Das Weltgewissen
Als Georg Kell am Morgen jenes verregneten Montags im Mai den Computer hochfährt, ist es wieder da, das Dilemma. Mit dem Mauszeiger klickt er auf den Posteingang. „Betreff: PetroChina und Sudan“, heißt es da. Kell liest etwas von Ölprofiten, Darfur, Menschenrechtsverletzungen und dem 60. Jubiläum der Menschenrechtserklärung, die in den ersten zwei Prinzipien des UN Global Compact verankert sei. Er möge als Leiter der Initiative doch bitte seinen Einfluss auf die chinesische Ölfirma nutzen und das Unternehmen, seit August 2007 Mitglied des Global Compact, zumindest „auf Bewährung“ setzen, solange es im Sudan investiere und die UN-Prinzipien systematisch verletze. Dann liest Kell den Namen Mia Farrow, die den Brief mit „Schauspielerin und Menschenrechtsverfechterin“ unterzeichnet hat; seine Augen fliegen über die weiteren Unterschriften: Erzdiözese von San Francisco, Kanadische Studenten für Darfur, Genocide Alert aus Köln, Holocaust Center aus Nordkalifornien. So geht es weiter, neun Seiten lang.
Gerade war Kell noch durch die zehn Grad kühlen Straßenschluchten gelaufen, schnellen Schrittes, die feuchte Luft in seinem hageren Gesicht. Vor dem Millennium Hotel in der 44. Straße passierte er die gelben Taxis, deren dunkelhäutige Fahrer meist hellhäutige Krawattenträger vor der glitzernden Lobby absetzen. Er geht durch die Drehtür des United Nations Plaza, ein doppeltürmiges grün schimmerndes Glasgebäude, rund 200 Meter vom UN-Hauptquartier am East River entfernt. Er drückt im Aufzugskorridor den Knopf mit der Sechs, wünscht den Mitfahrern einen schönen Tag, auch dem Wachmann vor dem Büroraum DC2-612, der in seine Men’s Health vertieft ist. Die Schwarz-Weiß-Fotos aus Afghanistan, die an der gelb getünchten Wand hängen – Talibankämpfer, Granathülsen, große Kinderaugen – nimmt er nur am Rande wahr. Er hat es eilig, und so geht er rasch über den ausgetretenen Linoleumboden, vorbei an Pappkartons und den Arbeitswaben der Mitarbeiter in sein Büro, um einen neuen Tag zu beginnen, der ausgefüllt sein wird mit dem Versuch, die Welt ein wenig besser zu machen.
Die E-Mail wühlt wieder alles auf: Ohnmacht, Anspruch und Wirklichkeit. Drei Tage später wird Kell knapp antworten. Er wird schreiben, der Global Compact sei ein Dialogforum und habe keine regulatorische Kraft. Die Verantwortung für Frieden und Sicherheit trügen Regierungen. Man teile aber die Sorgen über Darfur und habe das Schreiben an PetroChina weitergeleitet. Außerdem wolle man ein Diskussionsforum für die Global-Compact-Teilnehmer im Sudan schaffen, um einen konstruktiven Dialog anzustoßen.
Wenn Kell, der gebürtige Bayer aus Bad Tölz, dessen nahezu 20 Jahre in New York sein hartes R nicht abgeschliffen haben, über sein Dilemma spricht, wirkt er schnell müde. Zu oft hat er erklärt, dass der UN Global Compact als etwas gesehen wird, was er nie vorgegeben hat zu sein: ein Regelwerk, das Sanktionen nach sich zieht. Tatsächlich sei der Pakt zwischen den Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und der Wirtschaft eine freiwillige Initiative, sagt Kell, ein Orientierungsgerüst, das praktische Hilfestellungen zu verantwortungsvollem unternehmerischen Handeln geben könne. „Lernen, Dialog, Partnerschaft – das sind die Aufgaben des Global Compact. Wir haben kein Mandat für mehr.“
Man könnte sagen, der Global Compact ist ein Weltkonzern des guten Gewissens, eine Volkshochschule in ethisch korrektem Wirtschaften, ein Workshop von Gutmenschen. Wer es freundlich meint mit der Initiative, wie die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul, sieht in ihr eine „Koalition der Vernunft und Verantwortung“ oder, so UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, einen „Management-Guide“ und „moralischen Kompass“. Für Jeffrey Sachs, den streitbaren Direktor des Earth Institute an der Columbia University in New York, hat der Global Compact sogar den „wichtigsten Beitrag der Wirtschaft zu sozialer Verantwortung“ geleistet.
