Frauen in der IT-Branche

Wenige Branchen sind so männerdominiert wie die IT. Eine Ausnahme ist die Beratungsfirma Thoughtworks, in der mehr Frauen führen als Männer. Was läuft dort anders?





• Die deutsche Digitalwirtschaft hat ein Problem: Einer Frau stehen im Schnitt fünf Männer gegenüber. Und je weiter es auf der Karriereleiter nach oben geht, desto weniger Frauen findet man. Rund 50 Prozent der IT-Unternehmen haben keine einzige in der Führungsetage, ergab eine im März veröffentlichte Umfrage des Branchenverbands Bitkom. Dessen Vizepräsidentin Sabine Bendiek bezeichnete die Zahlen als „Weckruf“, man sei „auf Frauen angewiesen“. Denn die Branche braucht Fachkräfte: Knapp 100 000 offene Stellen gab es im Jahr 2021. Für Digitalunternehmen ist die Gleichstellung damit nicht nur ein idealistisches Ziel, sondern von handfestem ökonomischem Interesse. Warum ist die Branche dann nach wie vor fest in Männerhand? Und: Wie könnte es anders gehen?

Die Suche nach der Antwort führt in einen modernen Glasbau in der Hamburger Innenstadt. Im 6. und 7. Stock sitzt die IT-Beratung Thoughtworks. Obwohl die Firma 1993 in Chicago gegründet wurde und heute in 17 Ländern für Firmen wie die Mercedes-Benz Group oder Paypal tätig ist, versprüht das Büro Start-up-Flair: offene Flächen, auf denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor ihren Laptops sitzen, es wird Englisch gesprochen, auf der Dachterrasse stehen ein Grill und ein Strandkorb, abends soll es eine Rooftop-Party geben.

Wirklich ungewöhnlich aber wird es, wenn man einen Blick in die Beschäftigten-Statistiken des internationalen Unternehmens wirft: 41 Prozent – so hoch ist der durchschnittliche Anteil von Frauen und „unterrepräsentierten geschlechtsspezifischen Minderheiten“, dazu gehören etwa Transpersonen. Bei den Führungskräften sind es sogar 60 Prozent. In der Branche ist das eine absolute Ausnahme, Thoughtworks wurde dafür mehrfach prämiert. Bis dahin war es ein langer Weg. Die Zahlen sind das Ergebnis konsequenten Handelns über ein Jahrzehnt hinweg.

I. Das Problem erkennen – und zur Chefinnensache machen

Dass sich etwas ändern musste, wurde bei einem Treffen des globalen Führungskreises im Jahr 2011 deutlich. Damals wollte man in dem Team, das die weltweiten Geschicke der Beratung steuert, Kandidatinnen und Kandidaten für ein Leadership-Programm auswählen. Doch auf der Liste standen mehr männliche Rechtsanwälte als Frauen insgesamt. „Das war der Moment, wo klar wurde: Hier stimmt etwas nicht“, sagt Katrin Rhode. „Es kann doch nicht sein, dass eine IT-Firma mehr Rechtsanwälte hat als Frauen.“ Die 56-Jährige war damals noch nicht im Unternehmen, sie kam 2017 zu Thoughtworks. Zuvor war die promovierte Mathematikerin es gewohnt gewesen, als Frau in der Minderheit zu sein – sei es im Studium oder bei ihren IT-Jobs. Heute ist Rhode als Leiterin des operativen Geschäfts Teil des 18-köpfigen deutschen Führungszirkels, mehr als die Hälfte sind Frauen oder gehören einer geschlechtlichen Minderheit an.

