Das Ziel: Selbsterhaltung. Der Weg: Anpassung.

Für den Soziologen Philipp Staab ist die Pandemie das Musterbeispiel einer Krise, von der wir lernen können.




brand eins: Herr Staab, war die Pandemie mit ihren massiven staatlichen Eingriffen ins Wirtschaftsgeschehen ein Vorgeschmack auf künftige Krisen?
Philipp Staab: Davon bin ich überzeugt. Aber der Begriff der Krise ist nicht zutreffend für die derzeitigen Veränderungen. Denn die Vorstellung einer Krise, die den Normalzustand unterbricht und nach deren Bewältigung man zur alten Normalität zurückkehrt, ist eine Illusion.

Immerhin konnte die Pandemie durch schnell entwickelte Impfstoffe eingedämmt werden.
Und durch Verhaltensänderungen, also durch Anpassung. Aber der Klimawandel, das große Menetekel dieses Jahrhunderts, lässt sich nicht so einfach beenden. Es wird keine Rückkehr zur Welt vor dem Klimawandel geben, wir können nur versuchen, sein Tempo und Ausmaß einzudämmen.

Angesichts der Pandemie, der Erderwärmung und des Krieges in der Ukraine rückt die gesellschaftliche Aufgabe der Selbsterhaltung in den Vordergrund. Das alte Leitmotiv der Moderne, Individualisierung und Selbstentfaltung, tritt in den Hintergrund. Die Moderne war von der Vorstellung geprägt, dass wir die Zukunft nach unseren Wünschen gestalten können. Das erweist sich derzeit als Wunschdenken. Es zeigt sich deutlich, dass die Ideologie der Machbarkeit Grenzen hat.

Das klingt bedrohlich.
Noch bedrohlicher wäre es allerdings, wenn wir uns der notwendigen Anpassung verweigern würden, zum Beispiel aus ideologischen Gründen, wie es die Corona- und die Klima-Leugner fordern. Wir müssen lernen, auf Dauer mit solchen Selbsterhaltungsrisiken umzugehen. Das gelingt nur mit Anpassung und Verhaltensänderung. Die gute Nachricht und die Lektion der Pandemie ist: Es kann hart und mühsam werden, aber wir sind in der Lage, die nötigen Anpassungsanstrengungen zu leisten.

Aber weshalb sollte man sich dabei vom Fortschrittsoptimismus verabschieden?
Ich bin kein Wissenschaftsskeptiker, im Gegenteil. Um die Anpassungskrisen der Gegenwart und erst recht die der Zukunft zu bewältigen, sind wir auf wissenschaftliche Kompetenz angewiesen. Aber wir bewegen uns auf eine Gesellschaft zu, die um ihr Überleben ringen muss. Das löst die alten Vorstellungen einer Gesellschaft des endlosen Fortschritts ab, in der die Erweiterung individueller Handlungsspielräume im Vordergrund stand – oft ohne Rücksicht auf natürliche Ressourcen.

Was Sie Anpassung nennen, sind in Wirklichkeit massive Freiheitseinschränkungen – in der Pandemie zum Beispiel durch Hygieneregeln. Glauben Sie, dass das mehrheitsfähig ist?
Wir alle sind geprägt vom Versprechen der Moderne auf Selbstentfaltung. Aber vielen ist bewusst, dass dieser Lebensstil oder auch diese Ideologie zu einem enormen Problem geworden ist. Umfragen, etwa in Jugendstudien, zeigen das deutlich. Es fühlt sich nicht gut an, die ökologischen Folgen des eigenen Handelns permanent zu verdrängen. Klare Regeln der Anpassung an die Notwendigkeiten, wenn Sie so wollen, an das Realitätsprinzip, können durchaus entlastend wirken. Die Hygieneregeln wurden während der Pandemie weithin akzeptiert. Auch ein Tempolimit auf der Autobahn zum Beispiel dürfte nach kurzem Grummeln die nötige Akzeptanz finden.