Mehr als 4600 Unternehmen aus gut 120 Staaten, aus Schwellenländern und Industrienationen, haben sich den zehn universellen Prinzipien zu Menschenrechten, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung verschrieben. Unter ihnen befinden sich 155 der 500 weltgrößten Konzerne; sie allein beschäftigen mehr als zehn Millionen Menschen und setzen mehrere Billionen Dollar im Jahr um. 1300 NGO – etwa Amnesty International, die Umweltstiftung WWF oder Transparency International –, Universitäten, Wirtschaftsverbände und sogar Städte wie Nürnberg und Berlin sind Mitglieder. Die freiwillige Initiative ist im Norden und Süden, im Westen und Osten verankert – in insgesamt 90 lokalen Netzwerken rund um den Globus. Zuletzt haben sich Unternehmen im Senegal, in Vietnam, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammengeschlossen.
Ist der Global Compact nur ein Forum, um karitative Projekte vorzustellen?
Trotz dieser beachtlichen Größe ist die Kritik nie verstummt. Für Oxfam, Greenpeace oder ActionAid ist eine Initiative zu Corporate Responsibility (CR) wie der Global Compact pure Augenwischerei. Der Machtverschiebung von Nationalstaaten hin zu transnationalen Konzernen könne nur mit Gesetzen begegnet werden, argumentieren sie. „Freiwillige sowie allein auf der Logik des Marktes beruhende Instrumente sind nicht ausreichend, um soziale, ökologische und menschenrechtliche Normen durchzusetzen“, schreibt etwa Cornelia Heydenreich von Germanwatch. Stephanie Celt von der Washington Fair Trade Coalition in Seattle sagt: „Wir arbeiten nicht mit dem Global Compact zusammen, weil wir an rechtsgültige Regeln innerhalb des Freihandelssystems glauben.“
Schon bei der Gründung des Global Compact im Jahr 2000 waren die Erwartungen hoch, schließlich waren die Vereinten Nationen Namensgeber der Initiative. Gewerkschafter, Menschenrechtler, Globalisierungsgegner hofften, es würde endlich ein weltweiter Sanktionsmechanismus entstehen, der Unternehmen öffentlich abstraft, die Kinder schuften lassen, Hungerlöhne zahlen und die Umwelt verpesten. Die Hoffnungen wurden bald enttäuscht, viele NGO bezeichneten den Global Compact als nicht ambitioniert genug: Über seine unverbindliche Rolle hinaus müsse er sich weiterentwickeln, sonst sei er nicht mehr als ein Forum, um karitative Projekte vorzustellen; ein Stempel für „sozial/ökologisch korrekt“, der Firmen Anlass gebe, PR-Seifenblasen zu produzieren. Zudem setzten die Vereinten Nationen ihren Ruf aufs Spiel, wenn Unternehmen den UN-Globus auf ihre Hochglanzbroschüren druckten und keine Taten folgen ließen, hieß es. Das sei „Bluewash“, ätzten die Kritiker in Anspielung auf die blaue Farbe der UN-Flagge.
Kell hat all das schon hundertmal durchgekaut. Er kommt gerade aus São Paulo und hat kaum geschlafen. Im Wochenrhythmus fliegt er von Kontinent zu Kontinent, seine Meetings sind halbstündig getaktet, er will keine Zeit verlieren. Eine Stunde Gespräch? Was könnte er in dieser Stunde nicht alles erledigen? Er hat für die UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) in Tansania gearbeitet, er war selbstständiger Berater von Investitionsbanken in Afrika, Asien und Lateinamerika. Georg Kell kennt die Probleme der Welt nur zu gut.
