Luxus in Indien

In Indien ist vieles, das einmal selbstverständlich war, zu einem raren – und teuren – Gut geworden.





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• Wer auf der staugeplagten Autobahn unterwegs ist, die zum Flughafen von Mumbai führt, blickt, ob er will oder nicht, in eine andere Welt. Kilometer um Kilometer werben Reklametafeln für neue Wohnkomplexe, die ein luxuriöses Leben versprechen. Die Namen der Projekte sind verheißungsvoll, sie klingen nach Kalifornien, Barcelona oder Manhattan.

Tausende Pendler aus allen Schichten fahren täglich auf dieser Autobahn. Wenig in Mumbai wirkt – wenn auch nur temporär – so egalisierend wie der Verkehr. Die Bilder auf den Reklametafeln zeigen offene Grünflächen und blauen Himmel. Ein verführerisches Szenario, weit entfernt von der Realität des Alltags. In Mumbai leben zwölf Millionen Menschen auf 603 Quadratkilometern. Der Himmel ist meist smog-grau. „Lebe wie die Elite“, heißt es in der Werbung, die die wohlhabenden Bewohner der Finanzmetropole zum Kaufen und den Rest zum Ackern für den gesellschaftlichen Aufstieg motivieren soll.

Die Hoffnung auf ein besseres Leben hat in den vergangenen Jahren für viele Inderinnen und Inder an Bedeutung gewonnen. Viele Menschen streben nach dem Aufstieg in die Mittelschicht, noch mehr kämpfen um den Zugang zu den grundlegenden Dingen des täglichen Lebens.

Am augenfälligsten ist die Gruppe der Ultrareichen. Deren Zahl ist seit 2019 drastisch gestiegen: 169 Inderinnen und Inder haben es im Jahr 2023 auf die Milliardärs-Liste des US-Magazins »Forbes« geschafft. Indien hat nach China und den USA die drittgrößte Zahl an Milliardären. Diese kleine, aber einflussreiche Elite mit einem Gesamtvermögen von 675 Milliarden US-Dollar zieht internationale Luxusmarken in die Großstädte des Landes. Louis Vuitton eröffnete schon 2003 seine erste Boutique in Delhi. Kurze Zeit später kamen auch Chanel und Versace nach Indien.

Der dortige Umsatz mit Luxusgütern betrug 2021 etwa 6 Milliarden Dollar, ein Jahr später 7,5 Milliarden. Damit ist der Anteil des Landes am globalen Luxusgütermarkt, der 2022 ein Umsatzvolumen von insgesamt 1,6 Billionen Dollar hatte, noch bescheiden. Doch es wird ein gewaltiger Schub erwartet. In einer Analyse der Unternehmensberatung Bain & Company aus dem Jahr 2022 heißt es: „Unter den aufsteigenden Sternen sticht Indien besonders hervor; sein Luxusmarkt könnte bis 2030 auf das 3,5-Fache seiner heutigen Größe anwachsen.“

Im März wurde in Mumbai die sogeannte Pre-Fall-Kollektion von Christian Dior präsentiert. Die Show fand vor dem Wahrzeichen der Region, dem Gateway of India, mit Blick auf das Arabische Meer statt. Sie war eine Art Coming-out für die indischen Luxuskäufer und erinnerte an die Great Wall of China-Show des italienischen Modeunternehmens Fendi im Jahr 2007. Viele Luxusmarken setzen jetzt große Hoffnungen auf das Konsumbedürfnis wohlhabend gewordener Inderinnen und Inder.

Und was ist mit den übrigen 99 Prozent der Bevölkerung? Die Kehrseite der steigenden Nachfrage nach Luxus ist eine zunehmend ungleiche Gesellschaft. Im Jahr 2021 besaß 1 Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent des Gesamtvermögens, 50 Prozent der Bevölkerung nur 3 Prozent davon.

Zunehmend interessant für Anbieter von Konsumgütern sind die Bewohner sogenannter Tier-2- und Tier-3-Städte. Das sind urbane Zentren, die nicht zu den Mega-Metropolen wie Mumbai oder Delhi gehören, aber dennoch eine beachtliche Zahl an Einwohnern aufweisen. Studien zeigen, dass in diesen Städten die Kaufkraft stark steigt. Laut dem Atlas of Affluence (AOA) Report 2022, einem jährlichen Bericht über das Konsumverhalten in Indien, kaufen dort 65 Prozent der Einwohner regelmäßig Luxusgüter, in den Metropolen dagegen nur 53 Prozent.

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Das gute Leben erscheint greifbar nah: Immobilien-Reklame entlang der Autobahn

Der italienische Luxusautohersteller Lamborghini macht 25 Prozent seines Indien-Geschäfts in Städten wie Amritsar im landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Punjab oder Udipi im Süden. Zu den Käufern gehören Unternehmer der ersten und zweiten Generation. Nicht selten wollen sie mit dem Luxusauto Macht und Einfluss signalisieren. Schnell fahren können sie damit nicht, dafür sind die Straßen zu schlecht und außerdem meist zu voll. Nicht selten sieht man eine 700-PS-Luxuskarosse, die auf derselben Spur im Stau feststeckt wie der überfüllte öffentliche Linienbus. Den symbolischen Glanz der Investition schmälert das nicht.