Natürlich sind Anpassungsleistungen mit Einschränkungen verbunden. Aber Selbsterhaltung ist die erste und entscheidende Voraussetzung jeder Freiheit. Die größte Bedrohung der Freiheit besteht in außer Kontrolle geratenen Selbsterhaltungsrisiken, deshalb müssten kluge Liberale den Anpassungsanstrengungen eigentlich zustimmen. In der politischen Theorie der klassischen liberalen Vertragstheoretiker, etwa bei Thomas Hobbes, ist die Selbsterhaltung die Erstbegründung staatlicher Macht: Den Staat gibt es, damit wir uns nicht gegenseitig umbringen.

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Wer entscheidet darüber, wie weit ich in meinem Konsum oder in meiner Mobilität eingeschränkt werde? Ist es nicht anmaßend und arrogant, wenn Aktivisten des Bündnisses der Letzten Generation dieses Recht für sich in Anspruch nehmen?
Die Klima-Aktivisten machen auf die existenzielle Krise der gegenwärtigen Gesellschaft aufmerksam. Auf Fragen der Selbsterhaltung mit offensiver Ignoranz und Gleichgültigkeit zu reagieren ist mindestens ebenso anmaßend. Lange hoffte man, dass soziale Bewegungen in liberalen Demokratien die Politik bei ökologischen Fragen maßgeblich beeinflussen können. Das Modell entwickelte der Soziologe Ulrich Beck in den Achtzigerjahren. In den vergangenen Jahrzehnten hat das ja auch stattgefunden. Aus Sicht der jüngeren Klimabewegung, etwa Fridays for Future, werden damit die Probleme allerdings nicht hinreichend und nicht schnell genug gelöst.

Das ist eine Misstrauenserklärung an die parlamentarische Demokratie.

Wenn man konstatiert, dass die demokratische Politik auf drängende existenzielle Krisen zu langsam und nicht immer kompetent reagiert, bleibt als Autorität die Wissenschaft. Deshalb lautet eine Forderung von Fridays for Future: Hört auf die Wissenschaft! Das ist die Forderung an die Politik, Macht und Entscheidungsbefugnisse an die Wissenschaft abzugeben. Deren Urteile sind nicht durch demokratische Mehrheiten legitimiert, sondern durch Fachkenntnis. In der Pandemie haben wissenschaftliche Gremien politische Entscheidungen zumindest stark beeinflusst. Das ist ein Modell für den Umgang mit massiven Krisen wie dem Klimawandel.

Also soll Demokratie angesichts existenzbedrohender Krisen durch Technokratie ergänzt werden?
Zumindest ist die Kritik, dass notwendige politische Entscheidungen durch den Einfluss von Interessengruppen gelähmt und endlos hinausgezögert werden, weitverbreitet. Wir haben in einer empirischen Studie Interviews mit rund 80 Beschäftigten in systemrelevanten Berufen geführt, die an der Frontlinie der Pandemie standen. Unter anderem mit dem Personal in Krankenhäusern, auf Intensivstationen, mit Polizistinnen und Polizisten, Kita-Beschäftigten, Lehrerinnen und Lehrern. In dieser akuten Krise war bei den Befragten der Wunsch nach einem stärkeren politischen Einfluss der Wissenschaft, nach mehr technokratischer Steuerung, sehr deutlich. Gleichzeitig haben sie eine prinzipielle Kritik an einer Kultur des rücksichtslosen, narzisstischen Individualismus formuliert.

Philipp Staab, geboren 1983,

ist Professor für die Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat Bücher über Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen (Macht und Herrschaft in der Servicewelt, 2014) und die Digitalisierung der Wirtschaft (Digitaler Kapitalismus, 2019) veröffentlicht. In seinem aktuellen Buch „Anpassung – Leitmotive der nächsten Gesellschaft“ untersucht er gesellschaftliche Antworten auf gegenwärtige und künftige Selbsterhaltungskrisen.

Was haben diese Menschen gegen Individualismus?
In unserer Erhebung beklagen etwa die pandemie-gestressten Pflegekräfte, dass viele Leute einen völlig überzogenen Begriff der eigenen Besonderheit und Größe haben: „Ich lebe mein eigenes Leben, für mich gelten die Regeln nicht, mein Körper ist stärker als Corona, ich lasse mir keine Maske vorschreiben.“

Die Befragten kritisieren eine Mentalität, die keine Rücksicht auf andere nimmt, zum Beispiel auf vulnerable Gruppen oder das überlastete Gesundheitssystem. Sie beschreiben etwa Anfeindungen in Situationen, in denen sie das Einhalten von Hygienevorschriften einforderten. Vor lauter Egozentrik seien solche Regel-Verweigerer unfähig, simple Verhaltensregeln zu akzeptieren – selbst wenn diese Regeln Leben retten und kaum Einschränkungen verlangen.

