Kommunikation in Zahlen 2022

Es ist gut. Es wird besser.

Der Weg in die Digitalisierung ist nicht leicht, aber vieles funktioniert bereits erstaunlich gut. Vier Experten berichten, woran sie gerade arbeiten, was sie begeistert und wohin sich die Kommunikation entwickeln wird.





Portraits pantone neu2-02

Kontinuität scheint ein Vorteil zu sein.

Patrick Krauß
ist Physiker und Neurowissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er beschäftigt sich mit künstlicher Intelligenz (KI) als Werkzeug zur Analyse von hochdimensionalen Daten aus neurowissenschaftlichen Experimenten und der Übertragung von Informationsverarbeitungsprinzipien aus der Neurobiologie auf KI-Systeme.

„Dass wir miteinander sprechen können, ist eine enorme Gehirnleistung, was sofort klar wird, wenn man die dafür nötigen Ebenen durchdekliniert. Schon die Motorik fürs Sprechen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Wir müssen in enormer Geschwindigkeit sehr exakt unsere Atmung mit den Bewegungen von Zunge, Kiefer, Lippen und Kehlkopf abstimmen. Auf der Empfängerseite ist es nicht einfacher: Der kontinuierliche Strom von Lauten, von einfachen Frequenzen, muss in Echtzeit sinnvoll segmentiert und mit unserem gespeicherten Wissen abgeglichen werden. Während Sie ein konkretes Wort produzieren, muss Ihr Gehirn planen, was die nächsten Wörter sind, außerdem braucht es ein Modell der momentanen Unterhaltung, den Kontext. Das ist das, woran viele Chatbots und KI-Sprachsysteme noch scheitern: Ihnen fehlt diese lange Reichweite.
Wenn in einem Roman vor 40, 50 Seiten etwas eingeführt wurde, auf das plötzlich Bezug genommen wird, versagen KI-Systeme komplett. Das können sie nicht zuordnen, weil sie nur Sequenzen von Wörtern abarbeiten, aber kein inneres Modell von dem Gesagten haben, keinen Kontext. Deshalb ist Sprache für das menschliche Gehirn so komplex. Da spielen quasi alle kognitiven Systeme mit hinein: die verschiedenen Arten des Gedächtnisses – motorisches, implizites, explizites, Langzeit-, Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis –, aber auch Aufmerksamkeit und Planung. Für Sprache brauchen Sie alles, was Sie in Ihrem Gehirn haben. Das ist der Grund, weshalb die eigentliche Spracherkennung, die Dekodierung der Laute, bei KI schon sehr gut ist, die Systeme aber trotzdem schnell nicht mehr funktionieren, wenn zu viel Weltwissen erforderlich ist.

Die künstlichen Intelligenzen, die wir hier untersuchen, sind tiefe neuronale Netze. Sie bestehen aus Schichten – je mehr sie besitzen, desto tiefer ist die Verarbeitung. Deswegen heißt es Deep Learning, tiefes Lernen. Diese Netze werden mit bestimmten Daten trainiert. Sie können zum Beispiel bei der Bilderkennung bestimmte Dinge auf Fotos zuordnen, nachdem sie viele Beispiele gesehen haben. Wir arbeiten hier allerdings mit Sprachverarbeitung, wo die Standardaufgabe Text-Vorhersage ist: Sie geben eine Reihe von Worten ein, einen Text, und die KI soll vorhersagen, welches Wort als nächstes kommt.

Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, weil die Lösung in den allerwenigsten Fällen eindeutig ist. Man kann dann raten und wird ein Wort nehmen, das zumindest grammatikalisch Sinn macht. Zum Beispiel werden Sie bei dem Satz ‚Der Hund läuft aus dem ...‘, nicht, blau‘ sagen oder ‚drei‘, sondern eher ‚Haus‘ oder ‚Garten‘. Wir haben einem neuronalen Netz in unseren Experimenten immer zehn Worte gegeben, die KI sollte das elfte nennen. Das Ergebnis war relativ schlecht, lag aber immerhin deutlich über Zufallsniveau. Also haben wir geschaut, wie das Netz das macht.