In der sozialen Rangordnung rangiert unterhalb der Wohlhabenden aus den mittelgroßen Städten die sogenannte Mittelschicht. Eine einheitliche Definition gibt es nicht, unstrittig ist jedoch, dass diese Gruppe einen neuen Appetit auf Konsum mitbringt.

Das gilt auch für die Jugend. 34 Prozent der Bevölkerung sind heute Millennials, und ein wachsender Teil von ihnen begeistert sich für globale Trends. Der Wunsch aufzusteigen, ist im Land weit verbreitet – und spiegelt sich inzwischen auch im Städtebau.

In kleineren Städten Nordindiens wie Agra und Meerut gibt es an den Stadträndern mittlerweile Gewerbe- gebiete mit großen Supermärkten und Einkaufszentren. Durch die hell erleuchteten Gänge schlendern nun Familien, von denen sich viele zwar keine Luxusgüter leisten können, die es aber genießen, in klimatisierter Umgebung Markenartikel der unteren Preisklasse zu kaufen, Filme im Multiplex-Kino anzuschauen oder im Food Court essen zu gehen. So bieten die Malls in der Provinz auch einfacheren Leuten den Blick auf die High-Society-Luxuswelt.

In überfüllten Metropolen wie Mumbai und Delhi gilt es dagegen schon als Luxus, dem Lärm und Verkehr der Stadt zu entgehen. Vor allem an den Wochenenden sind die Straßen bis spät in die Nacht voll mit Essenslieferanten. Tagsüber fahren Frauen in schicken Uniformen auf Mopeds durch die Straßen und bieten ihren Kunden, die sie über eine App gebucht haben, Massagen, Maniküre und sonstige Well- ness-Dienstleistungen an.*

Für weniger wohlhabende Inder ist heute bereits eine bezahlbare Gesundheitsversorgung Luxus. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben beliefen sich im Jahr 2022 auf rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: In Deutschland sind es rund 13 Prozent. Wer medizinische Versorgung braucht, muss sie in Indien oft aus eigener Tasche bezahlen.

Private Einrichtungen machen fast 62 Prozent der gesamten Gesundheits- infrastruktur aus und versorgen rund 80 Prozent der Bevölkerung. Sie reichen von kleinen Praxen in Seitenstraßen bis hin zu luxuriösen Privatkliniken, die ihren Patienten Gourmetküche und hotelähnliche Suiten sowie modernste medizinische Ausstattung und Betreuung bieten. Die Tageskosten für eine COVID-19-Behandlung in einem Privatkrankenhaus betragen zwischen 230 und 290 Euro pro Tag, und zwar ohne Beatmungsgerät – unerschwinglich für den Durchschnittsbürger. Als den Krankenhäusern in Delhi während der zweiten Corona-Welle im April 2021 der Sauerstoff ausging, versuchten Tausende verzweifelt, die lebenswichtigen Sauerstoffflaschen für ihre Angehörigen zu kaufen.

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Ein Lamborghini in Chandigarh, einer Stadt im Norden Indiens. Der italienische Hersteller verkauft am meisten Autos in Großstädten jenseits der Mega-Metropolen 

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Einkaufszentrum in Neu-Delhi: Der indische Luxusmarkt soll bis 2030 auf das 3,5-Fache seiner heutigen Größe anwachsen

Auch ohne Pandemie ist es in Städten wie Delhi zum Alltag geworden, sich saubere Luft zu erkaufen. Der indische Markt für Luftreiniger für Privathaushalte wächst Schätzungen zufolge jährlich um 35 Prozent und soll 2027 ein Volumen von 600 Millionen Dollar erreichen. Die „Pay to Breathe“-Industrie ist heute so selbstverständlich wie das Geschäft mit abgefülltem Wasser. 2019 eröffnete in einem Einkaufszentrum die erste Sauerstoffbar der Hauptstadt. Kunden können dort 15 Minuten lang fast reinen Sauerstoff in verschiedenen Duftnoten zu sich nehmen. Eine Sitzung kostet etwa drei Euro. Das Angebot gab es bald darauf auch in anderen Städten.

Wie einst selbstverständliche Gemeingüter zum Luxus werden, zeigen auch die Hitzewellen. In Delhi wurde 2022 der heißeste März seit 100 Jahren gemessen. Wenn das Thermometer auf 45 Grad Celsius klettert, ziehen sich die Wohlhabenden in klimatisierte Wohnungen, Büros und Autos zurück – Tagelöhner und Gemüsehändler dagegen sind der unerträglichen Hitze auf der Straße ausgesetzt. Die Kosten für das Leben der anderen zahlen vor allem die Ärmsten.

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