Menschen & Märkte

Erste Sätze zum Verlieben

Der erste Satz eines Romans kann für manche eine Tür in eine andere Welt öffnen. Und für andere eine unüberwindbare Grenze darstellen.

Denn Bücher sind wie die Liebe: Nur gemeinsam mit denen, die sie lesen, finden sie ihre Erfüllung.





„Ilsebill salzte nach.“ Das ist der Beginn des Romans „Der Butt“ von Günter Grass – und der beste erste Satz in der deutschen Literatur. Jedenfalls laut Jury des Wettbewerbs „Der schönste erste Satz“ der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen, für den mehr als 17 000 Menschen ihren liebsten literarischen Anfang einschickten. Es war allerdings keine Wahl, bei der die Mehrheit gewann. Und das war auch gut so, denn in der Wettbewerbsankündigung hieß es: „Der erste Satz ist wichtig. In der Liebe wie auch in der Literatur. Ein guter erster Satz entscheidet oftmals schon darüber, ob wir uns in einen Menschen oder in ein Buch verlieben, ob wir berührt werden und uns voller Neugier auf das Versprechen einer guten Geschichte einlassen.“

Die Magie der Liebe birgt bekanntlich für jeden einen anderen Zauber. Einige schmelzen dahin, wenn sie den Satz hören: „Ich zähle die Stunden, bis du wieder bei mir bist.“ Während andere entsetzt antworten: „Wenn du außer mir nichts im Leben hast, passen wir doch nicht zusammen.“

Mit Günter Grass’ Einstieg dürften nur wenige Probleme haben, aber sonderlich anziehend werden ihn wohl auch nicht viele finden. Der zweite Platz des Wettbewerbs, der erste Satz aus Franz Kafkas „Die Verwandlung“, ist da schon anders: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Ist das spannend? Oder eklig?

Die folgende Liste schöner erster Sätze von Literaturklassikern und Geheimtipps ist natürlich völlig subjektiv. Aber vielleicht führt sie Sie trotzdem zu einem neuen Lieblingsbuch? Als kleine Starthilfe für die Liebe zu neuer Lektüre haben wir sie verschiedenen Typen von Menschen zugeordnet, die von einem Buch mehr erwarten als spannende Lektüre. Wer von ihnen sind Sie?

„An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und einen Windhund zum Jagen haben.“
(Miguel de Cervantes: Don Quijote)

„Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen!“
(Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)

„Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.“
(James Joyce: Ulysses)

„Damals liebte Celeste einen Matrosen und wartete zu Hause darauf, dass sein Schiff die Hafeneinfahrt passieren würde, mit Kurs auf ferne Gewässer eines weiten Meeres, in blauen und grauen Aquarellfarben gemalt auf die verfließende Karte der langen Trennungen.“
(Clara Pinto Correia: Das Alphabet der Frauen)

„Drei Möwen kreisen über den zerbrochenen Kisten, den Orangenschalen und verfaulten Kohlköpfen die sich zwischen den rissigen Planken heben und senken, und die grünen Wellen schäumen unter der Rundung des Bugs, als die Fähre, hin und her geworfen von der Strömung, klatschend und gurgelnd das Wasser zerteilt, schlingert und gemächlich am Anleger zur Ruhe kommt.“
(John Dos Passos: Manhattan Transfer)

Illustration spruch1

„Nennt mich Ishmael.“
(Herman Melville: Moby-Dick)

„In Lissabon gibt es einige wenige Restaurants oder kleine Gasthäuser, da liegt oberhalb eines Geschäfts, das wie eine dezente Taverne aussieht, ein Zwischengeschoß, das so schwerfällig und hausbacken wirkt wie ein Restaurant in einer Ortschaft ohne Bahnanschluss.“
(Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe)

„Pfh, die Frau, die kenne ich.“
(Toni Morrison: Jazz)

„Als Konrad Lang zurückkam, stand alles in Flammen, außer dem Holz im Kamin.“
(Martin Suter: Small World)

„Mein erster Toter war ein Rentner.“
(Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war)

„Draußen war ein Winter gewesen, der den Bildern, die wir früher vom Winter gehabt haben, nicht einmal entfernt glich.“
(Sibylle Berg: Der Mann schläft)

„Die Behemoths haben sie mit den Nashörnern, den Flusspferden und den Elefanten zusammen in den Laderaum gesteckt.“
(Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 1⁄2 Kapiteln)

„Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.“
(Wolfgang Herrndorf: Tschick)

„Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“
(George Orwell: 1984)

„Alles ist vorläufig: die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich.“
(Frédéric Beigbeder: 39,90)

„Es ist nicht allgemein bekannt, wie ich den alten Phillip Mathers umgebracht habe; ich zerschmetterte ihm die Kinnlade mit meinem Spaten.“
(Flann O’Brien: Der dritte Polizist)

„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.“
(Vladimir Nabokov: Lolita)

Illustration spruch2

„Könnte schlimmer sein.“
(A. L. Kennedy: Alles was Du brauchst)

„Falls Sie wirklich meine Geschichte hören wollen, so möchten Sie wahrscheinlich vor allem wissen, wo ich geboren wurde und wie ich meine verflixte Kindheit verbrachte und was meine Eltern taten, bevor sie mit mir beschäftigt waren, und was es sonst noch an David-Copperfield-Zeug zu erzählen gäbe, aber ich habe keine Lust, das alles zu erzählen.“
(J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen)

„Schwungvoll schmierte ich mir Orangenmarmelade auf den Toast, und während ich so vor mich hin strich, war ich stärker denn je versucht, ,trallala‘ zu singen, denn an diesem Morgen fühlte ich mich in einsamer Hochform.“
(P.G. Wodehouse: SOS Jeeves)

„mal sehen, ob die wälder wieder brennen, mal sehen, ob starke hitze uns entgegenschlägt. mal sehen, ob der rauch die tiere aus den büschen treibt, deren namen wir nicht kennen, mal sehen, ob das eine stille nach sich zieht.“
(Kathrin Röggla: die alarmbereiten)

„Hanuman war von der dänischen Provinz ganz übel.“
(Andrej Iwanow: Hanumans Reise nach Lolland)

„Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte.“
(Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege)

„Montag, 27. Januar: 58,5 kg (schlittere mitten auf der Fettspur); Lover: 1 (hurra!); Sex: 3-mal (hurra!); Kalorien: 2.100; davon durch Sex wieder verbrannt: 600; macht unterm Strich magere 1.500 Kalorien (hervorragend).“
(Helen Fielding: Bridget Jones – Am Rande des Wahnsinns)

„Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.“
(Jane Austen: Stolz und Vorurteil)

„Alle Kinder, bis auf einen, werden erwachsen.“
(J. M. Barrie: Peter Pan)

„All dies geschah, mehr oder weniger.“
(Kurt Vonnegut: Schlachthof 5)

„Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlasst, ihre Tochter zu töten.“
(Erich Hackl: Auroras Anlass)

„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
(Samuel Beckett: Murphy)

„Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und
der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, dass ihre geräuschvollsten Vertreter im Guten wie im Bösen nur den Superlativ auf sie angewendet haben wollten.“
(Charles Dickens: Eine Geschichte aus zwei Städten)

„Amöben hinterlassen keine Fossilien.“
(Tom Robbins: Sogar Cowgirls kriegen mal Blues)

„Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte – wenn er überhaupt je ein Ende nahm –, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb.“
(Stephen King: Es)

„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, man macht die Dinge dort anders.“
(L. P. Hartley: Ein Sommer in Brandham Hall)

„Wie froh bin ich, dass ich weg bin.“
(Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther)

„Sie war so unlösbar mit meinem Sein verbunden, dass ich im ersten Schuljahr geglaubt haben muß, alle meine Lehrerinnen seien eigentlich meine Mutter, in veränderter Gestalt.“
(Philip Roth: Portnoys Beschwerden)

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„Ich hab immer alles hingeschmissen.“
(T. C. Boyle: Grün ist die Hoffnung)

„Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.“
(Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit)

„Euch kann ich’s ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet.“
(Erich Kästner: Emil und die Detektive)

„Als ich noch jünger und verwundbarer war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir bis heute im Kopf herumgeht.“
(F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby)

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“
(Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)

„Ich verliebte mich in Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: unvermittelt, unbegreiflich, unkritisch, ohne einen Gedanken an den Schmerz oder den Schaden, den er mir zufügen würde.“
(Nick Hornby: Ballfieber)

„Er spricht wie du, mit amerikanischer Stimme, und in seinen Augen liegt ein halbwegs hoffnungsfroher Schimmer.“
(Don DeLillo: Unterwelt)


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.