„Es gibt zu viel zu tun“, sagt der 53 Jahre alte vierfache Vater hastig durch seinen dünnen Bart. Das feine Brillengestell macht sein Gesicht noch schmaler. Er kommt jetzt schnell auf den Punkt: „Wir brauchen praktische Lösungen. Ideologisches Wunschdenken hilft uns nicht weiter, auch wenn Philosophieren schön ist“, sagt Kell und nennt sich dazu passend einen „Social Globalist mit starker pragmatischer Orientierung“. Solange Regierungen die bestehenden Menschenrechts-, Arbeits- und Umweltnormen nicht ordentlich überwachen, sei eine freiwillige Initiative als „Lückenfüller“ gut. „Unternehmertum ist weiterhin das beste Mittel, um die Probleme der Welt zu lösen. Ohne Unternehmertum“, sagt Kell, „würden wir vermutlich alle noch Kartoffeln anbauen.“
Rückendeckung bekommt der Leiter des Global Compact von Mark Moody-Stuart. Der britische Ritter, früher Chairman von Royal Dutch/Shell, heute bei Anglo American, ist Mitglied im Vorstand der CR-Initiative. Moody-Stuart sagt, ein weltweit bindender Vertrag zu ethischem Wirtschaften, wie ihn sich viele NGO „erträumten“, sei vielleicht wünschenswert, aber eine Schimäre. „Allein der Versuch, so ein Abkommen zu schließen, würde die UN über Jahre lahmlegen und vermutlich in einer Sackgasse enden. Deshalb machen wir es lieber freiwillig.“
Für diese Freiwilligkeit hat Kell eine schöne Metapher parat. „Den größten und am besten gedeckten Tisch im Raum“, nennt er seinen globalen Pakt. Der Raum ist die Welt. In keiner anderen Umgebung als unter dem Dach der Vereinten Nationen fänden so verschiedene Stakeholder wie NGO, Politiker, Investoren und Unternehmer Platz, um miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen.
Am Anfang stand eine stille Revolution. 1997 holte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan den Wirtschaftsberater Georg Kell zu sich, um die Zusammenarbeit der Vereinten Nationen mit der Privatwirtschaft voranzutreiben. Manager, das waren lange Zeit kapitalistische Ausbeuter – schlimme Kerle, mit denen die Völkerrechtsorganisation nichts zu tun haben wollte. Umgekehrt sah die Wirtschaft in den UN ein regulatorisches Monster, zu dem man besser Abstand hielt. Dass Annan dieses von Misstrauen geprägte Verhältnis ändern wollte, hatte einen pragmatischen Grund: Unternehmen haben Geld, Einfluss und zeigen wachsenden Veränderungswillen. Um die Probleme der Welt in Angriff nehmen zu können, kalkulierte Kofi Annan, müssten die Vereinten Nationen ihre Scheuklappen ablegen und die Wirtschaft ins Boot holen.
Vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos 1999 bekam Kell die Aufgabe, etwas „wirklich sehr Gutes“ zum Thema UN und Wirtschaft zu schreiben. So kurz vor der Jahrtausendwende drohte der Globalisierung ein schwerer Rückschlag: In Asien grassierte die Finanzkrise. Menschen gingen in aller Welt auf die Straße und demonstrierten gegen die Brutalität des Turbokapitalismus. Die Kritik am kurzfristigen Renditedenken wuchs. Regierungen stellten den Freihandel infrage. Und die Forderung der Öffentlichkeit an Unternehmen, ihre Rolle als Corporate Citizen besser wahrzunehmen, wurde immer lauter.