Wir können mit einer speziellen Visualisierung jede Aktivierung jedes künstlichen Neurons im neuronalen Netz auf einer zweidimensionalen Oberfläche sehen. Das ist, als würden wir in einem Gehirn jedes Neuron einzeln erkennen – der Traum aller Hirnforscher. Diese Visualisierungen haben wir mit diversen Kategorien strukturiert und als Basis unter anderem die Wortart des vorherzusagenden Wortes, also des elften Wortes, definiert – und plötzlich gab es schöne, voneinander getrennte Cluster. Das neuronale Netz hatte, ohne dass wir ihm die Information gegeben haben, verstanden, dass es Wortarten und eine Grammatik gibt. Und dann hat es getan, was Sie auch getan hätten: erst die Wortklasse erkannt und dann das Wort geraten.

Was bedeutet das für unser Gehirn? Versucht es bei Texten, wie die KI auch, vorherzusagen, welches Wort als nächstes kommt? Wir haben das mit Probanden getestet, deren Gehirnaktivität wir gemessen haben, während sie ein Hörbuch hörten. Wir werten die Versuche gerade aus, aber die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass das menschliche Gehirn tatsächlich ähnlich arbeitet.

Das ist – nebenbei – ein schönes Beispiel dafür, wie sich KI-Systeme nutzen lassen, um Hypothesen über das Gehirn zu generieren, die sich in Experimenten überprüfen lassen, deren Ergebnisse wir dann wieder für die Entwicklung von KI nutzen können – im Idealfall ist das ein Pingpong von KI und Hirnforschung.

Was können wir aus dem Experiment schließen? Nun, es scheint, dass es uns leichter fällt, einer Geschichte oder einem Text zu folgen, wenn er eine gewisse Länge hat. In den ersten Minuten ist es am anstrengendsten, weil wir zunächst ein internes Modell der jeweiligen Welt oder des Szenarios aufbauen müssen. Aber ab einem gewissen Punkt ist dieses Modell mehr oder weniger vollständig, und dann wird es leichter. Kontinuität scheint also ein Vorteil zu sein.

Das gilt auch im Büro: Wenn Sie ständig auf verschiedenen Kanälen Kurznachrichten, E-Mails, Anrufe und so weiter bekommen, die Sie aus Ihrem Gedankenfluss reißen, müssen Sie jedes Mal ein neues Arbeitsmodell in Ihrem Arbeitsgedächtnis aufbauen. Das ist extrem anstrengend und funktioniert nicht so gut, als wenn Sie längere Zeit an einer Sache dranbleiben.

Und das könnte auch ein Grund dafür sein, warum wir gern Serien anschauen. Wenn die Charaktere erst einmal eingeführt und wir mit dem Setting vertraut sind, fängt es an, Spaß zu machen – vielleicht kann unser Gehirn dabei besser entspannen. Ich kenne viele Kollegen, die nur noch Serien schauen. Filme sind ihnen zu anstrengend, weil sie sich immer wieder auf etwas Neues einlassen müssen – und wenn es am schönsten ist, ist der Film zu Ende.“

Portraits pantone neu2-04

Kommunikation entsteht aus Kommunikation.

Susanne Boll
ist Professorin für Medieninformatik und Multimedia-Systeme an der Universität Oldenburg. Als Vorständin im OFFIS – Institut für Informatik leitet sie diverse nationale und internationale Forschungsprojekte in den Bereichen Gesellschaft, Gesundheit und Produktion. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienanalyse, mobile Systeme und die Mensch-Technik-Interaktion.

„Die Digitalisierung muss für den Menschen da sein. Sie muss mir helfen, mich verstehen und mir Freiheiten lassen. Sie darf mich nicht einschränken. Wir müssen heute an vielen Stellen mit Computern oder digitalen Geräten umgehen, um an der Gesellschaft überhaupt teilhaben zu können: beim digitalen Bürgerservice, für ein digitales Rezept, für Online-Termin-Buchungen, im Smart Home. Aber das müssen wir erst lernen. Auch bei Autos ist das ein Thema: Untersuchungen zeigen, dass gerade ältere Herrschaften mit mehr Geld High-End-Modelle kaufen, von denen sie aber nur einen Bruchteil der Technologie nutzen – weil sie sie nicht entdecken! Die große Herausforderung ist deshalb für mich zurzeit, alle Menschen in die digitale Welt mitzunehmen. 