Wie ist der Beratung diese Wende gelungen? Nach dem Listen-Debakel wurde die Frauenförderung zum Führungsthema erklärt: „Viele Firmen haben Gleichstellungsinitiativen oder -beauftragte. Aber Diversity muss auch von der Führung vorangetrieben werden“, sagt Rhode. Bei Thoughtworks führte man damals feste Quoten ein – etwas, das die Mehrheit der IT-Firmen laut einer aktuellen Bitkom-Umfrage bis heute nicht getan hat. Rhode kann das nicht verstehen: „Wir sind uns doch einig, dass man Kennzahlen definiert und misst, um ein Business erfolgreich zu machen“, sagt sie mit Nachdruck. „Keine Firma der Welt würde ohne Umsatzziele arbeiten. Ich wüsste nicht, warum das bei Diversity anders sein sollte.“ Eines der aktuellen weltweiten Ziele der Firma lautet: 40 Prozent Frauen und geschlechtliche Minderheiten in Tech-Jobs bis Ende 2022. Die Marke hat Thoughtworks in Deutschland bereits geknackt – dort liegt der Anteil bei 44 Prozent. Und das, obwohl Entwicklerinnen viel schwieriger zu finden sind als Frauen in den meisten anderen Berufen.

Und was, wenn eine Quote mal nicht erreicht wird? „Wenn’s ganz krass ist, heißt es: Wir können jetzt erst einmal keine Männer mehr einstellen“, sagt Katrin Rhode. „Aber das passiert nur sehr selten.“

II. Mitarbeiterinnen finden, …

Programmieren war einst eine Tätigkeit, die vor allem Frauen übernahmen. Die Geschichte der Softwareentwicklung ist voller Pionierinnen, die Großes geleistet haben *: So war etwa die Arbeit der Informatikerin Margaret Hamilton entscheidend dafür, die Apollo 11 im Jahr 1969 sicher auf den Mond zu bringen. Rund 50 Jahre später gilt Programmieren als Männerjob, die wichtigen Leute in der Branche heißen Mark Zuckerberg, Jeff Bezos oder Tim Cook. Diese Entwicklung spiegelt sich auch an den deutschen Universitäten wider: Im Wintersemester 2021/22 studierten 55 000 Frauen Informatik – und 200 000 Männer. Um dennoch IT-Spezialistinnen ins Unternehmen zu holen, setzt man bei Thoughtworks auf Folgendes:

— Bei der Einstellung von Hochschul-Absolventen gilt eine Frauenquote von 60 bis 70 Prozent.

— Es gibt ein Programm, in dem Quereinsteiger unter anderem lernen, Software zu entwickeln. 2021 lag der Anteil von Frauen und geschlechtlichen Minderheiten bei 55 Prozent.

— Bei jedem Vorstellungsgespräch sind auch Frauen dabei. So zeige man „authentisch die Zusammensetzung unserer Teams“, sagt Rhode.

— Die Firma nutzt ihre Vielfalt auch, um potenzielle Interessentinnen auf sich aufmerksam zu machen, etwa auf Messen.


Machte als Quereinsteigerin bei Thoughtworks Karriere: Lisa Junger

III. … an sich binden …

„Vielen Unternehmen scheint noch nicht bewusst zu sein, dass man weibliche Fachkräfte nicht nur gewinnen, sondern auch halten muss“, schrieb Christine Regitz Ende Juni in einem Gastbeitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Die SAP-Aufsichtsrätin und Präsidentin der Gesellschaft für Informatik macht darin darauf aufmerksam, dass viele Spezialistinnen die Branche wieder verlassen: Das gilt laut einer Studie für mehr als 90 Prozent der Frauen mit Informatikabschluss im Alter von 45 Jahren. Regitz führt das auf Vorurteile zurück – „subtile, unbeabsichtigte Mechanismen, die Frauen in der Informatik entgegenstehen“.

Anzweifeln der technischen Kompetenzen. Nicht gehört werden in Gruppen. Sprüche wie „Jetzt sei doch nicht so emotional“. Offener Sexismus sei heute selten geworden, doch Diskriminierung gebe es nach wie vor, sagt Katrin Rhode. „Das passiert oft ohne böse Absicht. Aber wenn man damit regelmäßig konfrontiert wird, kostet das Energie. Ich verstehe, dass viele Frauen irgendwann sagen: Der Preis ist mir zu hoch.“

