Niels Van Quaquebeke im Interview

Das sagt der Psychologe Niels Van Quaquebeke. Ein Gespräch über die Vorzüge von digitalen Vorgesetzten.





• Niels Van Quaquebeke, 46, ist Professor für Leadership and Organizational Behavior an der Kühne Logistics University in Hamburg.

Im Juni 2023 veröffentlichte er gemeinsam mit Fabiola Gerpott einen wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel: „The Now, New, and Next of Digital Leadership: How Artificial Intelligence Will Take Over and Change Leadership as We Know It“.

Seine These: Technik wird immer mehr Führungsaufgaben in Firmen übernehmen.


Der Mensch ist dann nicht mehr ,the smartest guy in the room‘. Wir werden übertrumpft, und zwar ständig.

brand eins: Glauben Sie wirklich, dass sich künstliche Intelligenz (KI) für den Chefposten in Unternehmen eignet?

Niels Van Quaquebeke: Lange Zeit wähnten sich Berufsgruppen, die keine körperliche Arbeit verrichten, sicher. Man dachte, es braucht den Menschen, sein Wissen und seine Kreativität. Inzwischen werden bei Banken, Versicherungen und Medien längst Tools eingesetzt, die auf KI basieren. Wir erleben mit, wie die Algorithmen täglich besser werden. Immer mehr Tätigkeiten lassen sich automatisieren. Künstliche Intelligenz wird auch nicht vor der Führungsetage haltmachen.

Wann wird sie Ihrer Meinung nach so weit entwickelt sein, dass sie menschliche Führungskräfte ersetzen kann?

In unserem Artikel haben wir die Entwicklung von Digital Leadership in drei Phasen eingeteilt: Now, New und Next.

Im Now wird die traditionelle Führung in den digitalen Raum verlagert; dieser Prozess hat mit der Pandemie an Dynamik gewonnen. Hybride Arbeitsmodelle sind seitdem verbreiteter, und Führung findet verstärkt über digitale Kanäle statt. Das New hat bereits begonnen; in dieser Phase ist KI ein Werkzeug für Führungskräfte, es unterstützt und berät sie im Arbeitsalltag, macht Prozesse effizienter. Im Next wird künstliche Intelligenz schließlich Führungskräfte ersetzen.

Wann soll das so weit sein?

Die Entwicklung wird schnell voranschreiten. Denn KI macht Unternehmen und Volkswirtschaften effizienter. In Asien und den USA ist man da schon weiter als in der EU, der Wettbewerbsdruck steigt. Wann KI tatsächlich verstärkt Führungskräfte ersetzen wird, kann ich nicht vorhersagen. Vielleicht in drei, fünf oder zehn Jahren. Lange dauern wird es jedenfalls nicht.

Wie muss man sich KI als Chefin vorstellen?

Was die Erscheinungsform angeht, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Es muss nicht unbedingt ein Avatar sein und erst recht kein humanoider Roboter. Eine KI kann als Dashboard auf dem Computer auftreten, das mir meine Aufgaben anzeigt. Oder als Chatbot. Oder als Stimme, so wie Alexa. Auch die Smartwatch an meinem Arm, die mir anzeigt: „Niels, steh mal auf und geh 20 Schritte!“ ist eine Führungsinstanz.

Für welche Aufgaben eignet sich die Technik?

Im Prinzip für alle. Als ich vor etwa vier Jahren anfing, mich mit dem Thema zu beschäftigen, dachte ich noch: Es sind nur die Routineaufgaben. Alles, was standardisiert und repetitiv ist, mit gut strukturierten Daten. Etwa in der Buchhaltung. Oder im Personalbereich, so etwas wie Lebenslauf-Screening oder standardisierte Jobinterviews. Doch mittlerweile sehe ich keine Grenzen mehr. Die neueren KIs sind leistungsstärker und kommen auch mit unstrukturierten Daten klar. Bald kann KI vielfältige Führungsaufgaben übernehmen – und wird wahrscheinlich besser als viele Menschen darin sein.