Eine Polizistin spricht in unserer Befragung davon, dass immer mehr Menschen in ihren Augen eigentlich nicht erwachsen geworden seien. Ihnen fehle die Einsicht in die Notwendigkeiten eines gelingenden Zusammenlebens. Diese Experten und Expertinnen für gesellschaftliche Stabilisierung beobachten eine verhängnisvolle Kultur des Narzissmus, ein letztlich kindisches Verhalten, das zum Zerfall der Gesellschaft führt. Das Verhalten lässt sich auch beim Klimawandel beobachten: Wenn SUV-Fahrer oder Vielflieger von Freiheit reden, meinen sie nur ihre eigene.

Aber die Antwort auf die Krisen der Gegenwart kann doch nicht der Abschied von individueller Freiheit sein.
Es wäre zumindest hilfreich, die Freiheit rücksichtsloser Selbstentfaltung durch eine Ethik der Anpassung zu korrigieren. Der Zwang zur Selbstverwirklichung unter Konkurrenzbedingungen bedeutet im Übrigen nicht nur mehr Freiheit für die Einzelnen, sondern vielfach vor allem Druck, Stress und Überforderung.

Soziologen wie Alain Ehrenberg vertreten seit Jahrzehnten die Position, dass der Anstieg an depressiven Erkrankungen und Erschöpfungssyndromen eine Ursache im überfordernden Anspruch zur Selbstverwirklichung haben könnte. Sich davon zu befreien und zu einem realistischen Bild der eigenen Größe zu kommen könnte daher gegenseitige Rücksichtnahme und Gemeinsinn fördern und entlastend wirken.

Und wer das nicht einsieht, muss mit staatlichen Maßnahmen dazu gezwungen werden?
Zumindest wünschen sich viele derjenigen, die im Krisenfall die Stabilität der Gesellschaft sichern, mehr staatliche Steuerung. Bei unseren Interviews mit den Pflegern, Polizistinnen und anderen systemrelevanten Arbeitskräften hörten wir oft: Wer die Hygieneregeln nicht aus eigener Einsicht einhält, muss durch die Androhung von Sanktionen dazu gebracht werden. Die Befragten wünschen sich, dass fachliches Wissen gehört und durchgesetzt wird. Ein typischer Satz ist: „Wenn nur die Umstände endlich stimmen würden, könnte ich meine Arbeit auch gut machen.“

Das ist, wie der Wunsch nach größerem politischem Einfluss der Wissenschaft, ein Modell für den gesellschaftlichen Umgang mit anderen Selbsterhaltungskrisen. Funktionale Hierarchien und klare formale Zuständigkeiten werden als hilfreich und notwendig erachtet, um adäquat auf den Ernstfall zu reagieren. Diese Erfahrung macht man täglich, zum Beispiel in der Arbeit im Krankenhaus, wo nicht einfach jeder machen kann, was er will. Wenn der Wald brennt, hilft ein demokratischer Redekreis akut nicht weiter.

Funktionale Hierarchie bedeutet: Zwang?
Der Wunsch nach funktionalen Hierarchien hat nicht nur mit Zwang zu tun. Es geht auch darum, den Handlungsspielraum derjenigen zu erweitern, die wirklich Bescheid wissen und bereit sind, Sorge für andere zu tragen. Natürlich führt dies zu gesellschaftlichen Konflikten. Ich glaube aber, dass es andererseits eine gewisse Erschöpfung beim Warten auf die nötige kollektive Einsicht gibt.

Viele Menschen und Milieus sind einsichtsfähig und offen für vernünftige Argumente – andere sind das weniger. Im Grunde gibt es aber bereits einen breiten Konsens, dass wir besonders auf den Klimawandel mit einer Anpassung unserer Lebensweise reagieren müssen. Die Wende zu einer Gesellschaft der Anpassung findet längst statt, daran führt im Interesse aller Menschen auch kein Weg vorbei. Die Frage wird sein, wer dafür welchen Preis zahlen muss, wer welche Anpassungsleistung erbringen, wer auf was verzichten muss und wer welche Privilegien verteidigen kann.