Bei Thoughtworks wollen sie es anders machen. Beschäftigte werden bereits bei der Einarbeitung über Vorurteile und ihre Folgen aufgeklärt, zudem gibt es Trainings zum Umgang mit dis- kriminierendem Verhalten. Rhode schildet ein häufiges Beispiel: Eine Frau hat eine gute Idee, findet aber kein Gehör. „Wenn ein Mann das erkennt, könnte er sagen: Das war doch ein interessanter Gedanke, lasst uns das noch mal aufgreifen.“

Und wie reagiert die Kundschaft auf diese besondere Beratungsfirma? „Wir gehen nicht mit erhobenem Gender-Zeige- finger zu unseren Kunden“, sagt Rhode und lacht. „Aber wir versuchen, ihnen ein alternatives Modell zu zeigen.“ Diversität ist in gewisser Weise auch Teil der Dienstleistung: Viele Unternehmen sind interessiert zu erfahren, wie man in inklusiven Teams zusammenarbeitet.

Heutzutage schmücken sich einige Firmen aus Marketing-Gründen mit dem Label „Diversity“. Bei Thoughtworks scheint man es ernst zu meinen: 4,9 von 5 Sternen vergibt die Belegschaft auf der Plattform Glassdoor für Vielfalt und Inklusion, das Engagement wird in vielen Kommentaren lobend erwähnt. In einem heißt es: „Als Frau im IT-Bereich zu arbeiten kann manchmal wirklich schwierig sein, und hier fühle ich mich gehört.“ Auch die Kündigungsquote von Frauen und geschlechtlichen Minderheiten ist bei Thoughtworks in Deutschland nach eigenen Angaben mit 8,4 Prozent niedriger als bei Männern. Alle Beschäftigten bekämen mehrfach pro Monat Anfragen von Headhuntern, sagt Rhode. „Sie könnten sich“, sagt sie und schnipst mit den Fingern, „sofort einen neuen Job aussuchen. Eine wichtige Voraussetzung, um Frauen zu halten, ist unsere Kultur.“

IV. … und zu Führungskräften aufbauen

Der Frauenmangel in der Branche zeigt sich wie in einem Trichter: je höher die Position, desto mehr Männer. Gerade mal neun Prozent der Führungskräfte im Geschäftszweig Software und Programmierung sind weiblich, heißt es in einer 2020 veröffentlichten Studie des Verbands der Internetwirtschaft Eco. Wie in anderen Branchen hängt das viel mit alten Rollenbildern zusammen – unsichtbare Barrieren, die Frauen am Aufstieg hindern.

Lisa Junger hat erlebt, was das bedeuten kann. Die 41-Jährige, die auffällige pink-blaue Sneaker trägt, erinnert sich noch gut an das Gespräch mit einer früheren Vorgesetzten: „Sie meinte, ich solle mir genau überlegen, wie ich meine Karriere plane. Sobald ich ein Kind hätte, werde das schwierig.“ 2014 fing sie bei Thoughtworks an und bekam im folgenden Jahr ein Kind. Danach ging ihre Karriere erst richtig los: Nach dem Mutterschutz stieg Junger mit 25 Stunden wieder als Entwicklerin ein, die Kinderbetreuung teilte sie sich mit ihrem Partner. „Es ist gar nicht so einfach im Consulting, Kunden zu erklären, dass man nicht Vollzeit zur Verfügung steht“, sagt sie. Aber ihr Team hätte sie stets unterstützt. Eine Kollegin hätte etwa jeden Tag protokolliert, was in ihrer Abwesenheit passiert ist und was am nächsten Morgen ansteht. In den folgenden Jahren arbeitete sie wieder mehr und stieg Schritt für Schritt im Unternehmen auf. Seit 2022 führt sie die Beschäftigten der Informationssicherheit an den weltweiten Standorten.

