Die Bitcoin-Story
Vor 15 Jahren von einem unbekannten Entwickler erfunden, steht der Bitcoin heute im Zentrum einer weltweiten Bewegung mit religiösen Zügen. Was macht seine Faszination aus? Eine Spurensuche in Russland, El Salvador, Nigeria und Deutschland.
Nadwoizy, Russland,
Oktober 2021
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Im Maschinenraum
Der Bitcoin entsteht in einer verschneiten Industriebaracke im äußersten Nordwesten Russlands. Draußen peitscht ein eisiger Wind gegen die Hallenmauern, drinnen zieht Sergey Kapkaev seine Daunenjacke aus. 29 000 Hochleistungsrechner blasen so viel warme Abluft hinaus, dass einem auch im T-Shirt heiß ist.
Der 35-Jährige steht in einem Gang, der von zwei Regalreihen eingerahmt wird, so hoch wie Einfamilienhäuser. Sie sind auf 17 Etagen vollgestopft mit Elektronik. Wie nervöse Polarlichter blinken tausende grüne Kontrollleuchten aus den Regalen, die Lüftungen der Rechner erzeugen ein Rauschen, so laut wie auf dem Rollfeld eines Flughafens. Kapkaev geht den Gang entlang und inspiziert die Rechner. Alles läuft auf Hochtouren.
Die Rechner, sogenannte Asic-Miner, laufen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zu gregorianischem und zu orthodoxem Neujahr. Es sind Computer, die konstruiert sind, um eine einzige Aufgabe auszuführen: Bitcoins schürfen. So nennt man den Prozess, in dem neue Einheiten der Kryptowährung entstehen und in Umlauf gebracht werden.
Ende 2021 weiß noch kaum jemand, dass Russland bald die Ukraine überfallen und der Bitcoin-Kurs schon zum zweiten Mal in diesem Jahr einbrechen wird. Gerade herrscht Bullenmarkt. Der Bitcoin springt mal wieder auf ein Allzeithoch: beinahe 60 000 Euro. Was Kapkaev und seine Kollegen tun, ist sehr profitabel.
Darum soll das hier auch erst der Anfang sein. Kapkaev ist am Ende des Gangs angekommen. Er reißt zwei Planen beiseite, dahinter: ein verborgener Flur, von dem drei weitere lange Hallen abgehen, jede einzelne mehr als 100 Meter lang. „Das hier stellen wir alles voll mit Schürf-Computern“, sagt er.
An ihm hasten Arbeiter vorbei, die Handwagen aus Metall ziehen, randvoll mit Schürf-Computern. Sie wuchten diese in die Regalreihen hinein, andere Arbeiter schließen die Schürf-Computer an die orangefarbenen Kabelbäume an, die durch die ganze Halle führen.
Alles muss hier sehr schnell gehen, denn jede Sekunde, in der ein Computer nicht schürft, ist verschwendetes Geld – verdammt viel Geld.
Der Aufstieg
Der Bitcoin ist die vielleicht wildeste Blüte, die das Internet je getrieben hat, und gekeimt ist der Samen vor genau 15 Jahren. Im Oktober 2008 sendet ein gewisser Satoshi Nakamoto eine Nachricht an einen Mailverteiler: Er habe eine Möglichkeit gefunden, wie man im Internet pseudonym – also ohne seine wahre Identität zu enthüllen – bezahlen könne, und für die man auf keine zentrale Institution wie Paypal, Mastercard oder gar eine Zentralbank vertrauen müsse. Das mag technisch klingen – aber damals herrscht gerade die Weltfinanzkrise. Und als die Banken crashen, crasht mit ihnen das Vertrauen in die etablierten Institutionen. Satoshi Nakamoto trifft einen Nerv.
Schnell wird aus dem Bitcoin mehr als eine Zahlungsmethode: Er entwickelt sich zu einer Weltanschauung. Mittlerweile hat sich um ihn eine fast religiöse Gemeinschaft gebildet, die bis nach Nigeria reicht. Der Bitcoin treibt Zentralbanker auf der ganzen Welt vor sich her, weil sie fürchten, die Hoheit darüber zu verlieren, was Geld ist. In der verschneiten Einöde Russlands löst er einen Goldrausch aus, und im tropischen El Salvador bringt ein exzentrischer Präsident sein Land auf Bitcoin-Kurs.
brand eins hat den Bitcoin zwei Jahre lang beobachtet und ist ihm hinterher gereist: nach Russland und von dort nach Mittelamerika, Afrika und Europa. Es ist eine Geschichte von Aufstieg und Fall, Gier und Verblendung. Die Idee einer dezentralen, digitalen Währung hat es vom Untergrund bis ins Zentrum der etablierten Finanzwelt geschafft. Und das, obwohl kaum jemand die Funktionsweise des Bitcoins wirklich versteht. Fragt man etwa Sergey Kapkaev, den Systemadministrator der Bitcoin-Mine in der verschneiten Baracke, was genau seine ganzen Computer da eigentlich machen, was „schürfen“ heißt – dann kommt er ins Grübeln.
