Von Blasenschaft bis Silberblick – das deutsche Rechtswörterbuch

Der Wortschatz von Heidelberg

Seit 125 Jahren wird am Deutschen Rechtswörterbuch geschrieben, rund 100 000 historische juristische Begriffe erklärt es mittlerweile. Ein Gespräch mit Andreas Deutsch, dem Leiter der Forschungsstelle.





Das Stichwort „Aachenfahrt“ war das erste, „Zwungnis“ soll in vierzehn Jahren das letzte sein: Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) wurde 1897 von einer Gruppe Rechts- und Sprachhistorikern an der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und wird heute im 125. Jahr an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften fortgeschrieben. Der Jurist Andreas Deutsch, 51, leitet seit 2007 die Forschungsstelle und lehrt außerdem Rechtsgeschichte an der Universität Heidelberg. Die Akademie hat ihren Sitz im Großherzoglichen Palais, „der ehemaligen Studentenbude der Prinzen“, wie der Professor sagt. Von einem der Salons in der Beletage aus, in dem früher Bälle stattfanden und der heute Arbeitstreffen vorbehalten ist, kann man durch ein barockes Panoramafenster den Felsen hinauf zur Schlossruine blicken. Deutsch sitzt eine Etage darüber, in einem bräunlichen Bürodesign aus den Siebzigerjahren – und umgeben von Büchern aus acht Jahrhunderten. Das Deutsche Rechtswörterbuch erläutert mittlerweile 100.000 Begriffe aus 1500 Jahren. Sie alle eint, dass sie aus deutschen Sprachformen sowie teils aus dem Altniederländischen, Altfriesischen sowie Altenglischen stammen und in jedem Fall einen juristischen Bezug haben. Zum geplanten Abschluss des Jahrhundertwerks im Jahr 2036 sollen rund 120.000 historische Begriffe nachzuschlagen sein – die ältesten Fundstücke stammen aus dem Jahr 380, die jüngsten aus den Napoleonischen Kriegen. Im Moment ist die zweite Hälfte von Band XIV im Druck.


Andreas Deutsch hütet das Quellenverzeichnis des Rechtswörterbuchs: Jeder, der einen Belegzettel

erstellt hatte, wurde hier eingetragen.

„A kiss is just a kiss“, ein Kuss ist bloß ein Kuss, wird im Filmklassiker „Casablanca“ gesungen. Dabei war ein Kuss oder das Chussen, wie eine der vielen verschwundenen Wortverwandten heißt, über Jahrhunderte hinweg keine banale Angelegenheit oder schlichte Liebes-bekundung, nicht wahr, Professor Deutsch?

Tatsächlich wurden damit Sühnehandlungen abgeschlossen, Doktortitel verliehen oder etwa auch die Vergabe eines Landguts besiegelt. In einem Nachschlagewerk von 1727 heißt es: „im 12. und 13ten seculo haben bey dem magdeburgischen lehen-hofe die grafen von M. … die lehen folgender gestalt empfangen: der lehen-herr reichete dem vasallo, so ihm mit ehrerbietung die rechte hand gab, mit umgefangten armen, kuß, fuß-tritt und backenstreich die belehnung.“ Das musste ich natürlich selbst in unserem Online-Angebot nachsehen, denn der Buchstabe K war lange vor meiner Zeit dran. Ich habe das Rechtswörterbuch ja beim Stichwort „Sau“ übernommen. Ich glaube, mein geschätzter Vorgänger hat sich einen Spaß daraus gemacht.

Waren die Sau und Wortverbindungen mit ihr als Injurie oder als Ware Gegenstand von Vorschriften?

Ganz unterschiedlich. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurde an gleich mehreren Orten im deutschsprachigen Raum geklärt, ob und wann ein Gastwirt Weinbestände in den „Säutrog“ gießen durfte. Das stand fürs Wegschütten. Das war dann der Fall, wenn die Bauern der Umgebung übers Jahr hinweg nicht so viel Wein getrunken hatten, wie sie sollten.

Wie sie sollten?

Ja, es gab eine Verzehrpflicht für die Bauern der Gegend, meist all jene, die im Umfeld einer Mühle und einer Gastwirtschaft die Felder bewirtschafteten. Hintergrund war, dass auch das Gasthaus Abgabepflichten an den Lehnsherrn hatte, ihnen aber nicht nachkommen konnte, wenn nicht genügend Wein getrunken wurde. Konnte der Wirt nachweisen, dass er den Bauern das Getränk erneut angeboten hatte und sie es ihm aber nicht abnehmen konnten oder wollten, hatte er das Recht, den übrig gebliebenen Bestand in eben jenen Säutrog zu schütten, statt Abgaben darauf zu entrichten.

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