Eine Möglichkeit ist das implizite Erfassen: Ein System, das den Blick des Nutzenden oder seine Bewegungen wahrnehmen kann, kann auch feststellen, ob eine Person überfordert ist oder etwas übersehen hat – da gibt es sehr viele Mechanismen. Allein wie ich etwas eingebe, wie ich tippe, zeigt, ob ich mir sicher bin. Darauf kann der Computer reagieren. Und das wird er auch immer häufiger tun. Die Frage ist nur: Wie erklärt sich der Computer? Und wie erkläre ich dem Computer etwas?

Wir haben ein Forschungsprojekt in der Produktion,bei dem geht es um Anomalie-Erkennung: Ein Produkt wird zusammengepackt, und eine künstliche Intelligenz (KI) soll über eine Kamera kontrollieren, ob einzelne Teile nicht perfekt sind, also nicht verschickt werden sollten. Wir untersuchen, wie ein Dialog aussehen kann, wenn die KI etwas bemängelt, der Mitarbeiter das aber anders sieht. Dafür braucht es zunächst einmal ein Verständnis davon, was überhaupt benötigt wird. Deshalb beobachten wir und fragen die Menschen, was sie brauchen. Wir arbeiten partizipativ, nutzerzentriert: Wir nehmen die Nutzerinnen und Nutzer auf allen Stufen der Entwicklung mit und erproben mit ihnen Systeme.

Ein Unternehmen, das KI-gestützte Schlaganfall-Diagnose anbietet, hat die Kooperation von KI und Mensch gut gelöst: Vom Patienten wird eine CT gemacht, eine Computertomografie, die eine KI überprüft und mit einer Einschätzung in einer Cloud speichert, in der sich dann mehrere Fachärztinnen und Fachärzte gleichzeitig die Bilder anschauen, um zu einer Diagnose zu gelangen. Das soll laut Unternehmen eine Stunde Zeit sparen, was bei einem Schlaganfall viel ist. Es funktioniert gut: Die KI schlägt etwas vor, der Experte oder die Expertin sieht es noch mal an, und im Wechselspiel sind beide erfolgreich.

Wir entwickeln auch Technologie in der Pflege. Wir haben zum Beispiel ein Projekt zur Reduktion von Alarmtönen auf Intensivstationen gemacht. So ein Alarm ist sehr laut, und er stellt für die Pflegekräfte eine Dauerbelastung dar. Es gibt etwa 350 Alarme pro erkrankter Person pro Tag – das ist irre. Also haben wir den Prototyp einer Brille entwickelt, der einen Großteil dieser Warnungen visuell anzeigt: Seitlich an der Brille signalisieren unterschiedliche Farben Alarme, und nur bei Rot wird ein zusätzliches akustisches Signal ausgelöst. Das reduziert den Akustik-Alarm um 80 Prozent. Wir haben das mit Pflegekräften entlang einer Kernfrage entwickelt: Wie kann es gelingen, die Sicherheit der zu versorgenden Person zu gewährleisten und den Alarm so zu verringern, dass sich die Pflegekraft wirklich entlastet fühlt, also nicht unentwegt Panik hat, einen Alarm zu verpassen? 

Wir sind in einer Dekade, in der die Position des Menschen in der Technologie-Gestaltung viel stärker wird. In der Vergangenheit haben Ingenieurinnen oder Informatiker Technologien entwickelt, und wir haben sie eben genutzt. Jetzt wird klar, dass der Mensch im Zentrum der digitalen Gesellschaft stehen muss. Das gilt für die Dienste einer öffentlichen Verwaltung genauso wie für die Arbeitswelt. 

