Brunello Cucinelli

Die Börse steht in dem Ruf, Unternehmen unter kurzfristigen Gewinndruck zu setzen. Brunello Cucinelli ist dafür bekannt, dass er seine Firma nach ethischen Kriterien führt. Was passiert, wenn beide aufeinandertreffen?





• Pünktlich um 17.30 Uhr schließt Brunello Cucinelli die Tore. Dann ist Feierabend im italienischen Solomeo, die Arbeiter gehen nach Hause. Jeden Tag, von montags bis freitags. Es ist nicht so, dass es dem Textilfabrikanten an Aufträgen mangeln würde. Ganz im Gegenteil. Die Bücher sind prall gefüllt. Doch das spielt keine Rolle. „Die Leute sollen Zeit mit ihren Familien verbringen“, sagt er. „Das rettet Ehen. Und wer keine Familie hat, soll erst recht Feierabend machen, denn wie soll er sonst jemals eine gründen können?“

Eine ungewöhnliche Haltung für den Chef eines erfolgreichen Modeunternehmens. Noch dazu in Italien, wo der Abend später anfängt als anderswo. Bedenkt man zudem, dass die Brunello Cucinelli S.p.A. ein börsennotiertes Unternehmen ist, kommt einem die Haltung des Chefs fast schon befremdlich vor. Wieso kann der sich das leisten?

Börse, hört man doch immer, heißt: Profitdruck, Wachstumsfantasien, von Quartal zu Quartal zu denken und alles dafür zu tun, den hohen Erwartungen von Aktionären, Fondsmanagern und Analysten gerecht zu werden. Toresschluss um 17.30 Uhr wirkt da fast wie eine Provokation.

Cucinelli juckt das nicht.

„Natürlich“, sagt er, „muss ein Unternehmen Profit machen. Ohne Profit kann kein Unternehmen überleben. Aber der Profit ist kein Wert für sich. Der Profit muss immer im Dienst der Würde des Menschen stehen, sonst ist er wertlos.“

Solomeo, knapp 200 Kilometer nördlich von Rom. Ein winziges Dorf, das sich auf die Kuppe eines der zahllosen Hügel inmitten der lieblichen Landschaft Umbriens drängt. Hier haben die Firmenzentrale und die Fabriken ihren Sitz. Das Dorf war – wie viele andere in Mittelitalien auch – dem Verfall preisgegeben, nur noch wenige Familien lebten hier. Eine davon waren die Bendas, deren Tochter Federica Brunello Cucinelli heiratete. Teils aus Liebe zu seiner Frau, teils weil er einen Firmensitz suchte, beschloss Cucinelli in den Achtzigerjahren, das Dorf zu retten. Er kaufte die mittelalterliche Burg aus dem 14. Jahrhundert, einen Palazzo aus dem 17. Jahrhundert sowie weitere acht Häuser, restaurierte die Gebäude aufwendig und brachte darin seine Büros und Produktionsstätten unter. Vor den Toren Solomeos baute er Werkhallen und umgab sie mit Parks aus Zedern und Pinien.

Heute beschäftigt das Unternehmen rund 1000 Menschen. In Italien ist der Gründer und Chef längst ein Phänomen. Er steht für humanistisches Unternehmertum, einen neuen, besseren Kapitalismus. Auch international sorgt er für Aufsehen. Die US-Universität Harvard und das renommierte Massaschusetts Institute of Technology (MIT) entsandten ihre Studenten nach Italien, um von Cucinelli zu lernen.

Der 60-jährige Unternehmer wuchs in einfachen, aber glücklichen Verhältnissen auf – bis sein Vater der Landwirtschaft den Rücken kehrte, weil er eine Stelle in einer Fabrik bekam. Was damals sozialen Aufstieg verhieß, entpuppte sich als Unglück, weil der Vater unter den Erniedrigungen litt, denen er bei der Arbeit ausgesetzt war. Das, erzählt Cucinelli, sei ein Schlüsselerlebnis gewesen. Er habe sich damals geschworen, die Würde des Menschen hochzuhalten, sollte er es in seinem Leben mal zu etwas bringen.

Die Firma gründete er 1978. Damals war Cucinelli von den Erfolgen Lucinano Benettons, die er aus der Ferne beobachtete, tief beeindruckt. Was dem mit bunten Wollpullovern gelang, wollte er mit Textilien aus Cashmere schaffen.

Er lieh sich von einem Bekannten 500 000 Lire, damals knapp 500 Euro, und beauftragte ein paar Strickerinnen aus seinem Heimatdorf, Frauenpullover zu fertigen – der Anfang einer Erfolgsgeschichte, die ihn schließlich nach Solomeo führte.