Besser als der Mensch?

Besser als eine durchschnittliche Führungskraft, ja. Wenn wir ehrlich sind, sind nicht alle Führungskräfte grandios. Unternehmen haben oft Schwierigkeiten, überhaupt Leute zu finden, die führen wollen und können. Wenn wir also fair vergleichen – eine KI mit einer durchschnittlichen Führungskraft –, dann wird die KI vermutlich besser abschneiden.

Was soll sie besser können?

Zum einen trifft sie schnell analytische, datengetriebene Entscheidungen. Aus strategischer Sicht ist das im Normalfall besser. Zum anderen kann sie, das ist unsere These, auch die klassische Führungsrolle besser ausfüllen. Sie kann also besser auf die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingehen, kann ein persönlicher Coach und Motivator sein.

Sie meinen, sie ist dem Menschen in seiner ureigenen Fähigkeit, der Kommunikation, überlegen?

Definitiv. Eine KI kann die psychologischen Bedürfnisse des Menschen befriedigen, die für intrinsische Motivation nötig sind, nämlich die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit. Besser als gestresste Führungskräfte. Aus mehreren Gründen: Erstens hat eine KI schlicht mehr Zeit. Sie ist rund um die Uhr für mich da; ich kann meine Anliegen direkt klären und dadurch autonomer arbeiten. Zweitens hat sie ein besseres Gedächtnis; sie wird einbeziehen können, was ich ihr vor Jahren mal gesagt habe. Drittens kann sie meine individuelle Kommunikation analysieren, darauf eingehen und ihr Vokabular daran anpassen.

Kann ich eine Bindung zu einer KI aufbauen?

Wenn Sie den Film „Her“ gesehen haben, können Sie sich das vielleicht vorstellen: Da verliebt sich ein Mann in eine Computerstimme. Das ist zwar eine fiktive Geschichte, aber es liegt viel Wahres darin. Wenn wir uns verstanden fühlen, bauen wir eine Bindung auf. Es liegt in der Natur des Menschen, auch Maschinen zu vermenschlichen. Viele von uns haben zu ihrem Smartphone eine emotionale Beziehung. Und der US-Konzern Meta zeigt gerade, wie Menschen bei ihrer Whatsapp-Kommunikation mit Chatbots zu diesen eine Bindung aufbauen.

Fehlt, wenn KI die Bezugsinstanz am Arbeitsplatz ist, nicht die zwischenmenschliche Interaktion?

Nicht unbedingt. Die kann eine KI sogar ankurbeln. Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, Sie hätten bei brand eins einen Chatbot auf dem Computer, der die Chefredaktion repräsentiert. Der würde Ihnen nicht nur Themen zuteilen, Deadlines setzen, Feedback zu Texten geben, sondern Ihnen auch vorschlagen: „Geh doch mal bei Susanne vorbei, die ist im Thema drin.“ Die KI weiß das, denn sie kennt die Profile aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und kann sie miteinander vernetzen.

Heißt das, mit einer KI als Führungskraft steigt die Chance, sich am Arbeitsplatz wohler zu fühlen?

Richtig, denn all Ihre Bedürfnisse, um produktiv und motiviert zu arbeiten, werden erfüllt. Es gibt keinen wütenden Chef, der Sie zusammenstaucht, wenn etwas nicht klappt. Stattdessen eine KI, die objektives Feedback gibt. Das kann sehr angenehm sein. Aber genau das hat auch eine Schattenseite. Die Vision, die uns Tech-Optimisten verkaufen, ist eine Welt ohne Leiden. Und das stimmt vielleicht sogar. Wir werden nicht mehr unter schlechten Chefs leiden müssen. Aber der Mensch wächst normalerweise an Konflikten und Krisen, auch bei der Arbeit, und eine KI wird weniger Konflikte austragen, sondern uns so behandeln, dass wir möglichst produktiv arbeiten. Unser Miteinander wird verflachen, das ist in meinen Augen nichts Positives.

