Woher kommen die neuen Wettbewerber?

Nie mehr Katzentisch

Vor gut 30 Jahren in Hanoi gestartet, hat der IT-Allrounder FPT aus Vietnam heute Kunden und Partner aus der ersten Liga der globalen Konzerne. Doch der Gründer? Will noch mehr. Möglich, dass die Technologien von morgen in Ländern entstehen, die wir noch gar nicht auf dem Zettel haben.




/ Der Minister für Technologie hatte eine einfache und durchaus naheliegende Frage, als an einem Tag im September 1988 ein junger Mann in seinem Dienstgebäude in Hanoi vorstellig wurde, um die Genehmigung zur Gründung eines Unternehmens einzuholen. „Was wollt ihr denn herstellen?“, fragte der Minister. Die Antwort hat ihn wahrscheinlich überrascht: „Ich weiß es noch nicht“, sagte der damals 32-jährige Truong Gia Binh. „Aber ich mag Technologie. Wir sind eine Gruppe junger Wissenschaftler und wollen etwas Neues auf die Beine stellen. Mal sehen, was dabei rauskommt.“

Der Minister überlegte kurz. In der Lebensmittelindustrie lag vieles im Argen. „Ständig gibt es Versorgungsengpässe, das muss dringend besser werden. Dann macht doch einfach Lebensmitteltechnologie.“ So bekam das Unternehmen seine Genehmigung, seine Bestimmung und auch gleich seinen ersten Namen – Food Processing Technology Company (FPT), auf Deutsch: „Firma für Lebensmittelverarbeitungstechnologie“.

Dass der Name Programm war, war erst einmal nicht außergewöhnlich: In Vietnam wurden Unternehmen häufig nach dem Produkt benannt, das sie herstellten. Viel überraschender sollte die spätere, eindrucksvolle Entwicklung von FPT sein. Rückblickend lässt sich sagen: An diesem Tag wurde das erste IT-Unternehmen Vietnams gegründet. „Wir haben uns halt einfach mit Computern statt mit Lebensmitteln beschäftigt“, erinnert sich Truong Gia Binh.

33 Jahre nach jenem denkwürdigen Gespräch ist Binh längst zum schillernden Popstar der Unternehmerszene im kommunistisch regierten Vietnam avanciert. Als Chairman bestimmt er nach wie vor die Geschicke des Unternehmens, das 1990 in „Corporation for Financing and Promoting Technology“ umbenannt wurde, das alte Kürzel FPT passt immer noch. Über die Jahre hat sich die Firma zum mit Abstand größten Informations- und Kommunikationsdienstleister des Landes gemausert, der sein Geld heute vor allem mit Softwareentwicklung für Kunden im In- und Ausland, Systemintegration und IT-Beratung verdient. Seit 2006 ist FPT an der Börse von Ho-Chi-Minh-Stadt gelistet, dem früheren Saigon. Dort zählt es in diesem Jahr zu den größten Kursgewinnlern: Zwischen Januar und August 2021 hat sich der Aktienkurs nahezu verdoppelt.

Gründen nach PlanIn Vietnam hat sich eine quirlige IT-Start-up-Szene entwickelt. FPT-Chef Truong Gia Binh schätzt die Zahl der Tech-Start-ups auf derzeit rund 3000. Natürlich hat die kommunistische Regierung auch dafür einen Plan, wie die Firmen gefördert werden sollen: finanziell und mit Mentoring, Inkubatoren und Akzeleratoren. Bei der Finanzierung spielt Wagniskapital eine geringe, aber wachsende Rolle, inklusive Geldgebern aus dem Ausland. Allein im ersten Quartal 2021 flossen mehr als 100 Millionen US-Dollar in lokale Start-ups, ein Drittel mehr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Bruttoinlandsprodukt von Vietnam (2020): 271 Milliarden US-Dollar (Nr. 43 der Welt)

FPT agiert längst weltweit, in 57 Niederlassungen in 27 Ländern. 36 000 Mitarbeiter erwirtschaften einen Jahresumsatz von umgerechnet zwei Milliarden US-Dollar. Auf der Kundenliste der vergangenen zwei Jahrzehnte finden sich rund 700 Namen, unter ihnen große Konzerne wie Toshiba, Hitachi, Unilever, Airbus, Deutsche Bank, RWE, E.On, Allianz und Siemens. Seite an Seite mit Partnern aus der Top-Liga der Tech-Branche wie General Electric, Google, IBM, Amazon Web Services und Microsoft entwickelt FPT komplexe IT-Lösungen.