Als Kofi Annan am 31. Januar 1999 im Schweizer Skiort zu den versammelten Wirtschaftsbossen die Worte sprach, die Kell für ihn aufgeschrieben hatte, warnte er vor Protektionismus und Populismus, vor Nationalismus, ethnischem Chauvinismus, Fanatismus und vor Terrorismus. All diese -Ismen würden die Globalisierung bedrohen. Annan schlug vor, „einen globalen Pakt gemeinsamer Werte und Prinzipien zu schmieden, der dem globalen Markt ein menschliches Gesicht geben wird“. Keine Seite, weder die Wirtschaft noch die UN, könne ohne die andere zum Ziel kommen. Und ohne die Unterstützung der Unternehmen bestünde die Gefahr, dass universale Werte wie die Menschenrechtserklärung kaum mehr als feine Worte blieben: „Dokumente, deren Geburtsstunde wir feiern und über die wir Reden halten.“ Die aber kaum Einfluss auf das Leben einfacher Leute hätten.
Am Anfang war eine Rede: Daraus wurde die größte CR-Initiative der Welt
Die Rede war ein Volltreffer, ein großes Thema in den Zeitungen am nächsten Tag. Konzernchefs und Politiker schrieben Briefe, riefen bei den UN an, man müsse dem skizzierten globalen Pakt einen institutionellen Rahmen geben. „So sind wir in die Initiative hineingeschlittert“, erinnert sich Kell und betont wieder, dass seine eigentliche Aufgabe lautete: „eine tolle Rede für den Boss schreiben“.
Kell bekam ein Mini-Budget von zunächst 20 000 Dollar, damit sollte er aus dem „Betriebsunfall“ etwas machen. Am 26. Juli 2000 wurde der UN Global Compact offiziell gegründet, seine Struktur, etwa die lokalen Netzwerke, entwickelte sich spontan. Einen Plan für den Aufbau der Organisation hat es nie gegeben.
„Die Idee ging wie ein Buschfeuer um die Welt, heute leuchtet sie so hell wie nie zuvor“, sagt Kell. Als Leiter des Global-Compact-Büros in New York ist er noch immer der Verwalter der Idee, aus der inzwischen die größte freiwillige CR-Initiative der Erde geworden ist. Angetrieben wird sie ausdrücklich von der Wirtschaft, die Vereinten Nationen sind mit der Teilnahme von sechs UN-Agenturen, darunter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und dem Hochkommissariat für Menschenrechte, „aktiver Partner“ bei diesem institutionalisierten Tabubruch.
Auch acht Jahre nach der Gründung ist das Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und starren Spielregeln, zwischen gutem Willen und Sanktionen noch nicht aufgelöst: Würde ein wenig mehr Verbindlichkeit dem Global Compact nicht gut tun? Könnten seine Ergebnisse nicht noch besser sein? Diese Fragen gehen im sechsten Stock des New Yorker Büros täglich um. Und vor allem: „Wie berührt unsere Arbeit eigentlich die Menschen?“, fragt sich Lila Karbassi stellvertretend für ihre Kollegen. Die Französin mit iranischen Wurzeln hat früher bei einem Pharmaunternehmen gearbeitet. Jetzt, sagt sie, will sie ihre Kraft für die richtige Sache einsetzen. Sie organisiert Umweltschutzkongresse, kümmert sich um Global-Compact-Initiativen wie „CEO Water Mandate“ und „Caring for Climate“. Es ist sicher gut, wenn Manager sagen, sie würden den Wasserverbrauch zur Chefsache machen und sich zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes verpflichten. Aber Karbassi weiß auch, dass der Büroturm in Manhattan, in dem sie oft bis spätabends sitzt, nicht die wirkliche Welt ist. „Die ist weit weg von uns.“
Wer hier arbeitet, muss Idealist sein. Jedes zweite Mitglied der Belegschaft ist Praktikant, freier Mitarbeiter oder Berater mit Sechsmonatsvertrag. Selbst die Festangestellten haben Vertragslaufzeiten von selten mehr als einem Jahr. Auf den rund 150 Quadratmetern drängen sich eng 16 Arbeitswaben und neun Einzelbüros, dazwischen ungeleerte Pappkartons, Papier- und Bücherstapel. Die vergilbten Deckenplatten hängen schief in der Verankerung, die Fenster schreien nach einer Reinigung. Über einigen Büros steht die Raumnummer auf einem weißen Blatt Papier, geschrieben mit schwarzem Filzstift. Geld regiert hier nicht. Spürbar wird das besonders an einem warmen Sommertag, wenn die wartungsbedürftige Klimaanlage die New Yorker Schwüle keinen Deut mildert.