Wird der Ressourcenverbrauch beispielsweise bei allen Bürgerinnen und Bürgern gleich eingeschränkt oder vor allem der luxuriöse Lebensstil des obersten Prozents? Wird es gelingen, in den reichen Gesellschaften des Nordens politische Mehrheiten für finanziellen Ausgleich mit ärmeren Ländern im Sinne der Klimagerechtigkeit zu gewinnen? Oder ist die Antwort auf klimabedingte Migrationsbewegungen vor allem der militärische Schutz der Außengrenzen und ein Ausbau der Festung Europa?


Wird es gelingen, in den reichen Gesellschaften des Nordens politische Mehrheiten für finanziellen Ausgleich mit ärmeren Ländern im Sinne der Klimagerechtigkeit zu gewinnen?

Und was hilft akut in Krisen?
Die vordringliche gesellschaftliche Aufgabe ist dann die Stabilisierung. Die entscheidende Ressource ist gesellschaftliche Arbeit. In der Pandemie wurden plötzlich ganze Berufsfelder als systemrelevant identifiziert, etwa im Gesundheitswesen. Bei drohendem Blackout wird deutlich, wie systemrelevant die Energie-Infrastruktur ist. Wenn es um Katastrophenhilfe geht, ist das Technische Hilfswerk relevant.

Wenn wir verstärkt mit Krisen dieser Art zu tun haben, müssen wir die notwendige Arbeitskraft zu deren Bewältigung mobilisieren. Das ist in der Pandemie nicht gut gelungen. Die Gesundheits-Infrastruktur war stark überlastet und ist nur durch die massive Überforderung der Beschäftigten arbeitsfähig geblieben.

Nicht jeder eignet sich als Aushilfskrankenpfleger oder Krisenhelfer nach einer Hochwasserkatastrophe. Wie lässt sich die benötigte Arbeitskraft im Krisenfall organisieren?
Zu Beginn der Pandemie hat man das ansatzweise versucht. In einer Datenbank sollten die Bürger des Landes mit ihren jeweiligen krisenrelevanten Qualifikationen erfasst werden, sozusagen als letzte zivile Reserve des Gesundheitssystems. Um dieses Projekt ist es im Pandemieverlauf sehr still geworden.

Wie sollte eine solche zivile Reserve mobilisiert werden?
Staatlicher Zwang ist sicher nicht das beste Instrument. Aber nicht zufällig wird immer lauter über die Wiedereinführung gesellschaftlicher Pflichtdienste nachgedacht. Denn auch jenseits akuter Notlagen stellt sich die Frage, wie die gesellschaftlich notwendige Arbeit organisiert wird und wie die dafür benötigten Arbeitskräfte auf Dauer zur Verfügung stehen. Die systemrelevante Arbeit etwa von Pflegekräften, Polizistinnen, Soldaten oder Technikern in der Infrastruktur wird in den Selbsterhaltungskrisen eine noch viel dramatischere Bedeutung bekommen. Es wird auch darum gehen, die Ressourcen der Zivilgesellschaft besser zu nutzen. Dass die Menschen in großer Zahl bereit sind, sich in Notsituationen für andere zu engagieren, zeigen sie in jeder Krise aufs Neue.

Nicht nur Arbeit ist eine knappe Ressource. Als Folge des Krieges in der Ukraine droht hierzulande Energieknappheit, man diskutiert für den Fall des Falles bereits Zuteilungen für bestimmte Unternehmen. Müssen wir uns an staatliche Eingriffe ins Marktgeschehen gewöhnen?
Die globalen Just-in-time-Lieferketten funktionieren nicht mehr immer und überall. Die Zeiten, als in den Wohlstandsgesellschaften alles jederzeit im Überfluss verfügbar war, sind vorbei. Wir befinden uns in einer Ära wachsender Ressourcenkonflikte und möglicher Versorgungsengpässe. Damit umzugehen, also Mangellagen zu managen, müssen die Wohlstandsgesellschaften wieder lernen. Die Bürger werden genau das von ihrem Staat erwarten. ---

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