Konsum & Konsumenten

Sprung ins Blaue

Was hat Bestand, worauf kann ich verzichten? Nicht nur in Krisen müssen wir uns entscheiden. Das Leben lässt uns immer wieder neu anfangen und stellt uns vor die Wahl. Thorsten Pachur, Entscheidungsforscher an der Technischen Universität in München, erklärt, wie wir uns in unserer komplexen, sich ständig verändernden Welt besser zurechtfinden können.





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Herr Pachur, zahllose Möglichkeiten machen uns heute das Leben schwer. Wie trifft man eine gute Entscheidung?
So etwas wie ein allgemeingültiges Rezept für eine richtige Wahl gibt es nicht. Jeder von uns kennt das Gefühl, sich partout nicht entscheiden zu können – und jeder weiß auch, wie gut es sich dann anfühlt, einen Beschluss gefasst zu haben.

Es gibt Entscheidungen, die sich später als richtig herausstellen und andere, die man bereut. Keiner von uns weiß, ob sie oder er vorab genügend abgewogen hat oder die Aufmerksamkeit vielleicht doch noch auf ein anderes Detail hätte lenken sollen. Jeder Entscheidung wohnt ein Moment des Loslassens und des Risikos inne.

Wie kommen wir Menschen überhaupt zu einer Entscheidung?
In der Forschung sprechen wir von einem Exploration-Exploitation-Dilemma, also der Spannung zwischen der Informationssuche und dem Schöpfen aus dem vorhandenen Wissen. Natürlich ist es sinnvoll, insbesondere vor großen Entscheidungen, zunächst einmal möglichst viele Informationen zu sammeln, um eine gute Grundlage für den eigenen Auswahlprozess zu schaffen. Doch je mehr ich weiß, desto mehr verstehe ich auch, was ich noch nicht weiß – das gilt auch beim Entscheiden.

Deshalb kommt immer irgendwann ein Punkt, an dem man mit dem Recherchieren aufhören muss – auch wenn man zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wie das Ergebnis dieser Entscheidung aussehen wird. Wie lang der Weg zwischen Zweifel und Entscheidung ist und wodurch dieser Moment ausgelöst wird, ist individuell höchst unterschiedlich und auch situationsabhängig.

Vermutlich hängt das doch auch von der Art der Entscheidung ab, oder? Die Frage, was ich mir zum Abendessen koche, wiegt schließlich weniger schwer als die Wahl eines neuen Jobs.
Richtig, es gibt unterschiedliche Arten von Entscheidungen. Aber wenn man sich Entscheidungsprozesse genauer anschaut, kann man doch schnell ähnliche Muster erkennen: Im ersten Schritt einer Entscheidung geht es darum, zu schauen, welche Optionen es gibt. Im zweiten Schritt werden die bewertet und an ihren Konsequenzen bemessen. Erst in Schritt drei kommt es zur Entscheidung für die in dem Moment von uns am besten bewertete Option.

Warum tun wir uns mit dem Prozess dennoch so oft schwer? Aus Furcht vor den Konsequenzen, den Folgen unseres Handelns?
Weil wir Menschen und keine Maschinen sind. Unsere Bewertungen sind immer subjektiv. Manchmal sind wir unter Zeitdruck oder haben schlecht geschlafen, dann wieder werden wir von unseren Vorurteilen, Ängsten und Assoziationen beeinflusst. Es gibt vieles, das Auswirkungen darauf hat, wie wir unsere Optionen bewerten.

Gestresste Menschen hadern manchmal mit den einfachsten Entscheidungen: Nehme ich Kuh- oder Hafermilch in meinen Kaffee? Die große oder die kleine Portion? Auch die Tageszeit macht einen Unterschied, das gilt übrigens insbesondere für ältere Menschen. Am Morgen nehmen wir uns doch alle oft vor, am Abend wirklich mal früh ins Bett zu gehen – und nach dem Abendessen entscheiden wir uns dagegen. Je älter wir werden, desto ausgeprägter wird dieser Effekt.

Gibt es gute und schlechte Entscheider?
Unsere charakterliche Disposition spielt tatsächlich eine Rolle. Wir sprechen in der Wissenschaft vom „Indecisiveness-Faktor“ eines Menschen, den man wie den Intelligenzquotienten messen kann: Manche Menschen sind risikofreudig, andere eher risikoavers. Genau wie einige von ihrem Naturell her eher Bauchentscheider sind, während die anderen lieber kognitiv abwägen.