Statt in Bangladesch, wie das Gros der Textilkonzerne, produziert Cucinelli ausschießlich in Italien. Der Lohn, den er seinen Näherinnen, Strickerinnen und Schneiderinnen zahlt, liegt 20 Prozent über dem Branchendurchschnitt, er betrachtet sie nicht als Kostenfaktoren, sondern nennt sie respektvoll „anime pensanti“, denkende Seelen. Manager dürfen bei ihm maximal achtmal so viel verdienen wie die Arbeiterinnen. In seinen Werken gibt es keine Stechuhren und in den Büroetagen kaum Hierarchien.

Dem Geschäft scheint es nicht zu schaden. Das Unternehmen erwirtschaftete im abgelaufenen Jahr 322,5 Millionen Euro Umsatz und einen operativen Gewinn von 58,2 Millionen Euro. Seit Jahren wachsen Umsatz und Gewinn zweistellig.

Was bewog Cucinelli vor zwei Jahren dazu, an die Börse zu gehen? Er sagt: „Ich wollte die Stimmen derer hören, die anders denken als ich. Wenn man ein börsennotiertes Unternehmen ist, muss man auf die Aktionäre hören. Ich hätte keine besseren Ratgeber finden können.“

Flavio Cedera, Analyst beim US-Investmenthaus Merrill Lynch in London, ist überzeugt davon, dass der Fabrikant durch diesen Schritt das Fortbestehen seines Unternehmens gesichert hat. Merrill Lynch hat gemeinsam mit der italienischen Bank Mediobanca den Börsengang begleitet. „Wenn man es so macht wie Cucinelli“, sagt Cedera, „dass man nur ein Drittel der Firma verkauft, weiterhin Mehrheitsaktionär und Geschäftsführer bleibt, dann ist die Börse das ideale Instrument, um unabhängig zu bleiben.“

Wer hingegen den Sprung auf das Parkett – aus welchen Gründen auch immer – nicht schafft, läuft Gefahr, früher oder später aufgekauft zu werden. So ist es den beiden italienischen Luxus-Labels Gucci und Brioni ergangen, die vom französischen Konzern Kering (ehemals Pinault-Printemps-Redoute-Gruppe) aufgekauft wurden. Oder dem ebenfalls auf hochwertige Cashmere-Mode spezialisierten italienischen Label Loro Piana, das sich im vergangenen Jahr der französische Konzern LVMH einverleibte. „Der Börsengang von Brunello Cucinelli“, sagt Cedera, „war ein absolut notwendiger und intelligenter Schritt.“

Aber passen dessen ethische Unternehmensprinzipien zu den Gepflogenheiten an der Börse? Prallen da nicht zwei völlig verschiedene Welten aufeinander?

„Nein“, sagt Cereda. „Dass Brunello Cucinelli zu hundert Prozent in Italien produziert, wird an der Börse sehr positiv gesehen.“ Die Frage, wo und unter welchen Bedingungen Kleidung hergestellt wird, hat früher kaum jemanden interessiert. Jetzt denken viele Kunden anders, die Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger ökonomischer Faktor. „Brunello Cucinelli hat gewisse Dinge einfach früher gesehen und verstanden als andere“, sagt Cereda.

Das gelte auch für die Tatsache, dass er seine Mitarbeiter besser bezahlt als andere Unternehmer. „Es entspricht nicht nur seinem Image eines Idealisten. Es ist auch unternehmerisch gerechtfertigt.“

Cucinelli stellt kostspielige Kleidung her. Heute verarbeitet er zwar nicht mehr nur reines Cashmere, doch seine Kollektionen stehen nach wie vor für höchste Qualität und handwerkliche Kunst. „Es gibt nur wenige Luxusmarken, die eine preisliche Positionierung wie Cucinelli rechtfertigen können“, schrieb der Goldman-Sachs-Analyst William Hutchings in einer Analyse. „Design, Geschichte, Qualität, Verarbeitung und Herkunft – alles unterstützt seine Preisstellung.“

Der Merrill-Lynch-Analyst Cereda sagt: „Wenn Sie ein solches Produkt herstellen, benötigen Sie geeignete Kapazitäten. Ich spreche hier nicht von Maschinen, ich spreche von Menschen. Sie benötigen Fachkräfte, die fähig sind, mit dem Produkt auf eine ganz spezielle Weise umzugehen, die den Ansprüchen an höchste Qualität, Kreativität und Know-how gerecht werden. Diese Menschen sind wirklich schwierig zu bekommen.“

