Was Menschen bewegt

Eine italienische Attraktion

Bruno Ferrin, ein armer Mann, hält sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im damals noch rückständigen Venetien mit verschiedenen Jobs über Wasser. Dann beginnt er, eigenhändig einen Freizeitpark zu bauen.






Der Gründer und, oben drüber, eines seiner größten Werke, das sogenannte Todesrad

• Er kommt in Minischritten den Hang herunter, in der einen Hand einen aus einem Pappel-Ast geschnitzten Gehstock, in der anderen einen rostigen Eimer. Bruno Ferrin wirkt in sich versunken, so, als nehme er das Gelächter und Gekreische um ihn herum nicht wahr. Am Tiergehege macht er halt, gibt den Hühnern, Gänsen und dem Pfau zu fressen, spritzt den Boden mit einem Wasserschlauch ab.

Es ist Freitag, 2. Juni. Festa della Repubblica, ein Feiertag in Italien. Der Himmel strahlt, die Vögel zwitschern, die Blätter an den Bäumen schaukeln im lauen Wind wie ein Wackeldackel auf dem Armaturenbrett. Der kleine alte Mann befindet sich in einem Freizeitpark, der in einem Wald gelegen ist, 50 Kilometer nördlich von Venedig. Um ihn herum vergnügen sich Menschen jeden Alters auf Rutschen, Achterbahnen und Karussells. Eine rund 40 Jahre alte Italienerin mit großer Sonnenbrille und grellrot geschminkten Lippen bleibt vor dem Tiergehege stehen und starrt. „Das ist er“, spricht die Frau nach einer Weile vor sich hin. Wendet sich ihrem Mann und ihren zwei Kindern zu, die ein paar Meter entfernt bei der Bobbahn stehen. Ruft mit rauchiger Stimme: „Kommt schnell her. Der Opa, der das alles aufgebaut hat, er ist hier.“ Plötzlich nähern sich von allen Seiten Leute dem Tiergehege und schauen durch den Drahtzaun. Es ist eine Szene wie im Zoo, nur dass sich keiner für die Tiere interessiert. Die Aufmerksamkeit gilt allein Bruno Ferrin.


Im Vergnügungspark Ai Pioppi leben mehrere Tiere, das Vogelhaus hat Bruno Ferrin selbstverständlich selbst gebaut; in seiner Osteria hängt ein Bild mit alten Fotos. Eines davon zeigt ihn mit seiner Frau, seinen Töchtern und einem weiteren Kind – am Tag, als alles begann (unten)

Die Frau mit der rauchigen Stimme nimmt die Sonnenbrille ab, es scheint, als wolle sie eine unverfälschte Sicht auf ihre Entdeckung bekommen. „Wie lange hat es gedauert, diesen Park zu errichten?“, fragt sie.

Ferrin hebt seinen Blick, schaut sie direkt an, antwortet: „1969 habe ich angefangen. Aber fertig bin ich noch immer nicht.“
„Haben Sie das wirklich alles mit den eigenen Händen gebaut?“
„Ein bisschen Köpfchen gehört auch dazu.“
„Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“
„86, wenn ich mich nicht verrechnet habe.“

Ein Raunen geht durch die Menge. Ein Jugendlicher in kurzer Jeanshose fragt: „Ist es nicht viel zu anstrengend, in diesem Alter noch so hart zu arbeiten?“

„Niemand zwingt mich dazu, mein Lieber. Jeden Morgen nach dem Aufstehen frage ich mich, was ich heute tun möchte: Vögel beobachten oder arbeiten. Und dann gewinnt immer die Arbeit.“

„Kompliment“, „grandios“, „bewundernswert“ rufen die Leute. Eine junge Frau, deren Arme mit Tattoos übersät sind, will wissen: „Welches der Spielgeräte ist Ihr Lieblingsstück?“

Ferrin schüttelt den Kopf. „Signora, was würden Sie antworten, wenn jemand Sie fragt, welches Ihrer Kinder Ihr liebstes ist.“ Er greift nach dem Gehstock und dem rostigen Eimer, wünscht allen einen vergnüglichen Tag, tritt aus dem Gehege und setzt seine Vormittagsrunde fort.

Ai Pioppi – bei den Pappeln – heißt der Park im Nordosten Italiens. Er ist voller Attraktionen. Die größte aber ist der Mann, der sie konstruiert hat: Bruno Ferrin.