All das wird wiederum davon beeinflusst, wie viel bei einer Entscheidung auf dem Spiel steht. Bei Kleinigkeiten neigen alle Menschen – unabhängig von ihrem Charakter – dazu, auch mal ihren spontanen Eingebungen zu folgen. Bei großen und eher kostspieligen Entscheidungen verlieren sich die meisten von uns dagegen schnell in umfangreichen Recherchen; das Internet hat diese Tendenz noch schlimmer werden lassen. In der Forschung sprechen wir hier von einer adaptiven Rationalität.

Wieso können dann trotz all dieser Einflüsse recht stabile Prognosen über das menschliche Verhalten getroffen werden?
Ganz einfach, weil sie auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten arbeiten und sich anschauen, wie sich Menschen in der Vergangenheit entschieden haben. Daraus ziehen sie Schlüsse auf deren zukünftige Entscheidungen.

Wenn es dabei um eine große Stichprobe geht, ist das auch durchaus valide. Bei individuellen Entscheidungen hingegen wird die Luft schnell dünn. Menschen sind zu überraschenden Kehrtwenden fähig. Da isst jemand jahrzehntelang Fleisch und entscheidet plötzlich, von einem Tag auf den anderen, Veganer zu werden. Genau solche scheinbar aus dem Nichts kommenden Entscheidungen interessieren mich als Wissenschaftler sehr.

Wie erklären Sie sich solche Kehrtwenden?
Extreme Entscheidungen mit radikaler Tragweite werden häufig impulsiv gefällt. Man muss allerdings genau hinschauen: Oft wirkt eine Entscheidung nur spontan, tatsächlich hat der Entscheidungsprozess aber schon viele Monate oder sogar Jahre zuvor begonnen, vielfach unbewusst. Da reicht manchmal ein winziger Auslöser, um das innere Fass zum Überlaufen zu bringen. Solche Entscheidungen werden also nicht wirklich plötzlich gefällt – sie sind das Ergebnis eines lang zuvor begonnenen inneren Prozesses.

Wenn hingegen jemand tatsächlich von heute auf morgen beschließt, seine Familie zu verlassen und auf die andere Seite der Welt zu ziehen, ohne auch nur eine Sekunde über die Konsequenzen seines Handelns nachzudenken, sollte man wachsam werden, denn das kann durchaus ein Zeichen für einen Mangel an Empathie oder eine Verhaltensstörung sein. Es gibt affektive Störungen, die mit einer Entscheidungsinkompetenz als klinische Diagnose einhergehen.

Woher weiß ich, ob ich meiner eigenen Entscheidung vertrauen kann?
Erfahrungen können helfen. Genauso wie ein geschärfter Blick. Ermutigen Sie sich selbst, auch mal gegen die eigene Routine zu entscheiden. Wie fühlt sich das an? War es bereichernd oder eher beängstigend?

Nicht nur Handlungen können durch Wiederholungen bis zu einem gewissen Grad automatisiert werden, auch Gedankenabläufe lassen sich trainieren. Wie wichtig und hilfreich das sein kann, wurde zum Beispiel in einer Studie unter jungen Medizinern untersucht.

Junge Ärzte liegen am Anfang ihrer Karriere mit ihren Diagnosen häufig falsch. Je mehr Erfahrungen sie sammeln, desto besser wird auch ihre Trefferquote. Interessanterweise flacht dieser Effekt wieder ab: Irgendwann scheint das Erfahrungswissen ausgereizt zu sein, ab einem gewissen Punkt wird man beim Entscheiden nicht besser, egal wie häufig man übt.

Und was dann?
Dann kommt das Bauchgefühl ins Spiel. Das kann man zwar nicht wirklich üben, aber man kann lernen, es zu
beachten oder ihm mehr Raum zu geben, in dem man Stressfaktoren minimiert.