Man will ja auch keine Vorgesetzten, die alles besser wissen und unumstößliche Anweisungen erteilen, sondern mit ihnen um den besten Weg ringen und recht bekommen, wenn man die besseren Argumente hat.

Aus der Psychologie wissen wir, dass es nicht unbedingt wichtig ist, dass man recht bekommt. Wichtiger ist, dass man seine Gedanken äußern kann und sich ernst genommen fühlt. Das kann eine KI als Führungskraft definitiv leisten. Sie beharrt nicht unbedingt auf ihrer Lösung, sondern kann in einen Dialog treten. Je nachdem, wie gut die Datengrundlage ist, sollte sie – das muss entsprechend programmiert sein – mehr oder weniger überzeugend formulieren. Sie agiert auf Basis von Wahrscheinlichkeiten.

Wenn eine Lösung sehr wahrscheinlich ist, sollte die KI stärker insistieren, als wenn es große Zweifel gibt. Wenn zu wenige Daten vorliegen, sollte sie einräumen, dass sie für das Problem keine Lösung hat. Dann kommt der Mensch ins Spiel, der vielleicht sagt: Ich würde gern etwas Neues ausprobieren, ich habe eine Idee. Damit schafft er gleichzeitig neue Daten für die KI.


Vielleicht trifft eine KI mal eine falsche strategische Entscheidung, aber das haben Menschen in höheren Positionen auch schon oft getan.

Menschliche Führungskräfte sind mit all ihren Macken einschätzbar – im Gegensatz zu einer KI, deren Entscheidung man nicht nachvollziehen kann. Führt das nicht letztlich zu Fatalismus bei den Beschäftigten?

Worauf die Entscheidungen einer KI beruhen, muss nicht im Dunkeln bleiben. Ich kann sie fragen: „Wie kommst du darauf?“ Und sie wird mir ihre Logik bestenfalls transparent darlegen.

Wir müssen uns ihr also nicht blind ergeben. Allerdings wird es durchaus frustrierend sein, wenn wir feststellen, dass es letzten Endes wenig Sinn ergibt, gegen eine KI zu argumentieren, weil sie tatsächlich alles besser weiß. Der Mensch ist dann nicht mehr „the smartest guy in the room“. Wir werden übertrumpft, und zwar ständig.

Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Studien haben schon früher gezeigt, dass es Personen destabilisiert, wenn sie das Gefühl haben, keine sinnvolle Arbeit zu haben und nicht gebraucht zu werden. Deshalb, das ist das Wichtigste überhaupt, müssen wir uns jetzt unbedingt mit dem Thema KI beschäftigen, auf allen Ebenen. Viele stecken noch den Kopf in den Sand.

Woran liegt das?

Daran, dass es wie ein Thema der Zukunft aussieht. Und dass viele Menschen nicht wahrhaben wollen, was da auf sie zukommt. In Start-ups ist das anders. Da wird viel ausprobiert, wofür KI-Tools nützlich sind. Etablierte Unternehmen hinken teilweise hinterher. Auch weil es dort Leute gibt, die schon lange oben sitzen, wenig technikaffin sind und sich stark über ihre Position definieren. Wegschauen scheint einfacher. Aber das ist keine Lösung.

Was ist der richtige Umgang mit KI?

Man sollte sich mit dem Thema ernsthaft befassen, egal in welchem Beruf. Alle sollten mindestens Tools wie ChatGPT ausprobieren und sich fragen: Können die mir vielleicht nützen?

Auf der anderen Seite sollte sich jeder Einzelne damit beschäftigen, welche Daten man wo teilt und was damit passiert. Gerade wenn es um Persönliches wie das eigene Befinden geht. Sollte ich vor einer KI im Arbeitskontext alles geheim halten, eine Fassade aufbauen? Nein, dann bekomme ich Aufgaben zugeteilt, die nicht zu mir passen. Sollte ich alles mit ihr teilen? Nein, dann bin ich so transparent, dass meine Daten missbraucht werden können. Jeder Mensch muss einen eigenen Kompass entwickeln.

