Gut informierte Kreise

Holakratie verspricht mehr Erfolg durch flexibles Selbstmanagement – gerade in der postpandemischen Arbeitswelt ein Plus. Doch das heißt noch lange nicht, dass man ohne Regeln auskommt.





Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 07/2021.

• Weg mit Hierarchie, Abteilungen und Titeln, her mit Selbstmanagement und genau definierten Rollen, um sich einzubringen und mitzuentscheiden. Mehr Vertrauen in die Fähigkeiten und das Verantwortungsgefühl des Einzelnen – das ist das Versprechen von Holakratie, einer Management-Methode, mit der Unternehmen jeder Größe seit rund anderthalb Jahrzehnten experimentieren, vom amerikanischen Online-Schuhhändler Zappos bis zu kleinen Design- und Beratungsfirmen in Europa.

Das intellektuelle Zentrum der Bewegung liegt in Texas. Dort betreibt der ehemalige Programmierer Brian Robertson die Beratung Holacracy-One oder H1, die seit 2007 die neue Firmenorganisation propagiert. Ihm ging nach eigenem Bekunden bereits 2001 als Gründer seiner Softwarefirma auf, dass Führung nicht sein Ding ist. Er wollte nicht täglich die Arbeit und Vorhaben seiner Mitarbeiter absegnen. Als eine Art Selbsthilfe ersann er ein Prinzip, bei dem der Chef nicht mehr behelligt wird.


 


 

Die Umsetzung von Holakratie beginnt mit der Unterschrift unter eine etwa 40 Seiten lange Verfassung mit je einem Kapital zu den Themen Rollenbesetzung, Kreisstruktur, Governance-Prozess, operativer Prozess, Inkraftsetzung. Danach gilt es, die Rollen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu dokumentieren, sodass jeder einzelne einsehen kann, wofür er oder sie und die Kollegen zuständig sind und was auf der kleinen wie großen Agenda steht. Am Anfang brauchte es dafür eine von Robertson entwickelte Software namens Glassfrog, inzwischen gibt es weitere Programme anderer Anbieter. Robertson empfiehlt für die Umsetzung von Holakratie die Hilfe externer Berater. Die Ausbildung und Entsendung von zertifizierten Coaches, die den Prozess wochenweise oder mehrere Monate am Stück begleiten, ist sein Geschäft, es gibt inzwischen aber auch reichlich Konkurrenz.

Holakratie bedeutet: Statt der üblichen hierarchischen Ebenen gibt es sich selbst organisierende Kreise, die sich jeweils mit Themen wie Personal, Vertrieb oder Marketing beschäftigen. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter kann sich engagieren, man muss dann eine oder mehrere relevante Rollen mit genau definierten Pflichten übernehmen. Egal ob Topmanagerin oder Assistent, jeder hat dieselben Mitspracherechte. Konferenzen laufen nach einem strengen Prozedere ab, bei dem zwar jeder die Tagesordnung mitbestimmen, aber nachträglich nicht ändern darf. Was auf der Agenda steht, wird so der Reihe nach abgehandelt. Und es sind nur noch zwei Arten von Meetings erlaubt: große rund um Führungsfragen und kleinere zu operativen Dingen. Sogenannte Links fungieren als Verbindungsleute zwischen verschiedenen Kreisen.

In einer holakratischen Organisation kann also keineswegs jeder tun, was er will. Vieles wird geregelt – mit dem Ziel, allen innerhalb ihrer Rollen möglichst viel Gestaltungsfreiheit zu geben.

Der Fall Zappos

Der Begriff Holakratie leitet sich ab von Arthur Koestlers 1967 erschienenem Buch „The Ghost in the Machine“. Darin entwickelte der Schriftsteller eine Systemtheorie und verwendete das Wort „Holone“ für ein Ganzes, das Teil eines größeren Ganzen ist. So wie eine Zelle zu einem Organ und das wiederum zu einem Körper gehört. Robertson entwickelte die Theorie zu einer Managementlehre weiter, die er zuerst in seiner Softwarefirma ausprobierte. Im Jahr 2015 erschien sein Buch „Holacracy – The New Management System for a Rapidly Changing World“.