Mit RWE arbeiten die Vietnamesen beispielsweise seit 2004 zusammen, aktuell beim Internet der Dinge und der robotergestützten Prozessautomatisierung; mit der Allianz haben sie unlängst ein Joint Venture für digitale Versicherungen im asiatischen Markt gegründet. Auch Airbus nutzte die FPT-Expertise, als es darum ging, riesige Datenbestände von mehr als 30 Fluggesellschaften zu sammeln und in die konzerneigene IT-Plattform Skywise zu integrieren, mittlerweile die weltweit wohl wichtigste Datendrehscheibe im zivilen Luftverkehr.

Die Erfolgsgeschichte des in Hanoi beheimateten Technologie-Zugpferdes fügt sich passgenau in die Strategie der kommunistischen Einheitspartei ein, die seit dem Sieg des kommunistisch regierten Nordvietnams über das von den USA unterstützte Südvietnam im Jahr 1975 im gesamten Land die Macht hat innehat. Die Regierung hat die Ziele für 2030 klar definiert: Bis dahin soll die digitale Wirtschaft mit 1,5 Millionen Beschäftigten in 100 000 Unternehmen knapp ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften. Die Staatsführung will das Land an die Weltspitze der IT-Hubs führen. Ho-Chi-Minh-Stadt wird in den Medien schon als künftiges Silicon Valley Asiens angepriesen. „Vietnam hat sich entschieden“, pflichtet Truong Gia Binh den Plänen seiner Regierung bei. „In der vierten industriellen Revolution werden wir mit den führenden Tech-Nationen der Welt gleichziehen.“

Was hochfliegend klingt, scheint nicht völlig aus der Luft gegriffen. Schon heute gilt das autoritär regierte Vietnam, das im ersten Corona-Jahr 2020 noch ein Wirtschaftswachstum von fast drei Prozent vorweisen konnte, als die aufstrebende IT-Nation in Asien. Die Elektronikindustrie, sagt die dem deutschen Bundeswirtschaftsministerium zugeordnete Wirtschaftsförderungsgesellschaft Germany Trade and Invest, habe sich „zur wohl wichtigsten Branche des Landes entwickelt“. Im Schatten von FPT hat sich eine florierende IT-Branche etabliert, die im Jahr 2019 bereits mehr als einer Million Menschen eine Beschäftigung bot und 14 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitrug.

Ernste LageVietnam mit seinen aktuell 97 Millionen Einwohnern ist keine freiheitliche Demokratie, sondern nach wie vor ein kommunistischer Einparteienstaat. Amnesty International beklagt seit Jahren Verletzungen der Menschenrechte und Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Bei politischen Indizes internationaler Nichtregierungsorganisationen schneidet das Land regelmäßig schlecht ab.

Pro-Kopf- Einkommen in Vietnam (2020): 2660 US-Dollar

Binh wollte raus aus der Armut

Lange wurde der IT-Boom von Fabriken ausländischer Konzerne wie Samsung, Intel, LG, Microsoft und Foxconn getragen, die Smartphones, Computer, Bildschirme und Chips produzieren ließen. Viele nutzen Vietnam bis heute als reinen Montagestandort. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sie insgesamt rund 40 Milliarden US-Dollar in Produktionsstätten investiert.

Das starke Lohngefälle lockt viele Konzerne: Ein vietnamesischer Arbeiter in der Produktion bringt im Schnitt nicht einmal die Hälfte des Lohns seines chinesischen Kollegen nach Hause; selbst im Vergleich zu Indonesien arbeiten die Vietnamesen immer noch für ein Drittel weniger. Hinzu kommen satte Steuervergünstigungen. Die Geschäfte von Hightech-Firmen, die Fertigungen nach Vietnam verlagern, sind bis zu vier Jahre von der Steuer befreit – und in den neun Jahren danach ist nur der halbe Steuersatz fällig.

In jüngerer Zeit profitierte Vietnam, das 2009 die Grenze von 1000 US-Dollar Bruttonationaleinkommen pro Kopf überschritt und im selben Jahr auch erstmals nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als „Lower Middle-Income Country“ geführt wurde, vom Handelskonflikt zwischen China und den USA. Vor allem bei Elektronikbauteilen war das Land der Haupt-Nutznießer, als Einkaufsströme binnen weniger Monate umgeleitet und neue Lieferanten gefunden werden mussten. Immer häufiger reüssiert Vietnam inzwischen aber nicht nur als billige Werkbank, sondern auch als „Outsourcing-Powerhouse“ für Großkonzerne aus aller Welt, so das Nachrichtenportal Nikkei Asia. In den Rankings des amerikanischen IT-Marktforschungsinstituts Gartner belegt das Land seit 2015 stets einen Platz unter den besten fünf Nationen.