Am Computerbildschirm der Kommunikationsexpertin Carrie Hall hängt eine „Medal of Honor“ aus Papier, darauf das markante Gesicht ihres Chefs Georg Kell, gebastelt von einem Kollegen. So halten sie sich bei Laune. Weil sie das Gefühl haben, „am richtigen Platz zu sein“, wie Carrie Hall sagt – obwohl die Verwirklichung der Global-Compact-Ziele „Lichtjahre entfernt ist“. Als PR-Frau hat sie früher Krisenmanagement betrieben, Produkte schön geredet und sich über das viele Geld geärgert, das ihre Klienten ohne jede CR-Strategie für karitative Aktionen verpulverten. „Es ging nur darum, dass der Chef in der Zeitung beim Händeschütteln und Schecküberreichen gezeigt wird“, erzählt die Amerikanerin.
So haben sie alle ihre Motive: Die Australierin Ursula Wynhoven, Projektmanagerin und Assistentin von Kell, war frustriert, weil sie als Anwältin für Menschenrechte immer nur dem Übel hinterher war, ohne es zu kurieren.
Pressesprecher Matthias Stausberg kam 2001 aus Berlin, weil er nach drei Jahren New-Economy-Wahn bei der Multimediaagentur Pixelpark wieder „etwas Sinnhaftes“ tun wollte.
Olajobi Makinwa aus Nigeria, die sich beim Global Compact von New York aus um die Zusammenarbeit mit NGO in aller Welt kümmert, leitete früher Amnesty International in Südafrika und beriet die WHO, bevor sie zu Kells Team stieß. Sie sagt: „Wenn mich Freunde fragen, was mein Job ist, antworte ich: Ich arbeite für eine Organisation, die versucht, die Welt besser zu machen.“
So sieht das auch Jorge de Cardenas, der die Mitgliederdatenbank pflegt. Während seine Kommilitonen nach dem Universitätsabschluss in die Welthauptstadt des Kapitals gingen, um als Investmentbanker das schnelle Geld zu machen, packte der heute 27-jährige Mexikaner in Miami seine Sachen und gab sich in New York drei Monate Zeit, um einen Job bei den UN zu ergattern – im dritten Monat klappte es. „Geld ist nicht das Wichtigste im Leben“, sagt er, „es geht um Bedeutung.“
Die Bedeutung ihres täglichen Tuns ziehen sie alle aus den vielen kleinen Schritten: Kernstück des Global Compact ist das Berichtswesen. Alle Mitglieder verpflichten sich, regelmäßig ihre Fortschritte beim Thema CR zu beschreiben. Communication on Progress, kurz COP, nennen das die Mitarbeiter im Global-Compact-Büro. Was wurde unternommen? Mit welchen Ergebnissen? Was sind die nächsten Ziele? Auf der Website der Initiative sind alle Berichte der Unternehmen einsehbar.
Eine wichtige Rolle spielen die lokalen Netzwerke, in denen sich Unternehmen und NGO austauschen. Das deutsche Netzwerk etwa hat rund 130 Mitglieder und wird von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit koordiniert, im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Einmal im Jahr treffen sich die Länderorganisationen auch auf internationaler Ebene. Daneben gibt es Foren, Seminare, Sachgespräche, Workshops und Konferenzen zu allen CR-Themen, mal in Addis Abeba, Peking und Athen, mal in San Francisco oder Bonn. Und alle drei Jahre steht der Global Compact Leaders Summit an. Zuletzt trafen sich 2007 in Genf mehr als 1000 Manager, Politiker, Wissenschaftler und NGO-Vertreter aus 90 Nationen.
