BRANDmate / Nerds, Marken und Kulturen

Toan Nguyen, Gründer von Jung von Matt Nerd, über Nerds als Rockstars, Subkulturen als Massenunterhaltung und wann eins plus eins elf ist.



Toan 095


BRANDmate: Die Frage drängt sich auf: Sind Nerds nicht Idioten? Und ist Jung von Matt Nerd damit eine Agentur für Idioten?
Toan Nguyen: Ich glaube, der Nerd war nie ein Idiot, sondern eher ein Loser. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Mit dem Nerd wurde immer eine gewisse Form von Intelligenz assoziiert, er galt nicht als dumm, sondern als total uncool. Doch das hat sich geändert. Als ich die Firma gegründet habe, habe ich mich früh in den Namen verliebt, aber einige Kollegen hatten Bedenken. Also habe ich eine Marktforschung in Auftrag gegeben, um zu sehen, was der Begriff auslöst. Und das ist lustig: Er polarisiert. Viele finden ihn negativ, aber viele auch supercool, vor allem die Jüngeren. Je jünger du bist, desto cooler findest du ihn. Früher waren die Skater cool oder die Rapper, aber nicht die Leute aus der Informatik AG. Heute sind genau solche Nerds wie Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Elon Musk die neuen Rockstars.

Aber Nerds sind eine Minderheit, oder? Ist es eine Agentur für Minderheiten?
Definitiv nicht. Wenn wir von Nerds sprechen, sprechen wir von Fandom-Kulturen, also von Gaming, Fantasy, Superhelden, Science Fiction und so weiter. Damit sind wir eine Agentur der Masse: Fast 50 Prozent der 14- bis 55-Jährigen interessieren sich für Gaming, 42 Prozent für Fantasy und Science Fiction und 33 Prozent für Superhelden.

So wenig? Ich hätte gedacht, das sind mehr. Immerhin sind unter den zehn erfolgreichsten Filmen aller Zeiten vier Marvel-Filme.
Und 20 Prozent gucken Anime – jeder Fünfte. Die erfolgreichste Serie auf Netflix war vergangenes Jahr „Arcane“, eine auf dem Strategiespiel „League of Legends“ basierende Verfilmung im Anime-Stil. Die war in 50 Ländern auf Platz eins. Im ersten Augenblick denkst du: ein Nischenprodukt im Stil eines anderen Nische-Genres – aber das sind keine Nischen mehr. Und das Krasseste ist, diese Fan-Kulturen stehen nicht nebeneinander, sie sind miteinander verbunden. Das ist auch klar. Wenn du eSports-Fan bist, magst du auch Gaming. Bist du Gamer, ist es nicht weit bis Fantasy oder Science Fiction. Und wenn du Superhelden magst, sind Anime oder Games recht nah. Ich habe das analysiert und festgestellt: Die Korrelationen zwischen den Subkulturen liegen zwischen 40 und 65 Prozent. Das sind keine Nischen – das ist eine Superkultur!

Toan 302
Toan 236
Toan 285

Drei Design-Ikonen: die limitierte Skulptur „Years Adrift Ephemera“ des Künstler-Duos Mark Landwehr und Sven Waschk (die gemeinsam unter dem Namen Coarse auftreten); Toan „Nerd“ Nguyen und das Gaming Headset für Kitty-Fans von Razer, dem Apple für Gamer.

Ich war auch ein Nerd …
Einmal Nerd, immer Nerd.

Okay, ich bin ein Nerd. Und wir Nerds waren immer Spezialisten. Wer uns ansprechen wollte, musste wissen, wovon er redet, sonst fiel sofort die Klappe. Mit Nerds aus anderen Feldern hatten wir nichts zu tun.
Da bist du aber eher die Ausnahme. Die Veranstaltungen, bei denen sich Nerds treffen, sind in der Regel Hybrid-Events. Comic Conventions zum Beispiel versammeln Comic-, Science-Fiction-, Fantasy- und Manga-Fans – alle in einem Raum. Da entstehen natürlich Verbindungen. Das gibt es auch woanders, bei Hockey und Tennis beispielsweise. Das sind immer die gleichen Clubs, der Hockeyplatz ist immer neben dem Tennisplatz. Wozu führt das? Die gleichen Schuhe, die gleichen Kinos, die gleichen Poloshirts, die gleichen Feiern und die gleichen Töchter mit den gleichen Jungs.

