Am Ballermann für Tanktouristen
Die Grenzen sind offen, die Übergänge fließend. Entlang des Flüsschens Sauer, der Grenze zwischen Deutschland und Luxemburg, weiß der Autofahrer trotzdem immer, auf welcher Landesseite er sich befindet. Auf der deutschen gibt’s keine Tankstellen, auf der luxemburgischen dafür umso mehr. Deutlicher als die Schilder mit dem Landesnamen im EU-Sternenkranz bestätigt im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet die Anwesenheit von Benzin-Preistafeln den Grenzübertritt.
Die Sauer fließt aus der Eifel nach Süden und mündet in Wasserbillig, einem Stadtteil von Mertert, in die Mosel. Auf der Bundesstraße 419, die den Fluss am deutschen Ufer begleitet, ist über eine lange Zeit keine einzige Tankstelle zu sehen. Endlich signalisiert ein Hinweisschild ein Ende der Durststrecke: ein deutsches Verkehrsschild, Tanksäulensymbol, mit Abbiegepfeil. Am anderen Ufer gibt’s Benzin, direkt hinter der Brücke. Willkommen in Wasserbillig, Luxemburg. Auch wenn der Name des gegenüberliegenden deutschen Oberbillig noch verheißungsvollere Preisofferten suggeriert – nach Wasserbillig strömen die Autofahrer aus Trier und Umgebung in Massen. Es ist das Mallorca der Tanktouristen, der Ballermann für Benzinschluckende.
Hier ist eine Tankstellenmeile entstanden, eine der größten Europas. Am Rande einer Straße mit breitem Mittelstreifen fürs bequeme Wenden haben sich zehn Tankstellen nebeneinander angesiedelt. Die Branchengrößen Aral, Esso, Total, Texaco sind ebenso vertreten wie Kuwait Petroleum International (Q8) sowie Anbieter, die Luxoil oder Wolter’s Discount Tankstelle heißen, aber keineswegs wie Kleinkrämer auftreten – allein Luxoil lockt mit 18 Säulen. Wie der Shell-Pächter betreibt auch Wolter’s hier gleich zwei Stationen. Und wirbt vollmundig: „Der weiteste Weg lohnt sich!“
Die Meile ist das liebste Reiseziel in der Region Trier. Sie liegt nahe, einfach auf der anderen Seite der Mosel. Für die vielen Deutschen, deren Autokennzeichen das Straßenbild prägen, sind die luxemburgischen Benzinpreise Anlass, sich in Bewegung zu setzen. Normal, Super, Diesel – rund 20 Cent ist der Liter Kraftstoff in Luxemburg billiger. Dieser Preisunterschied, Resultat einer niedrigeren Mineralölsteuer, verändert im Grenzgebiet allerhand: das Straßenbild, die Verkehrsströme, das Steueraufkommen, den Arbeitsmarkt. Selbst ihre Lebensgewohnheiten haben die Deutschen dem Benzinpreisgefälle angepasst. In der Mittagspause schnell rüber zum Tanken fahren, den Sonntagsausflug über Luxemburg planen – „das machen hier alle so“, sagt eine junge Erzieherin aus Trier, die gerade ihren Golf betankt.
„Alles andere wäre doch blöd.“ Sie habe nur eine Bekannte, die lieber zu Hause tanke – der mehrfachen Mutter geht es um die Zeitersparnis. Damit sich die Reise noch mehr lohnt, füllen viele der deutschen Schnäppchenjäger nicht nur den Tank, sondern auch eifrig Kanister voll. Hinter der Grenze warten zwar Zöllner und machen Stichproben, ob jemand mehr als die erlaubten 20 Liter im Kofferraum hat. Trierer Kennzeichen werden aber kaum kontrolliert, wird kolportiert. Der Zoll konzentriere sich auf Besucher von weiter her – zu Recht, findet eine Trierer Tanktouristin. „Was wollen die aus Wittlich hier?“ Die Stadt ist 50 Kilometer entfernt. „Dass die hierher zum Tanken kommen, verstehe ich nicht.“
Nicht nur das Benzin lockt
Mal nachrechnen. Bei einer Tankfüllung von 50 Litern ergeben 20 Cent Preisvorteil unterm Strich zehn Euro, rund acht Liter Benzin. Wenn die für An- und Abreise draufgehen, lohnt sich die Fahrt – sofern kühle Rechner hinter dem Steuer sitzen – wirklich nicht. Wer mehr als 50 Kilometer Anreise in Kauf nimmt, benötigt also große Kanister – oder einen weiteren Reisegrund. Den liefert die pfiffige Regierung Luxemburgs. Kaffee und Sekt sind von der Steuer befreit, Tabak wird günstiger besteuert als in Deutschland. Das Großherzogtum nutzt bei diesen Verbrauchssteuern seine „Souveränitätsnische“, wie in der EU-Steuerdebatte das Recht auf Niedrigsteuern genannt wird, über die sich die Regierungen der Nachbarn schwarzärgern. Die Folge: Luxemburg erzielt mit dem Verkauf von Benzin, Tabak und Alkohol an Tankstellen fast 20 Prozent seines gesamten Steueraufkommens, protokolliert „Groupement pétrolier“, der Verband luxemburgischer Mineralölfirmen. Das ist mehr, als der Finanzplatz Luxemburg an Steuern abwirft.