So wie bei Lisa Junger sollen möglichst viele Karrierepfade verlaufen. Da es schwierig ist, weibliche IT-Führungskräfte anzuwerben, setzt man bei Thoughtworks darauf, Frauen früh ins Unternehmen zu holen und dort voranzubringen. Etwa mit Programmen, in denen Frauen sich austauschen und bestärken können. Denn, sagt Katrin Rhode: „Nicht nur Männer haben unbewusste Vorurteile. Frauen sind mit denselben Rollenbildern aufgewachsen und sehen sich oft nicht unbedingt als Führungskräfte.“

Für alle in der Firma sei zudem ein Rhythmus wichtig, der es ermöglicht, Beratung und Familie miteinander zu vereinbaren. „Wir haben ein flexibles Modell, man kann sich zum Beispiel nachmittags um die Kinder kümmern und abends noch ein bisschen coden“, sagt Rhode. Oder als Führungskraft in Teilzeit arbeiten. Ein Problem fiel durch die Pandemie weg: Zwar hätten sie junge Eltern auf lokale Projekte verteilt, aber insgesamt sei die hohe Reisetätigkeit – oft von Montagmorgen bis Donnerstagnachmittag – ein häufiger Kündigungsgrund gewesen, sagt Rhode. Seit zwei Jahren reisen die Beschäftigten viel digital. Und das wird wohl so bleiben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir zum alten Consultant-Leben zurückkehren.“

––––

Und wie finden die Männer all das? Ein Zoom-Anruf bei Peter Buhrmann, seit 2013 bei der Beratung und mittlerweile Europa-Chef. Als solcher ist der 56-Jährige oft unterwegs, gerade ist er im Berliner Büro und sitzt mit weißen Kopfhörern vor einem mit gelben Post-its beklebten Whiteboard.

Als er vor neun Jahren als Geschäftsführer zu Thoughtworks Deutschland kam, hieß es: Für jeden Software-Ingenieur wird eine Frau eingestellt. Das habe auch für Diskussionen gesorgt. „Es gab einen Interessenkonflikt zwischen dieser Bedingung und dem Ziel, möglichst viele Leute an Bord zu holen“, sagt Peter Buhrmann. Man zog es trotzdem durch, mit Erfolg. Innerhalb eines Jahres sei der Frauenanteil bei den Consultants auf fast 30 Prozent gestiegen.

Umfragen zeigen, dass Männer eine Quote häufiger ablehnen als Frauen – etwa weil sie ihre eigenen Chancen dadurch bedroht sehen. War das bei Thoughtworks ein Problem? „Es mag sein, dass mal jemand gedacht hat: Ist das fair? Aber es gab darüber nie Auseinandersetzungen“, sagt Buhrmann. Allerdings führt mehr Vielfalt auch zu mehr Reibung. „Unterschiedliche Ansichten bergen Konfliktpotenzial. Wir mussten erst mal lernen, wie wir Reibungsverluste vermeiden und das für uns nutzen können.“ Heute sieht Buhrmann in den vielfältigen Teams einen großen Vorteil für die Beratung. Um originelle Konzepte und Produkte auszutüfteln, sind viele Blickwinkel hilfreich.

Zudem hätten er und viele männliche Kollegen durch Kampagnen zu Themen wie Mansplaining – besserwisserische Kommentare gegenüber Frauen – oder gendersensibler Sprache dazugelernt und täten es bis heute. Früher habe er etwa die Formulierung „Milchmädchenrechnung“ benutzt. Heute wisse er, dass dabei das Klischee mitschwingt, Frauen könnten nicht rechnen. „Im Einzelnen mag sich das vielleicht banal anhören“, sagt Peter Buhrmann. „Aber es ist die Summe solcher Verhaltensänderungen, die etwas bewegt.“ ---

Hauptsitz: Chicago
Aktiv in: 17 Ländern
Standorte in Deutschland: 5
Beschäftigte: mehr als 12 000
… davon in Deutschland: mehr als 500
Eigentümer: Apax Partners, britische Private-Equity-Firma mit Sitz in London (u. a. beteiligt an Takko Fashion)
Gelistet am: Nasdaq (seit 2021)
Umsatz im Jahr 2021: 1,07 Milliarden Dollar

* siehe brand eins 12/2018 „Wir haben nicht einmal begonnen zu verstehen, wie viel wir mit diesen Computern zu tun haben werden“