Das ist eine Kultur.
Genau, das ist eine Kultur. Kulturelle Milieus mit kulturellen Normen. Und worum geht es da? Wie du richtig sagst: um das Auskennen. Es geht um explizites und implizites Wissen, um die richtigen Leute, die Sachen intuitiv wissen. Wir waren zu unserem Agentur-Geburtstag Lasertag spielen, und es war bald klar, dass die meisten das nicht zum ersten Mal machten. Die wussten, wie man läuft, wie man die Pistole hält, wie man springt. Teils aus dem Spielen selbst, teils aus Action-Filmen. Das ist implizites Wissen, Sozialisierung! Nerds merken, wenn andere ebenfalls Nerds sind. Aber wenn du nicht Teil der Kultur bist, kannst du nicht mitreden. Und das ist die Daseinsberechtigung unserer Firma.

Was heißt das konkret? Du brauchst Leute, die ebenfalls Nerds sind, weil nur die sich gut auskennen?
Nicht nur das. Viele von uns teilen das Schicksal, dass wir in unserer Jugend nicht immer zu den Besten oder den Coolsten gehört haben – und das eint uns, das schafft ein Gefühl der Verbundenheit. Als wir Mercedes-Benz in die eSports brachten, war die Frage: Was passiert dann? Wenn im Fußball ein neuer Sponsor kommt, sagen die Fans: Ihr interessiert euch doch gar nicht für Fußball. Aber die Nerds sehen das anders, sie sagen: Hey, wie cool ist das! Weil es ihnen das Image der Außenseiter nimmt. Mercedes war der erste globale Sponsor von eSports. Da hast du gemerkt, dass die Marke verstanden hat, was gerade Zeitgeist ist, und sich um die jungen Leute ernsthaft bemühte. 


Einmal Nerd, immer Nerd.

Toan 314

Nintendo-Pilz zur Kooperation von Nintendo und Haribo.

Wie vermittelt ihr das euren Kunden? Bei Mercedes- Benz sitzen ja keine Nerds in den Entscheider-Etagen.
Doch, die Nerds kommen langsam in Führungspositionen, die sind jetzt alle in dem Alter. Ich habe auf einer Konferenz bei Unilever vor 700 Leuten gesprochen, über genau unser Thema – hier, aus diesem Raum. Und nebenbei habe ich den Chat gesehen. Die sind ausgerastet! Die haben Memes und GIFs gepostet, von Dragonball und so!
Ich kann dir eine Statistik zeigen vom ersten Post zur Super- Mario-Edition von Haribo. Ein großes Ding, millionenfach verkauft. Der erste Post wurde damals 53 000-mal geklickt. Und du siehst, von welchen Absendern die Klicks kommen, also wo sie arbeiten. Auf Platz 1: Google, Platz 2: McKinsey, Platz 3: SAP, Platz 4: Price Waterhouse Coopers, Platz 5: Amazon.

Das ist wirklich erstaunlich.
Nein, eigentlich nicht. Denn für viele Bereiche im eSports oder Gaming musst du gewisse kognitive Fähigkeiten mitbringen. Das ist nicht einfach! Die sind schlau! Deswegen ist die zweitgrößte Gruppe McKinsey. Man muss sich von dem Glauben lösen, dass Nerds nicht rausgehen. Die sind inzwischen überall – und mittlerweile eben auch Entscheider. Aber zu deiner Frage: Wir sind Übersetzer von Kulturen. Wir bringen ein großes Einfühlungsvermögen mit für unterschiedliche Kulturen und unterschiedliche Bedürfnisse und synchronisieren sie mit Marken- und Unternehmenszielen. 

