Luxus-Probleme

Europa ist der historische Kontinent der begehrten Dinge. Andere Länder holen auf und machen es anders. Was bleibt, was könnte kommen?






„Republiken enden durch Luxus, Monarchien durch Armut.“
Charles de Montesquieu, 1748, Schriftsteller

Wie definiert die Wissenschaft Luxus?

Luxuria ist die Wollust: üppige, verschwenderische Fruchtbarkeit, also biblisch eine Todsünde. Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sind hier oft moralisch am Ende. Die Konsumpsychologie übernimmt die Party. Der Begriff ist daher nur bedingt zu definieren: zu individuell. Aber: Luxus braucht das Kommunizieren darüber, das Zeigen. Soziale Medien sind dabei heute zwingend – es reicht nicht mehr, nur zu Hause oder in privaten Auto-, Kunst-, Uhren-Sammlungen darüber zu reden. Luxus ist „demonstrativer Konsum“, wie der Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen 1899 schrieb.

Was sagt die Philosophie dazu?

Nicht viel. Interessant ist die Zuschreibung des Rebellischen – also die Möglichkeit, durch Übertreibung gegen eine zweckrationale Welt aufzubegehren.

Hat sich der Blick auf das Phänomen im Laufe der Geschichte verändert?

Mit der Erfindung des Geldes und mit dem Kapitalismus hat der Luxus eine erste Demokratisierung erfahren: Dank industrieller Produktion und Distribution konnten sich nicht mehr nur Adelshäuser das Besondere gönnen, auch einfache Bürger hatten die Möglichkeit, sich Reichtum und begehrte Güter zu erarbeiten. Luxus könnte so auch als eines der gesellschaftlich folgenreichsten Aufstiegsversprechen in einer offenen, geldbasierten Leistungsgesellschaft verstanden werden.

Ist die Branche krisenresistent?

Noch. Zum Goldstandard gehörten früher Warteschlangen vor Luxus-Läden, Wartelisten für Produkte – von Autos bis Handtaschen – oder lange vorlaufende Reservierungen in Hotellerie und Gastronomie. In Krisen kann man immer wieder beobachten, dass auch nicht so betuchte Menschen in Sachwerte fliehen. Und um das Premiumsegment nicht zu verwässern, reagieren die Anbieter mit Preiserhöhungen. Auch jetzt: Die Preissteigerung im Luxus übersteigt die Inflation um ein Mehrfaches.

In der Ökonomie nennen wir das Giffen-Güter, nach dem britischen Statistiker Robert Giffen: Die Nachfrage steigt, wenn der Preis steigt. Das war historisch schon immer so: Gewürze, Moschus, Tulpen, Pelze, Edelsteine, Gold, Platin und weitere Preziosen waren in allen Kulturen Wachstums- und Krisengewinner. Seit circa 1840 können wir das beobachten.

Aber jetzt ändert es sich?

Es zeichnen sich sowohl Veränderungen der sozialen Milieus ab als auch eine Veränderung des Peinlichkeitspotenzials von Luxus. Festzustellen ist:

(1) In Krisen gehen die Einkommens- und Vermögensscheren weiter auf, das führt in den entwickelten Ländern, besonders in China, zu einer Verbreiterung der oberen Mittelschicht.

(2) In den vergangenen Krisen – den durch Pandemie oder Krieg bedingten Engpässen oder durch die Folgen des demografischen Wandels – war vor allem die Mitte unter Druck. In der Gastronomie, im Dienstleistungssektor oder bei Produkten lag der Fokus auf High End und Low Budget.

Die obere Mittelschicht nimmt also zu, die mittelmäßigen Produkte nehmen ab, Luxus differenziert sich aus zwischen Notwendigem und Verschwenderischem.

Und was meinen Sie mit Peinlichkeitspotenzial?

Bei jeder größeren Anschaffung sollte man sich fragen:

(1) Ist sie in 10 oder 20 Jahren peinlich, also eine rebellische Übertreibung, die es eben doch nicht wert war?

(2) Wie ist die klimatische und soziale Bilanz der individuellen Übertreibung für die Gemeinschaft?

Protzen ist also nicht mehr zeitgemäß?

In entwickelten Ländern, in bildungsnahen und klimabewegten Haushalten ist ein massives Umdenken erkennbar: „Alter Luxus“ ist schon jetzt peinlich. Beim „Neuen Luxus“, also beispielsweise beim E-Auto-, Wärmepumpen- oder Solarpanel-Bling Bling, ist man sich noch unsicher.

Normcore, also die demonstrative Gleichmacherei, wird cool – vom weißen Sneaker bis zum betont auffällig-unauffälligen Rundhals-T-Shirt. Bei allen feinen Unterschieden natürlich, über die uns der französische Soziologe Pierre Bourdieu schon 1979 in seinen Distinktionsanalysen informierte.

Was kommt?

Die Konsumenten sammeln eher, als dass sie faktisch konsumieren. Wir spüren längst die Anstrengung des Überkonsums, gewöhnen uns schnell an einstige Raritäten und öffnen uns nicht zuletzt als Folge der Klimadebatte neuen Kategorien, die ganz klar im Bereich Gesundheit, Bildung und Beziehung liegen. Der Luxus wird deshalb in der Bedürfnispyramide weiter hochgereicht: Psychotherapien, Gesundheit und Fitness, freiwillige Weiterbildung, Esoterik und Selbsterfahrung, Ernährungsberatung und Zeit für Familien-Freundeskreise sind die Trends der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Aber auch hier bleibt die Übertreibung, die Abgrenzung zur Masse und die rebellische Qualität erhalten: nur eben auf Instagram demonstriert oder auf LinkedIn.

Wieso ist die Luxusindustrie in Europa so mächtig?

Beständige Luxusmarken brauchen sowohl eine Tradition, zu der Können und Handwerk gehören, als auch eine moderne Geschichtenerzählung. Europa konnte und kann das. Daher ist der börsenstärkste Unternehmenswert Europas weder aus der Automobilproduktion des 20. Jahrhunderts noch aus der Digitalwirtschaft des 21. Jahrhunderts entstanden: Es sind Marken des 18. und 19. Jahrhunderts wie Hennessy, Moët & Chandon oder Louis Vuitton.

Der Börsenwert von LVMH, der französischen Marken-Holding von diesen und rund 70 weiteren Marken – von Dior, Fendi, Loro Piana oder Tiffany & Co. – hat sich in den vergangenen fünf Jahren etwa verdreifacht. Nun stieg der Börsenwert im Frühjahr über die europäisch bislang unerreichte Marke von 500 Milliarden Dollar. Fazit: In Europa schlägt der Luxus der Vergangenheit die Innovation der Zukunft um Längen.

Die letzte global relevante deutsche Unternehmensgründung der digitalen Innovation ist SAP und schon mehr als 50 Jahre her. Vielleicht ist die Wende eben doch Gesundheit: Das im Jahr 1923 gegründete dänische Pharmaunternehmen Novo Nordirsk hat vor kurzem LVMH als börsenstärkstes Unternehmen abgelöst: wegen einer fehlverwendeten Diabetes-Spritze zum Abnehmen.

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