Allmählich entwickelt sich der Global Compact zu einer regelrechten CR-Lawine. Dutzende Broschüren werden jedes Jahr von New York aus produziert: Ratgeber für Partnerschaften mit NGO und den Vereinten Nationen, Tipps zum Schreiben der Fortschrittsberichte, Strategien zur Integration der zehn Prinzipien in das Kerngeschäft. 2006 haben die Global-Compact-Leute an der Wall Street die Principles for Responsible Investment (PRI) vorgestellt, einen Grundsatzkatalog für verantwortungsbewusste Investitionen. Fonds und Banken mit einem verwalteten Vermögen von mehr als 14 Billionen US-Dollar haben sich diesen Prinzipien mittlerweile freiwillig verpflichtet. Einen ähnlichen Standard sollen die 2007 festgeschriebenen Principles for Responsible Management Education (PRME) bei der Ausbildung setzen, damit die nächste Managergeneration Umweltschutz und Menschenrechte beim Streben nach Rendite erst gar nicht vergisst. Rund 150 Universitäten und private Wirtschaftsschulen sind der Initiative schon beigetreten und wollen die Prinzipien in ihr Curriculum einarbeiten, in Europa zum Beispiel die London Business School, IESE in Madrid, Bocconi in Mailand oder die European Business School in Oestrich-Winkel. Auch an der Ausarbeitung der Corporate-Responsibility-ISO-Norm 26000 arbeiten Georg Kells Leute mit.
Bei so viel Bewegung kann es sich der Global Compact leisten, auf Stillstand seiner Mitglieder zu reagieren: Seit 2005 werden inaktive Mitglieder rausgeschmissen, um den Pakt vor Trittbrettfahrern zu bewahren. Knapp 650 Unternehmen sind schon aus der Datenbank entfernt worden und mehr als 300 weiteren droht der Ausschluss, weil sie keine Fortschrittsberichte einsandten. Wer als Neumitglied in den ersten beiden Jahren keinen COP liefert oder nach der Abgabe eines COP ein Jahr pausiert, wird auf der Internetseite der Initiative gekennzeichnet: Ein gelbes Warndreieck mit darin enthaltenem Ausrufezeichen markiert das Unternehmen als „nicht kommunizierend“. Ein weiteres Jahr ohne Fortschrittsbericht, und das Warndreieck wird rot: Es zeigt die Firma nun als „inaktiv“ an. Verstreicht erneut ein Jahr ohne Taten, erlischt die Mitgliedschaft. Eine Liste der entfernten Firmen hat der Global Compact Anfang 2008 zum ersten Mal veröffentlicht – für die Betroffenen nicht sehr schmeichelhaft – und mit einer Presseerklärung explizit darauf hingewiesen. „Wir sind keine Prädikatsplattform, die Firmen fünf Sterne gibt“, sagt Kell und unterstreicht, dass das UN-Logo keinen Schutz vor Kritik bedeutet.