Wenn Sie in der Produktion ein neues Konzept suchen, helfen Diskussionsgruppen, in denen Mitarbeiter, Schichtleiterinnen oder die Unternehmensführung einbezogen werden. Das kann vor Fehlern schützen. Eine Kollegin erzählte von einem Mobilitätsunternehmen, in dem der Schichtplan digitalisiert wurde. Die Geschäftsleitung war superglücklich, die Belegschaft war superunglücklich: Das Steckkartensystem, das es vorher gab, hatte dazu geführt, dass sich die Menschen unterhalten haben oder auch Schichten getauscht haben, weil es einen Ort gab, wo sie nach der Schicht oder nach einer Tour zusammenkamen. Mit dem neuen System wurde die Taktung enger – und es fiel eine wichtige Kommunikationskomponente weg. Das hatte man nicht vorhergesehen. 

Für eine Kooperation von Mensch und Maschine braucht es vorab ganz viel Kommunikation – und Kommunikation entsteht aus Kommunikation. Sie müssen erst mal verstehen, was die Menschen wollen, können und brauchen. Und Sie müssen verstehen, was die Technologie anbieten kann, was möglich ist und was noch nicht geht. Und dann müssen Sie das System so gestalten, dass beide gut zusammenarbeiten können.

Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass digitalisierte Systeme es mir ermöglichen, meine Stärken und Schwächen besser zu nutzen. Es gibt Menschen, die sind eher zurückhaltend – vielleicht können wir ihnen helfen, in Kommunikation zu treten. Es gibt Menschen, die sind einsam – vielleicht lässt sich diese Einsamkeit durch von Technologie unterstützte soziale Nähe, eines unserer Forschungsprojekte, ein wenig auflösen. Vielleicht können wir Menschen helfen, ihre körperliche und mentale Gesundheit zu verbessern, ohne sie zu gängeln.

Mark Weiser, ein Wissenschaftler und Visionär, der leider sehr früh gestorben ist, hat in einem Paper von Calm Computing gesprochen, also von leisem, unsichtbarem Computing. Ich würde den Gedanken fortführen: Das Digitale wird zunehmend unsichtbar – und muss dabei für alle verständlich und nachvollziehbar bleiben.“

Portraits pantone neu2-03

Virtualität ist vergangenheitsreferenziell.

Sebastian Pflügler 
ist Berater und Coach mit den Schwerpunkten Kommunikation, analoge, virtuelle und hybride Teamkollaborationen sowie Führung. Der Kommunikationswissenschaftler und Wirtschaftspsychologe hat dazu zwei Bücher veröffentlicht: „Kommunikation für die digitale Ära“ und „Mitarbeiter führen in der digitalen Ära“.

Die Zukunft der Kommunikation: Lehren für New Work

„Kommunikation ist in den vergangenen Jahren viel, viel wichtiger geworden, weil sich viele Probleme nicht mehr über Hierarchien lösen lassen. Selbst wenn ich früher ein schlechter Kommunikator war, konnte mein Laden gut laufen, weil ich alles top down vorgeben konnte. Das geht mit der jungen Generation nicht mehr, für die ist Führung ein Diskussionsangebot: Du hast eine Meinung, ich habe eine Meinung, jetzt suchen wir die beste Lösung. 

Ein 63-jähriger Bankdirektor hat mir mal gesagt, seine Rolle habe sich über die Jahre total geändert: Früher war er der Chef, dann wurde er zum Manager, der Arbeitspakete verteilt, und jetzt ist er ein Coach, der die ganze Zeit schaut: Was bewegt meine Leute? Wie können wir etwas zusammen entwickeln? Was ist neben dem Beruf für sie wichtig, das Einfluss auf ihre Arbeit hat? 

Um mit Menschen in Verbindung zu kommen und sie zu etwas zu bewegen, sind viele Diskussionen nötig. Wie machen wir etwas? Wer darf entscheiden? Dafür braucht es Kommunikationskompetenz. Die Tools, über die das läuft, sind ein sekundäres Problem – erst einmal geht es um Haltung. Dabei sind die gleichen Tugenden gefragt wie früher: innere Klarheit – ich muss wissen, was ich eigentlich sagen will. Toleranz gegenüber anderen Perspektiven. Und rhetorische Flexibilität: Wie bleibe ich authentisch im Dialog und bringe unterschiedliche Interessen überein – oder enttäusche zumindest wohlwollend. Rhetorische Flexibilität hilft, den eigenen Standpunkt nachvollziehbar zu überbringen. Auch wichtig: Wie komme ich mit dem Ergebnis des Dialogs klar?