Ein prominenter Anhänger der Holakratie war Tony Hsieh, Chef des Online-Schuhhändlers Zappos. Der schillernde Unternehmer, der im vergangenen November mit nur 46 Jahren starb, wollte das für seine eigenwillige Kultur und Fixierung auf herausragenden Kundendienst bekannte Unternehmen 2012 neu strukturieren. „Viele in dieser Organisation, mich eingeschlossen, hatten das Gefühl, dass die bürokratische Verkrustung um sich griff“, sagte Hsieh zur Begründung im Sommer 2015. Ein Jahr zuvor hatte er begonnen, alle 1500 Mitarbeiter am Firmensitz in Las Vegas auf die neuen Regeln der Holakratie einzuschwören. Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden aufgefordert, selbstständig zu agieren. „Wir brauchen keine Leute, die andere Leute managen“, verkündete Hsieh in einer firmenweiten E-Mail.

Bald darauf wurde öffentlich, dass Hsieh jedem, dem das neue Organisationsprinzip nicht gefiel, eine Abfindung in Höhe eines halben Jahresgehalts anbot für den Fall, dass er das Unternehmen verlässt. Knapp 15 Prozent der Belegschaft nahm die Offerte an. Ob das als Exodus zu werten ist oder als gewöhnliche Fluktuation in einer Firma, deren Mitarbeiter zum größten Teil in einem Callcenter arbeiten, blieb offen.

Inzwischen ist es um das Zappos-Experiment still geworden, was auch mit Hsiehs Tod zu tun haben dürfte. Auf der Website des zum Amazon-Imperium gehörenden Unternehmens heißt es: „Zappos nutzt weiterhin Holakratie, und wir haben nicht vor, das zu ändern.“ Als der zum Unternehmenschef ernannte frühere Chief Operating Officer Kedar Deshpande im März sein erstes großes Interview gab, erwähnte er die Holakratie allerdings mit keinem Wort.

Brian Robertson sagt: „Zappos ist nach wie vor eine wunderbare Fallstudie, die zeigt, wie eine große Firma nach einem mehrjährigen Umbau erfolgreich sein kann.“ Bei einigen Teams hätte es sofort funktioniert, andere hätten Anlaufschwierigkeiten gehabt. „Das ist zu erwarten, wenn man mehr als tausend Menschen auf diese Reise mitnehmen will.“

Auch er, der Hsieh persönlich beriet, hat seit einem Jahr keinen Kontakt zu der Zappos-Führung. „Es kann gut sein, dass sie das Ganze kippen“, sagt Robertson. So etwas könne bei einem Managementwechsel passieren. Ihm zufolge hat die Corona-Krise die Nachfrage nach Holakratie erhöht. Die chaotischen Auswirkungen der Pandemie auf Arbeitsprozesse hätten ihm mehr Anfragen von größeren Firmen und sogar Regierungsbehörden beschert, berichtet er.

Rituale statt Regeln

Kursat Ozenc, Designer und Autor zweier Bücher zum Thema Rituale, sieht es so: „Unser Verständnis von Arbeit ist immer noch von den Zwängen der industriellen Revolution geprägt. Fabriken formten unsere Arbeitskultur. Jetzt, da Millionen Menschen plötzlich von zu Hause arbeiten mussten, steht uns wieder ein radikaler Wandel bevor.“ Regeln seien Verhaltensvorgaben von oben, sagt er, während Rituale von Menschen entwickelt würden, um mit Veränderungen klarzukommen. Dazu gehöre etwa das morgendliche Treffen im Büro oder neuerdings per Videokonferenz, das dazu diene, dass sich niemand allzu isoliert fühlt. Corona, glaubt Ozenc, gebe jetzt die Gelegenheit, neue Leitplanken für eine moderne Unternehmenskultur zu setzen und die Rollen genauer zu definieren, sodass Mitarbeiter mehr Freiheiten hätten, diese auszufüllen. ---

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