In einer anderen Studie haben wir eine Gruppe von Zöllnerinnen und Zöllner in einer Urteilsaufgabe gebeten zu entscheiden, wen sie auf ihrem Posten unbehelligt passieren lassen und wen sie aufhalten und überprüfen. Dabei zeigte sich, dass häufig eine einfache Daumenregel verwendet wurde, die eine Entscheidung aufgrund eines einzigen Grundes trifft. Beispielsweise ob der Passagier mit einem Flug aus Südamerika oder aus Europa kommt oder ob er wenig oder viel Gepäck dabei hat. Nichtexpertinnen und -experten, denen wir die Entscheidungsaufgabe vorgelegt haben, verwendeten oft eine sehr viel kompliziertere Entscheidungsregel.

Gleiches konnte auch bei einer Studie in einer Gruppe von Einbrechern beobachtet werden. Hier wollten die Autoren von den Befragten wissen, woran sie festmachten, in welches Haus sie einsteigen. Je erfahrener die Diebin oder der Dieb war, desto seltener wurden als Gründe für die Entscheidung objektiv nachvollziehbare Argumente genannt, wie heruntergelassene Jalousien oder ein nicht geleerter Briefkasten.

Übung macht also auch in der Entscheidungsfindung den Meister?
Zumindest was unsere Intuition angeht. Je vertrauter wir mit einer Tätigkeit oder Situation sind, desto mehr vertrauen wir offenbar auf unser Bauchgefühl. Eine gute Intuition benötigt Erfahrung. Je häufiger wir Erfahrungen mit Entscheidungen einer bestimmten Art gemacht haben – etwa die Wahl eines Restaurants oder der Kauf eines elektronischen Geräts – und so aus den konkreten Erfahrungen und der Rückmeldung zu den Entscheidungen lernen konnten, desto besser können wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen.

Unterliegen unsere Entscheidungen auch Moden?
Gesellschaftliche Erfahrungen haben in der Tat einen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Menschen. Einige Studien haben inzwischen zum Beispiel belegt, dass die Erfahrung von Armut oder Krieg einen Einfluss auf das Risikoverhalten ganzer Generationen hat. Die Erfahrung der Unsicherheit hat augenscheinlich eine signifikante Wirkung, die auch zu generationalen Erfahrungen führt.

Recht deutlich konnte man diesen Effekt nach dem Mauerfall beobachten. Damals haben sich in Ostdeutschland viele Paare zunächst gegen die Gründung einer
Familie entschieden – die Angst vor der wirtschaftlichen Unsicherheit war einfach zu groß.

Was raten Sie bei besonders schwierigen Entscheidungen?
Schreiben Sie Pro- und Kontra-Listen, machen Sie sich klar, welchen Einflüssen Sie ausgesetzt sind, setzen Sie sich ein zeitliches Limit. Das heißt nicht, dass Sie die Gründe für und gegen eine Entscheidung abzählen sollten, um eine Entscheidung zu treffen. Vielmehr kann Ihnen eine Liste mit den Vor- und Nachteilen bewusst machen, welche Folgen eine Entscheidung haben kann und welche Folgen Ihnen am wichtigsten sind.

Überlegen Sie vor dem Entscheiden, was Ihr eigentliches Ziel ist. Wollen Sie einfach eine Veränderung? Mehr Muße? Inspiration? Schauen Sie sich nicht nur die positiven Seiten der einzelnen Optionen an, sondern auch die negativen. Nehmen Sie sich vor, bis wann Sie sich entscheiden wollen – und schließen Sie danach auch Ihren Frieden damit. Am Ende geht es doch vor allem darum, einen Weg zu wählen, nicht mit sich zu hadern und dann das Beste daraus zu machen. //

Die beste Entscheidung seines Lebens, sagt Thorsten Pachur, sei die gewesen, nach der Schule mit ein paar Freunden nach England zu gehen, um dort als Amateur-Band durch die Underground-Clubs zu tingeln. Heute arbeitet er als Professor für Behavioral Research Methods an der Technischen Universität München, wo er sich vor allem mit den kognitiven und affektiven Grundlagen von Urteilen und Entscheiden beschäftigt.

Sind Sie ein guter Entscheider? Gehören Sie zu den Menschen, die im Restaurant sofort wissen, was sie wollen, oder tun Sie sich schwer mit der Auswahl?

Dieses kleine Online-Quiz verrät Ihnen, wie risikofreudig oder -avers Sie sind: b1.de/entscheiden


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.