Der Pro-Kopf-Verbrauch von Kraftstoff ist in Luxemburg fast viermal höher als im EU-Durchschnitt. Um so einen Umschlag zu erzielen, hat Aral mittlerweile sogar die Druckbetankung wie in der Formel 1 eingeführt. An der konzernweit umsatz- und absatzstärksten Tankstelle – natürlich an einer Autobahn in Luxemburg – wird das Benzin nicht aus Säulen angesaugt, sondern aus dem Großtank herausgepresst. Geht schneller. Eine Million Autos jährlich werden so an den 20 Säulen abgefüllt.
Das Tankstellensterben auf der anderen Seite
Der Tanktourismus hinterlässt auf der deutschen Seite Spuren, die mit jedem Kilometer Richtung Grenze deutlicher werden. Die wohlfeilen luxemburgischen Preise sind die Artillerie, der auf der anderen Seite Tankstellen zum Opfer fallen. Das hiesige Netz wird ausgedünnt, spätestens seit die Ökosteuer den Preisabstand verschärft hat. „Wenn ich mit dem Roller übers Land fahre, ist Tanken mittlerweile echt zum Problem geworden“, sagt die 22-jährige Erzieherin.
Das Einzugsgebiet dieses Kraftstoffmekkas reicht weit ins deutsche Hinterland hinein. Moselabwärts lasse „die Störung aus Luxemburg“ erst in Richtung Koblenz wieder nach, sagt Burkhard Reuss, der die Unternehmenskommunikation der Total Deutschland GmbH leitet. Mit steigendem Abstand normalisiere sich das Preisniveau, das im Grenzgebiet – wie auch an der Grenze zu Polen, Tschechien und Österreich – über dem deutschen Durchschnitt liege. Wegen des geringen Umsatzes in Sichtweite der Billigstationen könnten sich die verbliebenen Tankstellen keine niedrigen Preise leisten, sagt Reuss. Damit meint er: Weil die Tankstellenpächter in der Region ohnehin nicht mit den ausländischen Wettbewerbern konkurrieren können, setzen sie auf hohe Preise und wenig preissensible Kunden vor Ort – und hoffen, einen Teil des Verlustes, der ihnen aus den mobilen Grenzgängern erwächst, auf diese Art wieder wettzumachen.
Wasserbilliger Preise kann in Deutschland nur eine einzige Tankstelle bieten – die der Gemeinde Büsingen, einer deutschen Exklave am Hochrhein, inmitten von Schweizer Kantonen gelegen. Da der Preisvorteil von rund 20 Cent aber auch hier nur durch Steuervorteile zustande kommt – der Flecken gehört zum Schweizer Zollgebiet (und lässt seine Fußballmannschaft als einzige deutsche in einer Schweizer Liga spielen) –, kann die kleine Tankstelle zwar als billigste Deutschlands gelten, nicht aber als wettbewerbsfähige Antwort auf den grenznahen Tankstellenwettstreit.