Einiges liegt auf den zweiten Blick auch nahe, Haribo und Super Mario zum Beispiel. Aber anderes scheint total abwegig, etwa X-Box und Otto. Ihr habt vor dem Start der neuen X-Box an drei Nutzer Plätze für einen Launch-Event verlost, und anstatt eine Übergabe zu machen, mit rotem Teppich und so weiter, habt ihr sie in einen Live-Action-Event geholt, mit Riesenaufwand: Schauspieler als Figuren aus bekannten Games, Stunts, und sie mussten auch selbst aktiv werden. Ich habe das 15-Minuten-Video gesehen und dachte: Das hätte ich auch gern gewonnen. Aber für eine Firma wie Otto ist das eigentlich nicht naheliegend.
Und das war nur die abgespeckte Variante wegen Corona, ursprünglich war unter anderem ein Helikopterflug geplant. Aber es ist ein gutes Beispiel. Otto war Top-Vertriebspartner von X-Box und wollte die Rolle mit etwas untermauern, das aus der Kultur kommt. Da geht es um Kleinigkeiten, wir haben etwa den reichweitenstärksten und beliebtesten Cosplayer ­gebucht, den Kostümbildner der Szene quasi. Diese Wahl war schon entscheidend – auch für Microsoft selbst! Und dann zählen natürlich die Spiele und Charaktere, die du auswählst. Wenn du Gamer bist, erkennst du die Referenzen sofort. 
Eine Marke, die in den Bereich will, muss die Kultur wertschätzen. Und dann ist die Frage: Wer ist dein Entree? Das brauchst du für die Glaubwürdigkeit – jemanden, der da mitmacht und damit quasi für dich bürgt. Das gibt es auch woanders im Business. Ich brauchte jemanden, der für mich bürgt, damit ich mit Nintendo Japan sprechen durfte. In der japanischen Hierarchie kannst du nicht einfach als Geschäftsführer einer deutschen Agentur irgendwo hingehen – jemand, den sie dort kennen, muss ihnen sagen, dass du ihnen weiterhelfen kannst.

Hast du noch ein Beispiel für so eine Partnerschaft?
Nehmen wir McDonald’s. Die wollten wieder in die Pop- und Jugendkultur und deshalb mit Fußball, DFB und den Einlaufkindern aufhören. Die wollten eine jüngere Sportart und haben sich Beachvolleyball angeschaut. 

Beachvolleyball? Da isst doch niemand McDonald’s-Burger. Die schlechteste Idee der Welt.
Genau, wirklich die schlechteste Idee der Welt. Wir haben ­gesagt, dass nur Sportarten infrage kommen, in denen es cool ist, weite T-Shirts zu tragen, und haben stattdessen Gaming, Skating und Streetball vorgeschlagen. Dafür brauchten sie im Bereich Streetwear ein Entree. Ich habe Snipes vorgeschlagen, einen der größten Fashion Retailer. Snipes hatte uns zu der Zeit ebenfalls angesprochen. Sie hatten das Thema Subkultur sehr lange gut gespielt, aber sie wollten mehr in den Mainstream, mehr Reichweite. Da hatten wir die perfekten Partner. Und ihre gemeinsame Jacke war in 20 Minuten ausverkauft.


Frag nicht, ob es zu nerdig ist – frag, ob es nerdig genug ist.

Toan 265
Toan 310

Links: Die Jacke ist das Ergebnis einer Kooperation von Snipes und McDonald’s, sie war in 20 Minuten ausverkauft.
Rechts: limitierte Basquiat-Boards aus einer Charity-Auktion.

Und was macht ihr, wenn ihr die Partner zusammengebracht habt? Habt ihr euch zum Beispiel um das Design dieser Jacke gekümmert?
Nein, wir vermitteln den Partnern nur, worauf sie achten müssen, damit es funktioniert. Ein Beispiel: Haribo war klar, dass sie nicht irgendwelche Standard-Formen in die Super-Mario-Edition stecken konnten, und wollten deshalb Mario und Yoshi reintun. Aber das geht nicht, weil du Yoshi nicht den Kopf abbeißen darfst. Deshalb haben wir am Ende die Bonus-Items genommen. So etwas zu sehen und zu vermitteln ist unser Job. Wir kuratieren in gewisser Weise Popkultur.

