt weitergehen soll.

Lawanson hat eine Präsentation für heute vorbereitet, aber ihr Rechner hat sich aufgehängt. Es ist 10 Uhr morgens, und wie fast jeden Tag ist es schwülheiß. Lagos ist eine tropische Megacity. Während Lawanson darauf wartet, dass ihr Rechner wieder läuft, öffnet sie das Fenster und man hört: rein gar nichts. Wie wohltuend.

Vor dem Gebäude sitzen Studentinnen und Studenten still unter Palmen und schauen in ihre Laptops. Ab und zu, wenn der Campus-Shuttle vorbeifährt, riecht die Luft kurz nach Benzin. Davon abgesehen ist der Campus der Uni Lagos eine grüne Insel der Ruhe mit guter Luft in dieser dröhnend lauten Metropole.

Manche Statistiker zählen mehr als 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner und die Stadt wächst in einem atemberaubenden Tempo. Durchschnittlich ziehen 3000 Menschen am Tag dorthin. Manche Demoskopen glauben, bis zum Ende des Jahrhunderts könnte Lagos auf mehr als 80 Millionen Einwohner anschwellen. Es wäre dann die größte Stadt der Welt. Dabei ist sie schon jetzt überbevölkert.
Wie soll das funktionieren?

Das Problem sei, dass Lagos völlig unkontrolliert wachse, sagt Lawanson. Sie hat ihre Präsentation gestartet und projiziert eine Karte von Makoko auf den Bildschirm hinter ihr. Der Slum im Zentrum von Lagos wird ironisch als Venedig von Afrika bezeichnet, denn Makoko ist auf Stelzen ins Wasser gebaut, oder besser gesagt: ins Abwasser. Dort gibt es keine Kanalisation und auch keine Müllabfuhr. Alles landet im Wasser.


Makoko, ein riesiger Slum auf Stelzen im Abwasser (links und rechts)

Auf der Karte von Makoko, die Lawanson auf ihrem Bildschirm zeigt, hat sie ein knappes Dutzend Punkte eingezeichnet. Sie repräsentieren Orte, an denen die Jugendlichen von Makoko sagen, dass sie hier Zeit verbringen können: die Schule etwa oder die Kirche. Sonst gibt es dort keinen öffentlichen Raum. Das Problem hat Lagos auch da, wo es nicht auf Stelzen gebaut ist. Die wenigen Parks der Stadt kosten meistens Eintritt und sind trotzdem nicht viel breiter als die achtspurige Stadtautobahn. Wer bolzen will, der macht das auf den Freiflächen um die Autobahnknoten.

Die ganze Stadt ist so dicht, so überfüllt, dass es kaum Orte zum Verweilen gibt. Eigentlich gibt es mit ein paar Ausnahmen in der ganzen Stadt nicht mal Bürgersteige. Entweder man steht mit dem Auto im Stau oder man quetscht sich zu Fuß am Stau vorbei. „Viele Kinder, die in Lagos aufwachsen, können nur zwischen beengten Wohnungen und stark befahrenen Straßen wählen“, sagt Lawanson.

Fehlende Freiräume für Kinder sind ein drängendes Problem, denn Nigeria hat ein Durchschnittsalter von 17 Jahren, die Hälfte der Bevölkerung in diesem Land sind Kinder. „Und was glauben Sie denn, was aus Jugendlichen wird, die den ganzen Tag in ihren Hütten hocken müssen?“, ruft Lawanson in Richtung der Stadtverordneten, die heute auch anwesend sind.

Da steht ein großer, glatzköpfiger Herr im schicken, schwarzen Anzug auf und bittet um das Mikrofon. Er ist ein Repräsentant der Lokalregierung, der jetzt auch mal was dazu sagen will. Ja, es stimme: Makoko habe keine Kanalisation, keine Müllabfuhr, keine öffentlichen Plätze, „aber jetzt muss ich Ihnen auch etwas sagen, was Ihnen nicht gefallen wird: Makoko ist eine illegale Siedlung“.

Sofort geht ein Aufschrei durch den Saal. Ein Jugendlicher in stonewashed Jeans, der in Makoko wohnt, springt auf, geht nach vorn, ergreift das Mikrofon: „Ja, glauben Sie denn, wir wollen so leben?“, sagt er mit brüchiger Stimme.„Wir können auch gerne woanders hinziehen, aber wir bekommen ja keinen legalen Wohnraum zugewiesen.“

Schon 2002 stellte der peruanische Ökonom Hernando de Soto in „Freiheit für das Kapital“ fest, dass gesicherte Eigentumstitel für Menschen in slumähnlichen Siedlungen der erste Schritt seien, um ihre Probleme selbst lösen zu können. „Nur dann kann aus dem Dach über dem Kopf eine Adresse werden, wo ein Steuerzahler wohnt, der von der Bank einen Kredit bekommt.“

Ein Fischer aus Makoko im lila Hemd stellt sich hinter den Jungen, reißt ihm beinahe das Mikrofon aus der Hand und ruft dann rein: „Wir wollen auch Fußball spielen und zwar so richtig im Nationalstadion!“ Jetzt johlt der Saal. Der Lokalpolitiker hat sich da schon wieder kleinlaut zu seinen Kollegen zurückverkrümelt.

Während die Slumbewohner auf der Bühne ihre Geschichten erzählen, daddeln die Stadtverordneten auf ihren iPhones herum und werden bald ein bisschen früher gehen müssen, sorry Meetings, drüben in Victoria Island, der Verkehr, Sie wissen schon.

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