Die Probleme der Tankstellen in deutschen Grenzorten verschärfen sich mit jeder Steuererhöhung: Während der gesamtdeutsche Kraftstoffabsatz von 1999 bis 2004 – die Jahre der Ökosteuer-Stufen – um fünf Prozent sank, ging der Umsatz im grenznahen Gebiet bis zehn Kilometer Entfernung um 37 Prozent zurück. Im Bereich von elf bis 50 Kilometern reduzierte er sich immer noch um bis zu 26 Prozent, das ergab eine Studie der Forschungsstelle für fiskalische Effekte internationaler Steuerdifferenzen (FofES) am Institut für Finanzen der Universität Leipzig. Durch die Steuerarbitrage gehen dem Fiskus jährlich rund 2,3 Milliarden Euro Mineralölsteuer plus etwa 425 Millionen Euro Mehrwertsteuer verloren. „Weitere, nicht quantifizierte Verluste ergeben sich aus Insolvenzen, Arbeitsplatzverlusten, Abnutzung und Beschädigung der Infrastruktur und Auswirkungen auf die Umwelt“, sagt Professor Thomas Lenk von der Uni Leipzig.
Auch die Tankmeile von Wasserbillig hat deutsche Arbeitsplätze gekostet. Aber sie hat auch welche geschaffen. Kassierer, Verkäuferinnen und einige Pächter sind – genau wie die Kundschaft – Deutsche aus der Umgebung. „Wir sind halt Grenzgänger“, sagt eine Kassiererin und schaut etwas verschämt. Als ob im Ausland nicht das archaische Hantieren mit Kanistern peinlich sei, das einen als Pfennigfuchser und Steuerknicker outet, sondern das Pendeln zu einem Arbeitsplatz. „Hier arbeiten fast nur Deutsche“, bestätigt ein 17-jähriger Schüler aus Trier, der einen interessanten Nebenjob hat. „Ich bin ein Stau-Engel“, behauptet er. In Leuchtweste steht er am Straßenrand und winkt die Autofahrer zur nächsten freien Säule, damit sie schnell Platz machen für den nächsten Kunden. Die Steuerflucht der Borderline-Deutschen mündet in einen so starken Verkehrsfluss, dass die Zufahrt zur Tankstelle reguliert werden muss – sonst gibt’s Rückstau.
Eile ist geboten. Der 17-Jährige in der Leuchtweste reicht Zettel mit den Sonderangeboten der Woche ins Auto: Kaffeepads – Megapackung! Neulinge erhalten auch Verhaltenshinweise, damit sie sich rasch den hiesigen Gepflogenheiten anpassen: „Bitte nach dem Tanken zu den Parkplätzen vorfahren. Ihr nachfolgender Tankkollege bedankt sich bei Ihnen.“
Und der Kollege strebt nicht nach Benzin allein. Zigaretten, Getränke, Süßigkeiten – überall springen knallbunte Preise ins Auge. Die Werbung für das Anschlussgeschäft ist wohlkalkuliert, die Zielgruppe reagiert auf simple Preissignale. Die Atmosphäre ist hektisch, der Stoffwechsel hoch: schnell, viel, billig. Viele geben sich das volle Programm: Nach dem Tanken rasch auf den Parkplatz, dann in den angeschlossenen Supermarkt, Lebensmittel in den Einkaufswagen schaufeln und an der Kasse „auf unsere Bingo-Lampe“ achten. „Leuchtet sie auf, haben Sie 50 Euro gewonnen – einfach so.“ Wer in diesem als Tankstelle getarnten Supermarkt an der Kasse Zigaretten bestellt, bekommt gleich eine ganze Stange.
Der süße Unterschied
Trotz der Warenvielfalt bieten hier alle mehr oder weniger das Gleiche. Auch die Benzinpreise variieren nur um maximal zwei Zehntel eines Cents. Die Unterschiede liegen im Detail, sie zu kommunizieren gehört zum Job des Platzanweisers. Der Junge mit der Leuchtweste verteilt seine Zettel mit Sonderangeboten. Einer will mehr. Er hat die Scheibe heruntergekurbelt und hält die Hand auf. Der 17-Jährige reicht ein Werbe-Tütchen mit Gummibären ins Auto. Anderswo gibt’s Atemfrische – das ist die Differenzierung. Zwar scheint diese Art der Kundenbindung zu funktionieren. „Wir haben viele Stammkunden“, sagt der Stau-Engel, doch Einheimische sind kaum darunter. „Die Luxemburger aus Wasserbillig tanken lieber in der Stadt“, sagt der Platzanweiser. Das ist etwa einen Kilometer die Straße runter. Der Weg ins Tankstellenparadies ist ihnen schon zu weit.
Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.