Noch keine messbaren Ergebnisse – aber deutlich spürbare Veränderungen
Ob Farbcodes für die Bewertung unternehmerischer Verantwortung ausreichen, ist Ansichtssache und Teil des Dilemmas, das sich im Falle des Öl-Konzerns PetroChina deutlich zeigt: Solange das Unternehmen Berichte über CR-Fortschritte einsendet, muss es trotz seines Engagements im Sudan keine Sanktionen des Global Compact befürchten. Dieser Zwiespalt wird verstärkt durch die Frage, was der Pakt bisher eigentlich bewirkt hat. Was nützen die Fortschrittsberichte? Lesen Analysten und Journalisten sie? Nehmen NGO die Schilderungen der Unternehmen zum Anlass, hinter die Fassade aus schönen Worten zu schauen? Nimmt die Zivilgesellschaft ihre Rolle als Watchdog wahr? Genau das will der Global Compact nun durch ein partnerschaftliches Projekt mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG herausfinden, um das Berichtswesen zu verbessern und die Arbeit messbar zu machen. Dazu wurden die Rezipienten der COP-Berichte befragt – die Ergebnisse stehen noch aus. Doch die Anforderungen an die Global-Compact-Mitglieder dürften weiter steigen. „Wir werden sehr wahrscheinlich Minimalanforderungen für die Inhalte jedes Fortschrittsberichtes definieren“, sagt der Schweizer Oliver Johner, der im New Yorker Büro für die COP zuständig ist. „Es geht darum, unsere Glaubwürdigkeit zu stärken.“
Georg Kell zieht für die Arbeit des Global Compact derweil eine ganz persönliche Zwischenbilanz: „CR ist heute unternehmerischer Mainstream, selbst in Entwicklungsländern“, sagt er. „Vor zehn Jahren hat man uns noch für verrückt erklärt. Die vorherrschende Meinung war: Unternehmen sollen ihre Aktionäre happy machen, Menschenrechte sind Sache der Regierungen.“ Inzwischen gebe es knallharte wirtschaftliche Gründe, verantwortungsbewusst zu wirtschaften, allein schon, weil die Finanzmärkte die Sauberkeit von Unternehmen im Blick hätten. „Neu ist auch, dass NGO und Wirtschaft miteinander reden. Zusammenarbeit bringt mehr als Konfrontation.“
Es scheint, dass viele Unternehmen infolge ihres Beitritts zum Global Compact ihre Strategie überarbeitet und interne CR-Kodizes eingeführt haben, heißt es in einer Analyse der Universität Halle. Gerade Unternehmen derselben Branche kommen in einer Welt, in der Benchmarking alles ist, so unter Zugzwang. Wenn der Pharmakonzern Novartis an allen Standorten die Lebenshaltungskosten ermittelt und die Löhne der Arbeiter über das Existenzminimum hebt, dann ist das ohne jeden Zweifel eine Verbesserung. Wenn die Beratungsfirma Deloitte in Südafrika die Zahl ihrer farbigen Angestellten von 30 auf 50 Prozent erhöht, wie in den vergangenen Jahren geschehen, ist das ein bezifferbarer Fortschritt.
Es gibt daneben aber auch Baumpflanzaktionen in Moldawien, ein Panda-Zuchtprogramm im Pekinger Zoo, ein Projekt zum Schutz von Kranichen sowie Möbelspenden für eine Mädchenschule in Nigeria. Noch steckt in den COP-Berichten ein buntes Sammelsurium aus philanthropischen und karitativen Aktionen, deren Bedeutung gegenüber der wirklichen Kern-CR abfällt.