Das alles war schon immer wichtig, aber heute ist der Kontext unbarmherziger. Wenn ich mich jetzt im Ton vergreife, habe ich gleich einen Shitstorm. Das liegt einerseits an der wachsenden Sensibilität unserer Gesellschaft: Wir springen schneller auf Dinge an und moralisieren mehr. Es ist aber auch schwierig, ein Held zu sein, wenn jeder ständig eine Kamera in der Hand hat – zu Konrad Adenauers Zeit blieb vieles hinter verschlossenen Türen, statt sofort auf YouTube zu landen. Und es liegt an den elektronischen Medien: Früher habe ich bei Problemen einen Brief geschrieben, was einen automatischen Cooldown-Effekt hatte – beim Schreiben merkte ich, wo ich vielleicht überreagiert habe. Jetzt poste ich schnell eine Instagram Story, die ich nicht mehr zurückholen kann. Diese hohe Geschwindigkeit fördert affektgetriebenes Kommunizieren.

Davon wegzukommen ist eine wichtige Fähigkeit, ich liefere in meinem Buch „Kommunikation für die digitale Ära“ dafür ein Tool: die Clarity What’s. Wenn ich gerade keine Klarheit habe, muss ich mir zunächst zwei, drei Minuten nehmen, um mich zu sammeln. Gerade wenn es um schwierige, komplexe Themen geht, ist eine Bedenkzeit wichtig. Und Ruhe. Ein Konfliktgespräch mit dem Partner um 21 Uhr? Und dann wundern wir uns, dass es den Bach runtergeht? Wir müssen aus solchen Reiz-Reaktions-Schemata raus! 

Das hat auch mit den elektronischen Medien zu tun. Wir wissen aus Studien, dass wir über sie schärfer kommunizieren. Und auch, dass Textnachrichten und E-Mails einen Negativity Bias haben: Die Nachricht wird negativer gelesen, als sie gemeint ist. Deshalb sollten wir darüber nachdenken, wie ein Text ankommen könnte. Würde ich die Nachricht einer Person so ins Gesicht sagen? Das ist der Analogtest. Und selbst wenn: Mach sie trotzdem etwas netter – auf der anderen Seite kommt sie auf jeden Fall negativer an. Da helfen übrigens auch keine Emojis, das ist ebenfalls nachgewiesen. Und immer wenn ich das Gefühl habe, etwas könnte falsch aufgenommen werden, würde ich den Kommunikationskanal wechseln.

Zum Beispiel telefonieren – Stimme überträgt Stimmung! Wir hören viel aus der Stimme heraus. Wie ist etwas gemeint? Es gibt eine klare Relation von komplex und persönlich: Je komplexer, emotionaler und heikler der Inhalt, desto persönlicher sollte der Kanal sein. Videokonferenz? Telefonisch? Oder ein persönliches Treffen? Selbst da kommt es vor, dass Gespräche per Nachricht kurzfristig abgesagt werden – eine Stunde, bevor es losgeht. Das würden die meisten nicht machen, wenn sie das der Person persönlich sagen müssten.

Es soll sich viel verändern, aber Veränderung geht nicht ohne Verhaltensänderung. Und leiden ist nun mal leichter als lösen. Deshalb fallen wir immer wieder in alte Muster. Da eine kurze Pause zu machen, um den Blick klar zu -bekommen, ist wirklich schwer. Doch es geht! Ich habe jemanden anderthalb Jahre gecoacht, der anfangs sagte: Ich knalle immer sofort eine Lösung hin, mache ein Statement und weiter im Text. Der ist inzwischen richtig gut darin geworden, Fragen zu stellen. Und zwar die richtigen, die etwas bringen. Er hatte aber auch den Veränderungswillen: Er hat viel trainiert und über seine Erfahrungen gesprochen. Es geht also. Aber man muss wirklich dranbleiben.