„Also …“, setzt er an, zückt sein Handy und googelt Begriffe wie Sha256 oder Root-Hash, Vokabeln aus einer fremden Welt. Er könnte jetzt alles erzählen – der Reporter würde es ohnehin nicht verstehen. Aber er sagt: „So ganz genau weiß ich es auch nicht.“ Im Prinzip würden die Rechner überprüfen, ob alle Zahlungen im Bitcoin-Netzwerk ihre Richtigkeit hätten. Und dafür schütte das Netzwerk Bitcoins an die Rechner aus. Man sagt dann: Der Rechner hat Bitcoin geschürft.
Es ist nicht so, dass irgendeine autorisierte Instanz der Bitcoin-Mine, für die Kapkaev arbeitet, eine Lizenz erteilt hätte. Jeder, der eine Grafikkarte besitzt, kann den Algorithmus zum Bitcoin-Schürfen ausführen. Früher haben Bitcoiner das zu Hause auf ihren Gaming-PCs gemacht, denn das ist ja das große Versprechen: Dezentralität.
Bitcoin ist wie das frühe Internet selbst: ein bisschen anarchisch. Hier kann keiner Zahlungen verbieten, überwachen oder Steuern eintreiben. 2010 – noch ist die Währung ein Thema für Tech-Nerds – sperren Paypal und Mastercard auf politischen Druck der USA hin alle Überweisungen an Wikileaks. Die Enthüllungsplattform hatte unter anderem Auszüge aus Militärprotokollen veröffentlicht, die Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak belegen. Der Gründer Julian Assange weicht damals auf Bitcoin aus und verhilft der Kryptowährung so zu mehr Bekanntheit. Wer politisch verfolgt wird, nutzt bald Bitcoin, aber auch der moderne Kidnapper oder die Crystal-Meth-Großküche nimmt Zahlungen bevorzugt in dieser Form entgegen.
Kurz gesagt: Bitcoin wird das Geld für alle, die irgendwie Ärger mit den Autoritäten haben. Sie gesellen sich zu jenen Anhängern der Kryptowährung, die seit der Finanzkrise glauben, bald würde ohnehin das ganze verlogene System kollabieren. In den ersten Jahren wird der Bitcoin zu einem libertären Traum.
Fragt man Kapkaev, was er für ihn bedeutet, dann zuckt er mit den Achseln. Heute ist der Bitcoin längst über die libertäre Bubble hinausgewachsen. Die irren Kurssprünge der vergangenen Jahre haben ihn zu einem Pop-Phänomen gemacht. Kapkaev sieht das ein bisschen nüchterner. „Für uns ist der Bitcoin einfach eine Möglichkeit, um über die Runden zu kommen.“
Er läuft an den Dutzenden Mitarbeitern vorbei, die eilig die neuen Schürf-Computer anschließen, durch düstere Gänge, von denen links und rechts riesige Hallen abzweigen. Teilweise sind die Decken eingestürzt, Schnee fällt durch die Ruinen. „Die wollen wir alle noch sanieren“, sagt er im Vorbeigehen. Auch hier soll alles randvoll mit Rechnern vollgestopft werden.
Mit Rechenpower Rätsel lösen
Immer wieder öffnet Kapkaev neue Türen zu neuen Räumen. In einem hocken Männer, die bei laut wummernder Techno-Musik an Prozessoren herumschrauben und Schaltkreise säubern, Elektroschrott türmt sich auf den Tischen. Im nächsten sitzen Arbeiter konzentriert unter Neonlicht vor ihren Schreibtischen, löten, programmieren und überprüfen mit riesigen Lupen winzige Schaltkreise.
Die Zeiten, in denen Bitcoiner auf ihren Gaming-PCs selbst schürften, sind lange vorbei. Denn das Netzwerk ist so konstruiert, dass immer nur ein Miner (Schürfer) den nächsten Block mit gesammelten Transaktionen an die Blockchain anhängen darf. Die Miner wollen den Block anhängen, weil sie sich dann zur Belohnung für ihre Arbeit einen kleinen Betrag gutschreiben dürfen. Den nächsten Block darf aber immer nur derjenige anhängen, der als erstes ein mathematisches Rätsel gelöst hat. Dieses Rätsel lässt sich wiederum nur durch Raten lösen, man könnte also sagen: Jeder Computer ist ein Los, das an der Bitcoin-Lotterie teilnimmt.