Vietnam bietet Investoren eine junge Bevölkerung, Durchschnittsalter 32 Jahre, „mit einem sehr anpassungsfähigen Ansatz in Bezug auf Arbeit“, sagt Binh. „Das sind aufgeschlossene, ungeheuer technikaffine, leistungshungrige Männer und Frauen“, wirbt er für seine Landsleute. Im weltweiten Pisa-Vergleich 2015 rangierte Vietnam in Mathematik auf Platz 22, in den Naturwissenschaften sogar auf Rang acht – acht Plätze vor Deutschland und 17 vor den USA. Viele Eltern investieren ein Drittel ihres Einkommens oder mehr in die Bildung ihrer Kinder.

Viele der jungen Tech-Entrepreneure von heute leben den Gründermythos von Truong Gia Binh nach. Nur dass der Pionierunternehmer seinerzeit viel weiter unten auf der Leiter des sozialen Aufstiegs anfing. Damals ging es nicht um ein Leben im Wohlstand, um einen Porsche oder eine Rolex, sondern um die nackte Existenz. „Als junger Mann hatte ich eigentlich nur ein Verlangen: raus aus der Armut!“, erinnert sich Binh. „Das Unternehmertum war für mich der Weg, all dieses Elend hinter mir zu lassen.“

Geboren wurde Binh 1956, aufgewachsen ist er im Krieg, der das Land auszehrte. Als er acht Jahre alt war, fielen Bomben auf Hanoi, wo er mit seinen Eltern wohnte. Danach wurde seine gesamte Schule aufs Land evakuiert. Wenn die amerikanischen Bomber am Himmel auftauchten, „gingen wir raus und schauten uns den todbringenden Bombenregen an. Für uns war das wie ein großes Feuerwerk, ein faszinierendes Schauspiel.“ Es war nicht nur eine schlechte Zeit, denkt er heute. „Sie hat ein starkes Gemeinschaftsgefühl geprägt.“ Die Kinder beobachteten untereinander genau, wer sich bei den Mahlzeiten mehr zu essen nahm als die anderen. „Mit diesen Kindern spielte man nicht gern, das waren keine guten Kameraden.“

Im Sommer 1975, als das Töten zu Ende war und die letzten US-Soldaten das Land verlassen hatten, war er gerade 19 Jahre alt. „Ich dachte, der Krieg hört nie auf“, sagt er. „Man hatte sich einfach daran gewöhnt.“ Binh gelang es, an der Fakultät für Mechanik und Mathematik der Moskauer Lomonossow-Universität zu studieren und zu promovieren, später arbeitete er in einem mathematischen Forschungsinstitut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften.

Foto: Bloomberg / Getty Images

Truong Gia Binh, Gründer und Chairman von FPT


„Wir wollten Vietnam auf die digitale Landkarte der Welt bringen. Das ist uns gelungen. Und jetzt wollen wir ganz oben mitspielen. Auch das wird uns gelingen.“

Vielleicht wäre er in Moskau geblieben, doch eines Tages schrieb ihm ein Kollege aus der Heimat: „Ich weiß nicht mehr, wie ich meine Frau und die zwei Kinder durchbringen soll mit fünf Dollar im Monat. Wir müssen etwas tun!“ 13 Jahre nach Kriegsende lag Vietnam wirtschaftlich immer noch völlig am Boden. Viele Menschen litten Hunger, immer wieder brach die Stromversorgung zusammen, die Inflationsrate war dreistellig.

Binh tat sich mit einem Dutzend Wissenschaftlerkollegen zusammen und gründete FPT. Der Schritt fiel in eine Zeit wirtschaftlicher Liberalisierung, weg von der Kommandowirtschaft der Nachkriegsjahre, mit der das Land immer tiefer in der Krise versank, hin zur Politik des Doi Moi, einer sozialistischen Marktwirtschaft mit einem Privatsektor – der heute mehr als 40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt.