Auch körperliche Nähe bleibt wichtig. Nicht zuletzt für virtuelles Arbeiten – das funktioniert auch deshalb, weil sich die Menschen schon analog getroffen haben und diese analogen Treffen beim virtuellen Zusammenkommen kognitiv wieder aktivieren. Virtualität ist vergangenheitsreferenziell. Deswegen ist es auch sinnvoll, wenn die Leute im Büro – neben Brainstormings und Kollaborationen – vor allem informelle Kommunikation wollen: mit anderen zusammensitzen, frühstücken, Mittagessen, Kaffeetrinken, gemeinsame Events. Wer im Büro nur am Schreibtisch hockt, kann auch im Homeoffice bleiben. 

Das bringt für alle Beteiligten einen höheren Anspruch an die soziale Kompetenz mit sich. Ich kann an den Tagen, die ich im Office bin, nicht mehr meine Kopfhörer einstöpseln und vor mich hinarbeiten. Für die Führungskraft wie für das Team gilt: Wenn du da bist, sei präsent! Tausch dich aus! Rede – nicht nur oberflächlich.“

Portraits pantone neu2-01

Vielfalt fördert Innovation.

Gesche Joost 
ist Professorin für Designforschung an der Universität der Künste Berlin. Sie ist Mitglied im Aufsichtsrat von SAP und war eine der Entwicklerinnen von Calliope, einem Minicomputer für erste Programmieransätze in der Grundschule. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Mensch-Computer-Interaktion, Gender und Diversität, Wearable Computing sowie soziale Nachhaltigkeit.

Die Zukunft der Kommunikation: zurück zu den Wurzeln

„Ein gutes Beispiel für einen Ansatz in der Technologieentwicklung, der ganz neue Zugänge eröffnet hat, ist für mich das Arduino LilyPad. Der Arduino ist ein kleiner Open-Source-Computer, den es schon lange gab, als die Künstlerin und Ingenieurin Leah Buechley ihn 2006 nutzte, um das erste Wearable zu entwickeln. Dieser Minicomputer ist so groß wie ein altes Fünfmarkstück und kann mit leitendem Garn vernäht werden, sodass er zu einer Schnittstelle zum Internet wird – auf diese Art lässt sich Kleidung digitalisieren. Dieses kleine Stück Technologie hat eine Welle von DIY-Lowtec-Ansätzen ausgelöst: Es ist billig, es ist Open Source, und drum herum gibt es eine Community, die damit baut. Es war eine Revolution! Und es zeigt, wie ein Ansatz, der aus einem völlig neuen Feld kommt, in diesem Fall aus Feminismus und Kunst, einen riesigen Markt eröffnen kann.

Das war der Beginn von Wearable Computing, textiler Elektronik. Plötzlich wurden alte Handwerkstechniken wie Stricken, Weben oder Sticken interessant, um Technologie zu erschaffen. Sie können zum Beispiel ein leitendes Garn verweben, das damit zum Sensor wird. Meine Kollegin Berit Greinke hat aus Origami-Strukturen Sensoren gebaut, die Distanzen messen, wenn man sie zusammenschiebt. Das sind neue Zugänge, die eine ästhetische Dimension haben, eine interaktive, eine taktile – und sie sind trotzdem Elektronik. Solche Entwicklungen können durch Impulse aus neuen Bereichen entstehen. Vielfalt fördert Innovation.

Wir gehen bei der Entwicklung von Kommunikationstechnologien immer noch von einer zu homogenen Zielgruppe aus. Das liegt auch daran, dass die Entwicklerteams häufig sehr homogen sind: Entwickler sind zum größten Teil männlich, kommen aus einem bestimmten Kulturkreis, sind in einem bestimmten Alter und gut gebildet. 