Der Haken an der Sache: Je mehr Miner gleichzeitig schürfen, desto schwieriger wird es, das Rätsel zu lösen. So will es das Bitcoin-Protokoll – mit dem Ziel, dass immer die gleiche Anzahl neuer Bitcoins entsteht, egal wie viele Personen gerade schürfen. Einerseits verhindert das eine Inflation. Andererseits führt es dazu, dass man mittlerweile tausende Computer haben muss, die an der Lotterie teilnehmen – wie in Nadwoizy.
In den Fünfzigerjahren bauten die Sowjets hier ein gigantisches Aluminiumwerk, daneben entstanden Wohnblocks und ein Wasserkraftwerk, um die Fabrik mit Energie zu versorgen. Doch nach dem Untergang der Sowjetunion lief es schlecht mit der Aluminiumproduktion, und dann verhängte der Westen nach der rechtswidrigen Annexion der Krim auch noch Sanktionen. 2018 musste das Werk schließen, und ein Großteil der Werkshallen begann zu zerfallen. Ähnlich erging es dem Örtchen Nadwoizy, in dem es außer einem Gefängnis keine verbliebenen großen Arbeitgeber gab.
Dann, 2019, kamen die Bitcoiner. Sie kauften das Gelände der alten Aluminiumfabrik, schickten Arbeiter, um die Dächer der Hallen abzudichten und den Boden neu zu betonieren. Bald folgten die ersten Angestellten: Sergey Kapkaev, der Systemadministrator, zog aus Sankt Petersburg her, andere kamen aus Moskau. Frauen arbeiten hier so gut wie keine. Der Großteil der Belegschaft kannte das Fabrikgelände schon, weil sie früher für das Aluminiumwerk tätig waren. Heute gehört die Bitcoin-Mine zu den größten Arbeitgebern von Nadwoizy. Im ganzen Ort hängen Stellenausschreibungen: Elektriker, Schweißer, Programmierer gesucht, „Bezahlung über Marktpreis.“ Der Bitcoin hat der kleinen karelischen Stadt den Wohlstand zurückgebracht.
Er wolle jetzt, sagt Kapkaev feierlich, das Herzstück der Mine zeigen. Er führt durch verwinkelte Gänge, öffnet schwere Türen, durchquert verlassene Flure, dann betritt er einen hell erleuchteten Raum, holt tief Luft und sagt: „Unsere Leitstelle.“
Ein halbes Dutzend Programmierer sitzt hier, in ihre Arbeit versunken. An der Wand hängen zehn Monitore. Neun von ihnen zeigen die Rechenleistung der Schürf-Computer in der Mine an. Sackt sie ab, werden die Leute in der Zentrale als erstes alarmiert. Der zehnte Bildschirm bildet die wichtigste Kurve von allen ab: den Bitcoin-Kurs. Es ist die Kurve, die darüber entscheidet, wie viel Geld hier verdient wird. Heute steht der Kurs bei 54 000 Euro. „In den vergangenen 24 Stunden haben wir 1,9 Bitcoin geschürft“, sagt Kapkaev. Macht rund 102 000 Euro.
Mittlerweile wären sie nur die Hälfte wert. Trotzdem läuft die Bitcoin-Mine auch im Jahr 2023 noch – der Preisverfall ist ärgerlich, aber profitabel bleibt das Geschäft trotzdem. Nur für die Ausbaupläne hat es nicht mehr gereicht. Der Ukraine-Krieg habe der Mine hingegen nicht groß geschadet, wird Kapkaev via Telegram schreiben, denn das Bitcoin-Netzwerk kennt keine westlichen Sanktionen.
Ein Mysterium
Kurioserweise ist so gerade der hochvolatile Bitcoin in Russland ein krisenfestes Geschäft – und das zieht Menschen wie Alexej Korolev an. Er hat die Mine mitgegründet und finanziert.
Korolev, kurze Haare, dicke Brille, sitzt im Pausenraum, gleich neben der hellerleuchteten Leitstelle. Er hält zwei iPhones in den Händen und legt sie nur ab, um sich hin und wieder eine Gabel Fertigkuchen in den Mund zu stopfen. Eigentlich wohnt Korolev in Moskau. Er wurde reich, indem er nach dem Ende der Sowjetunion Ikea-Filialen im ganzen Land aufbaute. Danach arbeitete er als Chefingenieur der Moskauer Messe. Jetzt also Bitcoin.