Wie soll das gehen?

Es gibt nicht den einen richtigen Weg oder die eindeutige Antwort. Wenn es um KI geht, haben wir es ständig mit Dilemmata und Ambivalenz zu tun.

Sie prophezeien: Durch KI fällt das untere und mittlere Management weg. Verlieren wir damit nicht eine wichtige Karriere-Perspektive?

Die Aussicht auf einen Posten im Mittelmanagement ist für viele Menschen nicht unbedingt verlockend. Studien zeigen, dass Tätigkeiten im Mittelmanagement oft als aufreibend empfunden werden, weil man von oben und unten getrieben wird.

Grundsätzlich wird sich für uns aber eine Frage stellen: Worüber definieren wir uns, wenn nicht mehr über unsere Karriere? Was tun wir mit unserer Lebenszeit, wenn KI immer mehr Aufgaben übernimmt? Im schlimmsten Fall führen wir Kriege oder versinken in einer virtuellen Welt in Lethargie. Im besten Fall wird der Mensch vom ökonomischen Diktat befreit und widmet sich mehr dem sozialen Miteinander und der Ästhetik.

Wo sehen Sie in Zukunft überhaupt noch Aufgaben für menschliche Führungskräfte?

Im höheren Management brauchen wir Leute, die die KI führen, die also entscheiden: Welche Technik wollen wir, was sind die ethischen Leitlinien, denen die KI folgen soll, welche Daten geben wir rein? Dafür müssen die Führungskräfte entsprechend ausgebildet werden.

Sie benötigen technisches Know-how, aber auch ein gutes Verständnis für philosophische und psychologische Fragen. Sie müssen diejenigen sein, die die zivilisatorische Perspektive einnehmen. So könnte eine menschliche Führungskraft etwa sagen: Auch wenn Mitarbeiter XY lange krankgeschrieben war und aus einer rein ökonomischen Logik heraus betrachtet – die eine KI vielleicht anwenden würde – kein guter Mitarbeiter ist, kündigen wir ihm nicht.

Sollte der Mensch immer die letzte Instanz bei Personalfragen und strategischen Entscheidungen sein?

Nicht unbedingt. Arbeitsrechtlich ist das natürlich im Moment noch notwendig, aber wenn wir konsequent weiterdenken, sieht es doch so aus: Wenn ich nicht im Thema bin, bin ich auch kein guter Entscheider. Wie bei selbstfahrenden Autos. Wenn ich als Beifahrer auf dem Handy spiele, warum sollte ich dann im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig eingreifen und besser handeln können als das Fahrzeug selbst? Vielleicht trifft eine KI mal eine falsche strategische Entscheidung, aber das haben Menschen in höheren Positionen auch schon oft getan.

Können Mensch und KI gemeinsam führen?

Das sogenannte Co-Piloting ist ein hehres Ziel. Die Idee ist: Der Mensch bleibt der Pilot, die KI assistiert als Co-Pilot. In der Praxis zeigt sich aber schon jetzt, dass der Mensch dazu tendiert, der KI zu folgen. Ein Beispiel aus den USA: In der dortigen Justiz soll eine KI namens „Harvey“ Juristinnen und Juristen bei der Bewertung von Fällen unterstützen. Nur unterstützen, wohlgemerkt. Entscheiden sollen die Fachleute selbst. Eine Studie zu Richtern hat aber gezeigt, dass praktisch niemand gegen die Empfehlung einer KI entscheidet. Was logisch ist, denn würde sich das von einem Menschen durchgesetzte Urteil als zu mild herausstellen und der Täter wieder straffällig werden, hieße es womöglich: Warum bloß hat der Richter gegen die objektive Empfehlung des Algorithmus gehandelt? Also ist es so, dass die künstliche Intelligenz letzten Endes die Entscheidungen trifft. ---

Konkrete Beispiele von digitalen Vorgesetzten findet ihr hier.

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