Georg Kell sieht darüber milde hinweg. „Das Verständnis für verantwortungsbewusstes Unternehmertum steht noch am Anfang seiner Entwicklung. Es geht jetzt erst richtig los.“ Er liefert auch gleich zwei Beispiele, wie der Global Compact echten Wandel anschiebt. Da sei zum einen Neville Isdell, Konzernchef von Coca-Cola. „Isdell ist der typische Top-down-Fall“, sagt Kell. „Er war begeistert von unserer Arbeit, stellte das Thema CR auf die Agenda, überzeugte seine Vorstandskollegen und sorgte dafür, dass es über Arbeitsgruppen und Komitees in alle Bereiche des Unternehmens Eingang findet: Zulieferbeziehungen, Marketing, Investor Relations und so weiter.“
Umgekehrt, bottom-up, sei der Fortschritt bei Dow Chemical gelaufen. „Regionale Manager des Chemieunternehmens in Asien und Lateinamerika waren dort in lokalen Netzwerken aktiv und machten sich in der US-Konzernzentrale für den Global Compact stark. Nachdem sich das Hauptquartier zunächst lange zierte, trat Dow Chemical schließlich 2007 bei und ist heute ein engagiertes Mitglied unserer Initiative.“
Dass längst nicht alles rosig ist, weiß Kell. Mehr als 20 Prozent der Mitglieder sind stumm oder inaktiv. In Asien, Afrika und dem Mittleren Osten, also gerade in Regionen, wo es mit Blick auf unternehmerische Verantwortung viel zu tun gibt, schweigt sogar fast die Hälfte. Die USA hinken mit ihrer Mitgliederzahl im Vergleich zu Lateinamerika und Europa noch hinterher. Aus Angst, dass ein Beitritt zum Global Compact juristische Folgen haben könnte, sind dort erst rund 170 Firmen dabei. Nur 38 Prozent aller Global-Compact-Mitglieder überwachen nach eigenen Aussagen die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Prinzipien bei ihren Zulieferern. Und auch bei den Auslandsfilialen gibt es viel zu tun. Kell: „Ich bin manchmal extrem frustriert, wenn sich Konzerne in ihrer Zentrale mit sozialer Verantwortlichkeit schmücken, der Manager der ausländischen Tochterfirma von unseren Prinzipien aber noch nie etwas gehört hat. Oder schlimmer noch: wenn er dazu angehalten wird, die Prinzipien zu ignorieren.“
Kell weiß, die Initiative hat noch einen weiten Weg vor sich. Von den geschätzten 78 000 transnationalen Unternehmen hat er auf seiner Tour durch die Welt erst knapp drei Prozent eingesammelt. Und die rund 150 Universitäten, die sich bisher den Prinzipien für verantwortungsvolle Managementausbildung verpflichtet haben, nehmen sich angesichts der insgesamt etwa 8000 Wirtschaftsschulen rund um den Globus auch noch recht bescheiden aus.
Überhaupt können Zahlen entmutigen: Mehr als 250 Millionen Kinder werden täglich zur Arbeit gezwungen. 1,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Fast jeder sechste Mensch gilt als extrem arm und muss mit weniger als einem Dollar am Tag sein Überleben sichern. In mehr als 70 Ländern der Welt grassiert zügellose Korruption.
„Die Globalisierung bleibt ein brüchiger Prozess. Es wird immer einen krassen Widerspruch zwischen Arm und Reich geben“, sagt Georg Kell und blickt nachdenklich auf die große Weltkarte an seiner Bürowand. „Die Welt ist leider sehr unperfekt.“
Seinen ewigen Kritikern, die nach Regularien und Sanktionen schreien, sagt Kell ruhig: „Ja, gern. Dagegen habe ich nichts. Es wird diese Normen so schnell aber nicht geben.“ 2003 gab es einen Versuch, der im Sande verlief. Eine UN-Arbeitsgruppe entwarf verbindliche „Normen für die Verantwortlichkeit von transnationalen Unternehmen und anderen Wirtschaftsunternehmen im Hinblick auf Menschenrechte“. Sie erlangten nie Rechtskraft – zu massiv war der Widerstand von Wirtschaftsverbänden, zu uneinig waren sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen.
Zwar haben sich die G8-Staaten in ihrer Abschlusserklärung von Heiligendamm im Juni 2007 ausdrücklich hinter den Global Compact gestellt und seine Bedeutung im Bereich sozialer Verantwortung hervorgehoben. Zu mehr lassen sich die Regierungen aber wohl nicht bewegen. Kell lässt sich davon nicht entmutigen. „Die Versäumnisse der Politik können wir nicht ausbügeln. Und die Zeit, darauf zu warten, bis Regierungen ihren Job richtig machen, haben wir auch nicht.“
Es ist Zeit, weiterzumachen. Er hat jetzt genug geredet. Kell ist überzeugt, dass bei der Verrechnung von Soll und Haben seiner Arbeit unterm Strich etwas übrig bleibt. Und er glaubt an das Gute. Denn so viel ist sicher: Ohne den Global Compact wäre die Welt noch unperfekter.
Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.