Anfangs stand FPT völlig allein auf weiter Flur. Selbst einfache Personal Computer waren eine Rarität. Das Land litt unter dem Wirtschaftsembargo der USA, es gab kaum Kontakte ins westliche Ausland. Das nötige Computerwissen verschafften sich die Gründer aus älteren Lehrbüchern. „Wir haben einfach losgelegt und die ersten Programme geschrieben“, sagt Binh und amüsiert sich über den holprigen Start, „für die staatliche Fluggesellschaft etwa, damit elektronische Ticket-Buchungen möglich wurden.“ Büros und Verwaltungen wurden auf FPT-Empfehlung hin mit PCs und Druckern ausgestattet, Schreibmaschinen und Faxgeräte durch Computer ersetzt. „Wir haben den Computer nach Vietnam gebracht“, zieht Binh nicht unbescheiden das Fazit der Anfangsjahre. Ende der Neunzigerjahre gehörte FPT zu den ersten Internet-Anbietern im Land.

Mit den Jahren wuchs die Firma zu einer Krake heran, einem IT-Vollsortimenter, wie er im Westen nirgends zu finden ist. „In Deutschland würde man vermutlich sagen, dass sie sich total verzetteln“, urteilt Frauke Schmitz-Bauerdick, Vietnam-Korrespondentin von Germany Trade and Invest, „aber in Vietnam sind solche Geschäftsmodelle durchaus nicht selten.“ Binh schätzt, dass FPT die Hälfte dessen aufgebaut hat, was heute zur IT-Landschaft seiner Heimat zählt.

Foto: Chau Doan / Getty Images

Hier wird IT-Zukunft gedacht: Mitarbeiter in der FPT-Zentrale in Hanoi.

Die Regierung hilft, wo es geht

Im internationalen Geschäft mussten Binh und seine Mitstreiter zunächst reichlich Lehrgeld zahlen. Der FPT-Chef erinnert sich noch gut an ein Gespräch mit IBM-Managern, Ende der Neunzigerjahre war es wohl. Der amerikanische Computerpionier war wenige Jahre zuvor in eine schwere Krise gerutscht. „Wie konnte euch das passieren?“, fragte Binh. „Ihr seid Big Blue, die Nummer 1, unser großes Vorbild.“ Genau das sei das Problem, sagte einer der IBM-Leute, „wir waren zu behäbig, nicht mehr hungrig und innovativ“. Binh dachte an sein eigenes Unternehmen, damals schon unangefochtener Branchenprimus in Vietnam. „Wir müssen einen Weg finden, nicht Nummer 1 zu sein“, sagte er sich. „Also gehen wir dorthin, wo wir auf keiner Rangliste stehen, wo uns keiner kennt.“ An die IT-Hotspots, auf Tuchfühlung mit den Großen der Branche. Das war zumindest der Plan. FPT eröffnete Büros, zuerst in Bangalore, dann im Silicon Valley. „Wir haben unsere besten Leute dort hingeschickt“, erzählt Binh, „aber es kam einfach niemand. Wir haben keinen einzigen neuen Kunden gewonnen – und die Büros dann wieder geschlossen.“

Den ersten Großkunden jenseits der Landesgrenzen fand Binh 2002 ausgerechnet in Japan, damals der für Neueinsteiger härteste IT-Markt der Welt, mit dem dortigen Telekommunikations-Marktführer Nippon Telegraph and Telephone, besser bekannt als NTT. Die Sprache erwies sich als Schlüssel zum Erfolg: Binh hatte den Deal gut vorbereitet – und seine Ingenieure Japanisch lernen lassen. Der Anfang war gemacht.

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Es begann eine lange Phase stürmischen Wachstums mit jährlichen Zuwachsraten von zeitweise 50 bis 70 Prozent. FPT überzeugte immer mehr westliche Kunden, insbesondere durch eine kompromisslose Kundenorientierung. „Was können wir für euch tun?“, lautet das Firmencredo. „Was braucht ihr jetzt – und was werdet ihr in fünf Jahren benötigen?“ „FPT bringt uns maßgeschneiderte Ideen für zukünftige Lösungen, wie wir unser Kerngeschäft mit IT unterstützen“, lobt zum Beispiel Frank Brauer, Leiter Corporate Finance IT bei RWE.

Der vietnamesische Outsourcing-Spezialist versucht stets, in der obersten Liga der Tech-Konzerne anzudocken. Oder, in den Worten von Truong Gia Binh: „Unsere Strategie war es, uns auf die Schultern von Giganten zu stellen.“ Im Jahr 2000 wurde FPT von IBM als Software-Dienstleister ausgewählt, 2006 begann eine mit Gold zertifizierte Partnerschaft mit dem US-Softwarekonzern Microsoft. Die beiden Deals markierten den Durchbruch.