Kuratieren scheint mir ein recht hoher Anspruch.
Die Aufgabe des Kurators ist, die richtigen Partner in der richtigen Stimmung am richtigen Ort zusammenzubringen. Du musst die richtigen Leute mit den richtigen Marken verbinden. Haben sie interessante Gemeinsamkeiten? Oder einen reziproken Effekt – gleichen sie einander ihre Schwäche aus? Bei Mercedes-Benz und eSports war es damals klar: eSports brauchte Seriosität und Mercedes-Benz die junge Zielgruppe. Die Schwächen neutralisieren sich, und die Stärken werden geteilt. In der Gesamtheit ist das ganz schön, würde ich sagen. Da ist eins plus eins nicht drei, sondern elf.
Und du wärst erstaunt, wenn du sehen würdest, wie viel Respekt die Partner voreinander haben. Manche haben sich früher nicht einmal getraut, das neue Gegenüber selbst zu kontaktieren. Oft beruht das auch auf Gegenseitigkeit. Die Automarken sehen auf die großen Entertainment-Konzerne und denken: Weltkonzerne! Blockbuster! Superstars! Und bei den Entertainment-Konzernen denken sie umgekehrt: Alte Ingenieurskunst! Premium! Dax! Ich hatte schon viele Meetings, wo die erste halbe Stunde darauf verwendet wurde, dem Gegenüber erst einmal zu zeigen, dass man auch was auf dem Kasten hat.

Du sprichst viel von jungen Zielgruppen und jungen Kulturen – was ist mit den Älteren?
Ich würde sagen, wir sind altersneutral. Anime-Fans sind Millennials, die sind mit „Pokemon“ und „Digimon“ aufgewachsen, „Sailor Moon“ und den „Kickers“. Bei Fantasy und -Science Fiction sind wir plus 40. „Star Trek“ sind die Ältesten, dann kommt „Star Wars“. Bei Fantasy liegen wir mit „Game of Thrones“ über allen Alterskategorien, genau wie mit „Harry Potter“. Harry Potter und Mario sind auch die stärksten Franchises in Deutschland, weil sie für alle Generationen -gehen. Gaming ist ebenfalls generationsübergreifend, aber da kommt es auf das Spiel an: „Activision Blizzard“ ist Ende 30, „Counter Strike“ 30+, „League of Legends“ 20+. „Fortnite“ ist jung. Aber Gaming ist eben Gaming, da reicht eine Schublade nicht. Das ist so groß!

Okay, und was ist mit 50+? Gibt es da auch solche kulturellen Anknüpfungspunkte?
Eine schöne Anekdote – nicht von uns, aber mit einer Firma, für die ich eine hohe Wertschätzung habe: Gustavo Gusto. Die machen Tiefkühlpizza in Übergröße! Da brauchst du viel Platz im Kühlregal, weshalb sie Probleme hatten, bei Rewe und Edeka reinzukommen. Was haben sie gemacht? Eine Bud-Spencer- und Terence-Hill-Pizza rausgebracht, um die Marktleiter zu begeistern. Und die haben sie geliebt, weil sie die aus ihrer Jugend kannten. Gustavo Gusto hat dann verschiedene Motive produziert, und die Marktleiter waren solche Fans, dass sie sie sogar nebeneinander in die Truhen gelegt haben. Das kriegt nicht mal Dr. Oetker!

So etwas könnte man auch mit anderen Ikonen von früher machen, „Sex and the City“ zum Beispiel oder „Ally McBeal“.
Oder „Friends“. Das hat ein Mega-Potenzial bei den 40- bis 50-Jährigen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass du Leute mit „Emergency Room“ erreichen könntest.

Klingt nerdig.
Eine ganz wichtige Regel lautet: Frag nicht, ob es zu nerdig ist – frag, ob es nerdig genug ist. //

Toan Nguyen begann als Praktikant bei Jung von Matt, wurde mit 28 der jüngste Strategie-Direktor in der Geschichte des Unternehmens, zwei Jahre später der jüngste Partner bei Jung von Matt SPORTS und gründete im Dezember 2019 seine eigene Agentur: Jung von Matt Nerd, die auf die Beratung bei popkulturellen Partnerschaften spezialisiert ist. Er war Teil von „Junge Elite: Top 40 unter 40“ des Magazins Capital und W&Vs „Top 100 Köpfe“ (beide 2020) sowie „Top 100 Designer, Denker & Disrupter“ der Textilwirtschaft (2019).


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.