Was wäre, wenn … es keine Viren mehr gäbe?
Ein Szenario.
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 10/2023.
• Viren haben keinen guten Ruf – und das nicht erst, seit das Coronavirus SARS-CoV-2 für viele Monate das gemeinschaftliche Leben lahmlegte. Auch auf die alljährliche Grippewelle im Winter, Masern und Windpocken und schwerwiegendere Erkrankungen wie Aids oder Ebola würde man gern verzichten. Doch was wäre, wenn es keine Viren mehr gäbe?
Es ist nicht lange her, da wusste die Menschheit noch gar nicht, was Viren überhaupt sind. Als die Spanische Grippe 1918 bis zu fünf Prozent der Menschheit ausrottete, war unklar, was die Epidemie ausgelöst hatte. Heute weiß man es. „Viren sind winzige Partikel, die darauf spezialisiert sind, ihre Erbinformation weiterzutransportieren“, so erklärt es Ulrike Protzer, Virologin an der TU München. „Sie sind allein nicht lebensfähig, sondern existieren auf Kosten einer anderen Zelle. Ihr Hauptziel ist es, sich zu vermehren.“
Manches ist auch heute noch unklar: ob Viren Lebewesen sind (eher nicht, da sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen) und wie viele verschiedene existieren (unzählige). Tausende sind bekannt und klassifiziert, doch die Zahl könnte in die Millionen gehen. „Wir wissen nicht ansatzweise, wie viele verschiedene Viren es gibt“, sagt Protzer. „Nicht einmal bei denen, die Menschen betreffen, und erst recht nicht bei denen, die Tiere, Pflanzen oder Bakterien befallen.“
Nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Viren sorgt jedoch für deren schlechten Ruf, indem diese ihre Trägerinnen oder Träger krank machen. Die Forschung hat sich lange vor allem mit solchen Viren befasst – verständlicherweise –, doch die meisten Viren sind entweder harmlos oder sogar nützlich.
Die größte Gruppe ist die der Bakteriophagen, oft auch einfach Phagen genannt. Das sind Viren, die ausschließlich Bakterien befallen. „Gäbe es keine Viren mehr, könnten sich die Bakterien sehr viel stärker vermehren“, so Protzer. Wir hätten sehr schnell ein großes Problem, weil man ohne Viren viel mehr Antibiotika einsetzen müsste, mit der Folge von Resistenzen.
Auch in der Tier- und Pflanzenwelt können Viren als Korrektiv wirken. Wird eine Spezies zu zahlreich, wird eine Virusepidemie wahrscheinlicher, die die Zahl der Tiere oder anderer Organismen wieder auf ein Normalmaß dezimiert. „Kill the winner“ wird dieses Modell genannt. So erhalten Viren die Biodiversität und verhindern die Dominanz einer Spezies, die zur Ausrottung einer anderen führen kann.