In der nach wie vor tonangebenden kommunistischen Partei, laut Verfassung „die führende Kraft im Staate und in der Gesellschaft“, ist Binh, wie man hört, hervorragend vernetzt. „Speerspitzen-Unternehmen wie FPT sind von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Landes“, sagt Schmitz-Bauerdick von Germany Trade and Invest, „ihre Anliegen genießen bei der politischen Führung höchste Priorität.“ Binh, der fasziniert ist von legendären Unternehmerpersönlichkeiten, allen voran dem früheren General-Electric-Vorstandschef Jack Welch, erhält jede Baugenehmigung, die er braucht. 2006 gründete er gar eine eigene Universität, die FPT University. Dort werden angehende Ingenieure nicht nur in künstlicher Intelligenz und Big Data geschult, sie lernen auch Japanisch und seit Kurzem sogar Deutsch.

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In zehn Jahren an die Spitze

Die auskömmliche Welt des IT-Outsourcings, deren Akteure letztlich im Schatten ihrer Kunden bleiben, wird dem rastlosen Binh allmählich zu eng. Jetzt will er sein Unternehmen auf eine weit höhere Umlaufbahn katapultieren – und das ganze Land in puncto Digitalisierung auf die Überholspur bringen. Der Bedarf ist überall immens, in der Energiewirtschaft, dem Bankwesen, der Bauindustrie, der Landwirtschaft, dem Immobiliensektor, der Bildung.

Auch den nächsten Schritt hat der Stratege Binh inzwischen geplant. Der Unternehmer will nie mehr am Katzentisch der globalen Hightech-Familie sitzen: „In zehn Jahren wird FPT zur Riege der weltweit führenden IT-Unternehmen gehören.“

Egal welches Buzzword auch fällt, ob Big Data, Robotik, künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, Cloud Computing oder autonomes Fahren – im Gespräch vermittelt der Firmenchef stets dieselbe Botschaft: „Das können wir auch.“ Ein Entwicklungszentrum für künstliche Intelligenz gibt es schon, die Pläne zur Gründung einer KI-Universität sind offenbar weit fortgeschritten.

Bislang dachte man bei derlei Themen nicht unbedingt an Vietnam. Aber Binh, über dessen privates Vermögen immer wieder spekuliert wird, ist kein Mann, der es bei großspurigen Ankündigungen belässt. Als erstes Unternehmen aus Südostasien wurde FPT im Jahr 2020 Partner des in puncto maschinellen Lernens weltweit führenden KI-Forschungsinstituts Mila aus Montreal. Mit der vietnamesischen Tochtergesellschaft von Bosch arbeitet das Unternehmen an neuartigen Videoüberwachungssystemen zur intelligenten Steuerung von Verkehrsströmen, die demnächst in südostasiatischen Pilotstädten, unter ihnen Hanoi, erprobt werden sollen. Eine von FPT entwickelte Software-Robo-Technologie namens akaBot automatisiert repetitive Bürotätigkeiten.

Auch personell konnte Binh einen Coup landen. Im Frühjahr holte er Frank Bignone an Bord: Der Manager, der bis dato bei Airbus die Digitalisierung des Asien-Geschäftes verantwortete, leitet nun die digitalen Transformationsprojekte von FPT weltweit.

Und doch: Die angekündigte Offensive in künstlicher Intelligenz mutet tollkühn an. Binhs Wettbewerber in den neuen Geschäftsfeldern sind Giganten wie Google oder Intel und mit reichlich Wagniskapital hochgepäppelte Start-ups, vor allem aus den Vereinigten Staaten und Israel. Die Claims scheinen größtenteils abgesteckt. Auch der zwischenzeitliche Hype ums autonome Auto ist deutlich abgekühlt, nachdem die Auto- und Tech-Konzerne ihre Pläne allesamt um einige Jahre verschoben haben. Binh verfolgt seine Vorwärtsstrategie dennoch unbeirrt.

„Dieser Mann ist absolut faszinierend“, sagt ein Kenner der vietnamesischen IT-Szene. „Wenn man ihn auf Veranstaltungen erlebt, hat man den Eindruck, hier schwebt jemand zwischen Genie und Wahnsinn – wobei das Genie klar überwiegt.“ Angesprochen auf Kassandrarufe, die hier und da zu hören sind, sagt Binh in seinem kehligen Englisch: „Wir wollten Vietnam auf die digitale Landkarte der Welt bringen. Das ist uns gelungen. Und jetzt wollen wir ganz oben mitspielen. Auch das wird uns gelingen.“ //