Ob er versteht, was seine 29 000 Computer genau machen? Korolev fängt an zu lachen. Zwei Programmierer lachen mit. „Vor drei Jahren wusste ich nicht mal, was Bitcoin überhaupt ist“, sagt er. Als er das erste Mal davon hörte, habe er sich gerade auf seiner Datscha mit Wodka volllaufen lassen. Ein Freund erzählte ihm von der Kryptowährung. Genauer: davon, wie unfassbar viel Geld man damit verdienen könne. Korolev gefiel, was er hörte.
Einige Wochen später gründete er die Firma, die heute Minto heißt. Eine erste Server-Farm bauten sie in der Stadt Kirishi bei Sankt Petersburg, aber sie merkten schnell: Das Klima war zu warm, der Strom zu teuer. Damit sich das Geschäft lohnt, braucht es bessere Bedingungen. Kalt sollte es sein, damit die Rechner nicht heißlaufen. Viel billigen Strom sollte es geben. Und große, leerstehende Hallen, am besten auf einem Hügel gelegen, damit der Wind die kalte Luft hinein weht. Und in direkter Umgebung wenig Wald, damit die Pollen im Frühling nicht die Prozessoren verschmutzen.
Alexej Korolev fand einen Ort, auf den all das zutraf: Nadwoizy. Dreieinhalb Cent pro Kilowattstunde zahlt er hier für den Strom, weil das Wasserkraftwerk im Ort, das ursprünglich für die Aluminiumfabrik gebaut wurde, nach der Pleite nicht mehr wusste, wohin mit dem Strom. In Deutschland müsste er sechsmal soviel hinlegen. Auch seine Arbeiter bekommt er für wenig Geld, umgerechnet 500 Euro im Monat zahlt er den meisten. Für die Region ist das trotzdem ein ordentlicher Lohn.
Es ist Abend geworden in der Bitcoin-Mine. Morgen muss Korolev früh los, er hat Termine am Nordpolarmeer. Aber davor will er den Systemadministrator Kapkaev und ein paar seiner wichtigsten Programmierer noch im Ort zum Abendessen ausführen. Auch den Reporter lädt er ein.
Draußen, auf dem verschneiten Parkplatz, steht sein BMW X7 M50d, Listenpreis in Deutschland: 110 000 Euro. Korolev steigt ein und drückt aufs Gas, die Program- mierer fahren im Toyota hinterher.
Als Korolev das Restaurant betritt, stürmt der Koch sofort aus der Küche, begrüßt ihn überschwänglich. Kellner decken den Tisch eilig mit Unmengen an Lamm, Bier und Whiskey ein. Die Bitcoiner sind die Könige von Nadwoizy.
Auch Kapkaev sitzt am Tisch. Was die 29 000 Computer da eigentlich machen, habe man doch vorhin wissen wollen. Er schiebt sich eine Dolma, ein gefülltes Wein- blatt, in den Mund und beginnt ein sehr langes Gespräch über Bitcoin, in dem er oft auf Wikipedia und in Internetforen nach Erklärungen sucht und die anderen Programmierer am Tisch ihm ins Wort fallen (die Essenz des Gesprächs finden Sie bei Interesse im Infokasten unten).
Selbst Kapkaev macht keinen Hehl daraus, dass wahrscheinlich niemand in der Mine so richtig weiß, was die 29 000 Computer da machen. „Ich glaube, auf der ganzen Welt verstehen vielleicht ein paar hundert Menschen so richtig, wie der Bitcoin funktioniert“, sagt Kapkaev spätabends über sein Whiskey-Glas hinweg. Der Bitcoin-Experte und Gründer des Frankfurt School Blockchain Center, Philipp Sandner, bestätigt per Mail, dass das durchaus stimmen könnte.
Selbst für Profis bleibt der Bitcoin ein Mysterium.
Für Kapkaev ist er digitales Gold, weil er wie ein Bodenschatz mit harter Arbeit geschürft werden muss.
Für die Crystal-Meth-Großküche ist der Bitcoin eher digitales Bargeld, weil er wie Geldscheine keine Spuren hinterlässt, wenn man es richtig anstellt.
Für die Libertäre ist er die Erfüllung eines uralten Traums: eine globale Währung, über die keiner bestimmt. Geld ohne Staat, Regulierung – und Steuern.
In Wirklichkeit ist der Bitcoin ein bisschen wie der Spiegel Nerhegeb im Raum der Wünsche bei Harry Potter: Jeder erkennt in ihm genau das, was er selbst am meisten liebt.
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