Es sei daher unternehmerisch klug, solche Mitarbeiter durch gute Behandlung zu binden. Cucinelli drückt es so aus: „Es ist schwierig, einer Frau, die achteinhalb Stunden am Tag an derselben Maschine sitzt und die ewig gleichen Knopflöcher an immer ähnlich aussehende Strickjacken näht, zu sagen, sie solle mit Leidenschaft arbeiten. Wo soll diese Leidenschaft herkommen? Also frage ich mich: Kann ich der Strickerin oder Näherin nicht mehr bezahlen? Und ich stelle fest, ich kann. Ich habe dann immer noch genug.“

Der Chef warnt die Analysten

Als Cucinelli Ende April 2012 seine Firma an die Mailander Börse brachte, war der Erfolg überwältigend. Die Aktie war um das 7-fache überzeichnet, die Nachfrage institutioneller Investoren überstieg das Angebot sogar um das 18-fache. Der Emissionspreis betrug 7,75 Euro. Insgesamt nahm Cucinelli damit frisches Kapital in Höhe von knapp 174 Millionen Euro ein. Entsprechend den Eigentumsverhältnissen flossen knapp zwei Drittel davon, 112 Millionen Euro, in seine Taschen und ein gutes Drittel, 62 Millionen Euro, füllte die Firmenkasse. Am ersten Tag der Börsennotiz schnellte der Kurs der Cucinelli-Papiere bereits um 50 Prozent auf fast zwölf Euro.

Offensichtlich glaubten Investoren und Analysten an den Mann aus Solomeo mit seinen ethischen Grundsätzen. Jedenfalls können sie nicht behaupten, nicht gewusst zu haben, was auf sie zukommt. Denn vor dem Börsengang hatte Cucinelli seine potenziellen Investoren ausdrücklich gewarnt. Statt im Zuge seiner Roadshow von Großstadt zu Großstadt zu tingeln, um sein Unternehmen möglichen Aktionären anzupreisen, lud er zu sich nach Hause ein.

In den acht Monaten vor dem Börsengang besuchten 120 Investoren der größten Investmenthäuser der Welt Solomeo. Cucinelli aß und trank mit ihnen, führte sie durch seine Produktionsstätten, ließ sie mit seinen Angestellten sprechen. Und dann stellte er klar: Wenn sie auf der Suche nach einem Unternehmen seien, das auf rasches Wachstum aus sei, mit Lieferanten knallhart verhandle und bei den Lohnkosten auf die Bremse trete, na, dann sollten sie sich bitte nach einer anderen Firma umsehen.

Sie taten es nicht. In den Monaten nach dem Börsengang stieg der Kurs der Cucinelli-Aktie beständig. Und Italien hatte endlich wieder einen neuen Star, den das Land dringend gebrauchen kann. Benetton hatte sich kurz zuvor nach einem Vierteljahrhundert von der Börse zurückgezogen. Energie-, Banken- und Versicherungswerte dominieren den Index der Mailänder Börse. Die Rezession und die Finanzkrise haben das Land stark erschüttert, den Bankensektor entkräftet und die Kaufkraft der Konsumenten geschwächt. Da tut eine Erfolgsstory besonders gut.

Einen großen Teil seines Erlöses aus dem Börsengang steckte Cucinelli in seine Stiftung, mit der er weiterhin „la bellezza“, die Schönheit, fördern will, wie er sagt. 2012 spendete er 1,3 Millionen Euro, damit der etruskische Torbogen in Perugia restauriert werden kann, und verteilte unter seinen Mitarbeitern einen Bonus in Höhe von fünf Millionen Euro.

„Ich habe in meiner Laufbahn mehr als 20 Unternehmen an die Börse begleitet“, sagt Flavio Cereda. „Aber so einen Börsengang wie den von Cucinelli habe ich noch nie gesehen. Von Anfang an waren die schönsten Namen des Asset Managements mit von der Partie, alle großen und wichtigen Adressen, keine Hedgefonds, und alle waren sie auf long, sprich mit langfristiger Investmentabsicht dabei.“

Tatsächlich liest sich die Liste der institutionellen Investoren von Cucinelli wie das Who’s who der internationalen Vermögensverwaltung: Fidelity, Pictet, Oppenheimer Funds, Aberdeen Asset Management, Edmont de Rothschild Asset Management, Pioneer Investment Management. Der Fabrikant aus Solomeo hat sie bis heute nicht enttäuscht.