Er hat mit zehn die Schule geschmissen und danach nie wieder eine Bildungsstätte besucht. Er hat seinem Schicksal getrotzt und ist Unternehmer geworden.

An Werktagen ist der Vergnügungspark geschlossen, dann wirkt er wie ein seit vielen Jahren verlassener Ort. Besetzt mit puristischen Stahlskulpturen, von denen zunehmend die Farbe abblättert. Spielgeräte aus einer anderen Zeit. Teilweise sind sie von Baumwipfeln umrankt, sodass man denken könnte, die Natur erobere sich den einst von Menschen in Beschlag genommenen Raum zurück.

An den Wochenenden jedoch erwacht der Park zum Leben, bis zu 1500 Menschen am Tag strömen dorthin, und wenn man dabei zuschaut, wie sie sich vergnügen, wenn man allmählich begreift, welche Sehnsüchte der Park erfüllt, dann erschließt sich einem der Zauber dieses Ortes.

Die italienische Presse nannte ihn lange „Gardaland der Armen“– denn anders als beim am Gardasee gelegenen, größten und teuersten Vergnügungspark Italiens ist der Eintritt kostenlos. Die Besucher zahlen nur für Speisen und Getränke, die Bruno Ferrin in seiner Osteria für vergleichsweise wenig Geld anbietet.

Neuerdings wird Ai Pioppi dafür gepriesen, dass die Karussells aus Altmetall bestehen und keinerlei Strom benötigen. Die Medien nennen ihn jetzt häufig „Öko-Park“. Ferrin sagt: „Ich kann nicht behaupten, dass das meine Absicht war. Ich habe immer einfach gemacht, was ich für gut hielt.“

Zwischen April und Oktober kommen mehr als 50.000 Besucher hier her, bescheren Ferrin einen Umsatz zwischen einer halben und einer Million Euro. An Sonn- und Feiertagen ist der Andrang am größten, dann sind bis zu 40 Aushilfskräfte in der Osteria und an den Spielgeräten im Einsatz. Zwischen November und März beschäftigt sich Ferrin mit der Wartung der Geräte und baut jedes Jahr ein neues. Für die größten investiert er bis zu 50.000 Euro. „Nach Abzug aller Kosten und Steuern bleibt vom Umsatz nicht viel übrig, aber wir können davon leben“, sagt Ferrin.

Er trippelt durch den Wald, um der Reihe nach alle 45 Spielgeräte auf der 30.000 Quadratmeter großen Fläche zu inspizieren, und dabei scheint er mit jeder einzelnen Falte seines Gesicht zu lächeln. Er schaut den Kindern zu, die mit einem Metallschlitten über eine Rollenbahn gleiten, wie man sie in Betrieben zur Beförderung von Schwerlasten einsetzt. Er passiert eine 60 Meter lange dreispurige Rutsche, die Jugendliche im Wettbewerb miteinander auf einem Stück Teppich heruntersausen.

Manchmal entdeckt er, dass sich bei einem Spielgerät eine Schweißnaht gelöst hat. Er geht dann seelenruhig in seine Werkstatt, kramt das nötige Werkzeug zusammen, kommt zurück und beginnt mit der Reparatur. Was man dann sieht, ist ein skulptural über die Strebe gebeugter Greis, der mit der rechten Hand das Schweißgerät betätigt, während er in der linken einen Schild hält, der sein Gesicht vor dem gleißenden Licht der Flamme schützt.

Sie haben bereits ein brand eins Konto? Melden Sie sich hier an.

Wir freuen uns, dass Ihnen dieser Artikel gefällt.
Er ist Teil unserer Ausgabe Luxus

Wie Porno, nur teurer!
Zum Weiterlesen wählen Sie eine dieser Optionen
Meistgewählt

brand eins Abonnement

108,00 € / Jährlich

✓ Print-Ausgabe nach Hause geliefert
✓ Digital-Ausgabe, PDF und E-Book
✓ Zugriff auf das gesamte brandeins-Archiv inkl. Kollektionen
✓ Jederzeit kündbar

brand eins 10/2023 (Digital)

6,30 € / einmalig
Sicher bezahlen mit
Weitere Abos, Schüler- & Studentenrabatte