Wir arbeiten viel mit Gruppen in Westafrika zusammen, in Togo oder Ghana zum Beispiel. Natürlich könnte man dort auch als Frau Programmieren lernen und einen besseren Job bekommen – aber ist das kulturell und sozial erwünscht? Für Frauen gibt es immer noch große Hürden. Ich nenne das die soziale letzte Meile, und die gibt es auch bei uns. Das war übrigens einer der Gründe, warum wir 2016 Calliope entwickelt haben. Inzwischen gehen wir mit 250 000 Stück ab der dritten Klasse in deutsche Schulen, um Jungen und Mädchen zu zeigen, dass sie programmieren können.

Ich habe in den Neunzigerjahren mit der Idee studiert, das Netz sei basisdemokratisch und eröffne kostenlose neue Zugänge zu Bildungsressourcen, für freie Meinungsäußerung und auch für die Gender-Neuerfindung. Alle sollten sich im Netz neu erfinden können. Dann ist das umgeschlagen. Wir haben gesehen, was populistische und radikale Bewegungen mit sozialen Medien und ihren Echokammern bewirken können, wie toxisch das alles ist. 

Jetzt sind wir einmal durchs Tal der Träume und einmal durchs Tal der Tränen – es ist Zeit für eine nüchterne Sicht: Wie kommen Leute im Netz in Diskussionen, die ausgleichend sind und für viele Meinungen offen? Wie können wir soziale Zugänge schaffen? Ich denke da an ältere Menschen, an Frauen, an Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Das ist eine soziale Frage, keine technologische oder wirtschaftliche. Ich hätte das nie gedacht, aber ich bin inzwischen eine Freundin der EU-Regulierungen. Wie Gesichtserkennung eingesetzt wird oder KI, wie Hate Speech bekämpft werden kann – diese Fragen müssen wir beantworten, um den demokratischen Raum zu sichern.

Andererseits setze ich auch auf lokale Initiativen von unten, wir merken doch alle, wie schwierig unsere Abhängigkeit von großen Plattformen ist. In Westafrika und Südostasien entstehen gerade sehr starke Gruppen um lokale Anliegen. Wir haben zum Beispiel in Togo kleine Nachbarschaftsnetzwerke entwickelt: für eine Initiative für Straßenkinder, für Menschen, die ihre Kunstwerke zeigen oder einen Rap teilen wollten. Einige wollen auch nur lernen, zu programmieren und wie man so ein Netzwerk aufbaut. Es gibt feministische Hacker Spaces in Thailand, wo super emanzipierte Frauen richtig gutes Zeug machen, das ganz anders ist als unser Mainstream. Das begeistert mich gerade sehr. Damit geht es quasi zurück zu den Wurzeln, schließlich war das die Grundidee des Internets: Menschen tauschen eigenständig und dezentral Informationen untereinander aus. 

Was derzeit passiert, ist nicht Schuld der Technologie – es liegt daran, wie wir sie nutzen. Wir wollen immer effizienter werden, KI soll für Effizienzsteigerung sorgen, und auch die neue Arbeitswelt trachtet nach Effizienzgewinn, was zu einem ganz engen Arbeitsbegriff und letztlich in eine Sackgasse führt. Damit kommen wir nicht weiter. Denn es geht auch um Impact, um Verantwortung und andere Themen, die technologisch nicht gelöst werden können. 

In Zukunft werden wir immer weniger darüber sprechen, ob etwas digital ist oder nicht – diese Unterscheidung wird verschwinden. Elektronik wird stärker in die Kleidung integriert sein und andere Kommunikationswege eröffnen als nur visuelle oder akustische. Taktile zum Beispiel: Eine subtile Ambient-Kommunikation funktioniert vielleicht über Wärme oder Vibration. In Kleidung ließen sich kleine Bauteile integrieren, die einen Wärmeimpuls senden können oder eine Vibration, wenn mein Stresslevel steigt und ich mal durchatmen sollte. Damit findet die körperliche Dimension mehr Beachtung. 

Diese Art der Entschleunigung deutet sich schon heute an: Wenn ich jetzt reise, nehme ich mir dafür mehr Zeit als früher und bleibe zwei, drei Tage vor Ort. Effiziente Treffen organisiere ich gerne online. Aber wenn ich irgendwohin fahre, bin ich länger da, für einen tieferen Austausch. Ich glaube, in 15 Jahren wird das total etabliert sein.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.