Cucinelli wächst, aber kontrolliert. 80 Prozent seiner Umsätze erwirtschaftet die Firma im Ausland, nur 20 Prozent im schrumpfenden italienischen Markt. Das Unternehmen unterhält 100 eigene Boutiquen in 60 Ländern sowie weitere 700 Multibrand-Shops in den wichtigsten Städten rund um die Welt. Seine Mode verkauft sich in Moskau, Mexiko-Stadt und Miami genauso wie in St. Moritz, Capri und Saint-Tropez. Das stärkste Wachstum erzielte Cucinelli 2013 in Nordamerika mit einem Umsatzplus von 23,2 Prozent und in China und Südostasien mit einem Umsatzsprung von 52,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zwei Märkte, in denen Luxus „made in Italy“ seit jeher eine große Anziehungskraft besitzt.

Die Firma habe ein enormes Wachstumspotenzial, urteilen die Analysten des Investmenthauses Kepler Cheuvreux, sie könne wahrscheinlich dreimal so viel verkaufen wie aktuell. Doch der Chef mag nicht. „Unser Label steht für absoluten Luxus“, sagt er, „und ein Luxusgut lebt von der Exklusivität seiner Marke.“

„Ganz richtig“, urteilt Cereda. „Cucinelli bewegt sich im obersten Preissegment, und er stellt fast ausschließlich Bekleidung her, kaum Accessoires. Das unterscheidet ihn grundlegend von seinen Konkurrenten. Es gibt nur ganz wenige andere Unternehmen in dieser Nische, und die sind entweder nicht börsennotiert oder gehören zu einer großen Unternehmensgruppe. Dieses Alleinstellungsmerkmal und der ethische Ansatz, das ist die DNA des Unternehmens.“

Ende 2013 stieg der Kurs der Aktie auf knapp 27 Euro. Die Marktkapitalisierung der Firma betrug zu diesem Zeitpunkt 1,8 Milliarden Euro. Und der Patron – Eigentümer von fast zwei Dritteln – avancierte zum Milliardär, zumindest auf dem Papier. Zum ersten Mal tauchte er in den internationalen Listen der Wohlstands-Rankings auf.

Dann, Anfang 2014, begann der Aktienkurs zu fallen. Innerhalb von drei Wochen verlor er 30 Prozent seines Wertes, von 27 Euro sank er auf unter 20 Euro. Das war ein Moment der Wahrheit, die erste große Bewährungsprobe. Würden die Analysten und Fondsmanager jetzt beginnen, Druck zu machen? Würden sie den Unternehmer zu Änderungen drängen?

„Natürlich könnte ein Fondsmanager Cucinelli auffordern, von seinem Kurs abzuweichen“, sagt Cedera, „aber wenn er das tut, dann beweist er damit, dass er nichts verstanden hat. Cucinelli hat alles richtig gemacht. Ich jedenfalls erwarte keine Veränderungen. Er setzt auf intelligentes, nachhaltiges Wachstum, und seine Zahlen haben bis jetzt noch nie enttäuscht. Die großen institutionellen Vermögensverwalter, sie sind alle noch in das Unternehmen investiert.“

Die gesamte Branche hatte es in den vergangenen Monaten nicht leicht. Man erwartet, dass die Nachfrage nach Luxusgütern in den Jahren 2014 und 2015 zurückgehen wird. „Die Aktie hat sich dafür verhältnismäßig gut gehalten“, sagt Flavio Cedera. „Man muss schließlich bedenken, dass sie von einem wirklich sehr hohen Niveau kam. Sie hat sich schnell erholt und steigt wieder.“

Wie verändert das Auf und ab des Aktienkurses die Unternehmenskultur? „Für uns war der Börsengang ein natürlicher Prozess“, sagt Francesco Tomassini, seit 2006 in der Firma tätig. Ein Jahr zuvor hättten sie in der Verwaltung bereits wie ein Unternehmen am Kapitalmarkt gearbeitet. „Das Einzige, worum Cucinelli gebeten hat, war, noch präziser zu sein. Das ist alles. Ich denke, dass viele Mitarbeiter in der Produktion gar nicht mitbekommen haben, dass wir jetzt börsennotiert sind.“

Und was sagt der Chef selbst zu den Veränderungen? Beeinflusst die Aktie sein unternehmerisches Handeln? „Nein“, sagt er, „überhaupt nicht. Meine Entscheidungen werden dadurch nicht tangiert. Ich tue nach wie vor das, was ich für langfristig sinnvoll und richtig erachte.“

Allein seine Stimmung sei jetzt größeren Schwankungen unterworfen. Vor dem Börsengang habe er gedacht, dass er künftig einmal morgens und einmal abends auf den Kurs schauen werde. Das habe sich als falsch herausgestellt. „Ich schaue mindestens fünfmal am Tag drauf.“ ---