Senckenberg Museum für Naturkunde

Das Naturkundemuseum in Görlitz ist das wichtigste Institut für Bodenbiologie in Europa. Ein Gespräch mit seinem Leiter Willi Xylander über die Billionen von Lebewesen unter unseren Füßen, von denen wir nichts ahnen, und ihren Wert in Euro.





Willi Xylander wirkt heiter, entspannt, enorm zufrieden. Er lächelt auf jene besondere Art, wie es Menschen tun, die mit sich und ihrer Tätigkeit im Reinen sind. Zwei Wochen vor dem Interview, erzählt der Biologe, sei er auf einer Sammelexpedition in Mexiko gewesen, wo er sich einen Parasiten eingefangen habe. Das sei nicht schlimm gewesen, sagt er, aber er habe ihn per Ultraschall fotografieren lassen, und es habe sich herausgestellt, dass es ein ungewöhnliches Exemplar war. Nun schreiben ein Kollege und er einen Aufsatz über den ungebetenen Gast. Xylander strahlt. Der 60-Jährige ist Direktor des Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz, Professor für Spezielle Zoologie an der Universität Leipzig und Geschäftsführer der Deutschen Naturwissenschaftlichen Forschungssammlungen – aber vor allem ist der gebürtige Hagener ein Überzeugungstäter. Und wohl auch deshalb der wichtigste Mann Deutschlands, wenn es um Bodenbiologie geht. Was das ist? Gute Frage!

 

Als ich in meinem Freundeskreis erzählte, dass ich einen Bodenbiologen treffe, habe ich nur leere Blicke geerntet. Keiner wusste mit dem Begriff etwas anzufangen.

Das ist normal: Niemand würde leben ohne die Bodenbiologie, aber keiner kennt sie.

Als ich dann ein bisschen darüber gelesen habe, stellte ich fest, dass Bodenbiologie ein sehr spezieller Bereich ist. Wie erklären Sie jemandem, der keine Ahnung hat, worum es in Ihrem Fachgebiet geht?

Zuerst einmal: Die Bodenbiologie ist kein spezieller Bereich. Im Gegenteil: Sie ist ein universelles Phänomen. Fast alle Ökosysteme an Land basieren auf Recycling-Systemen, die Totes verarbeiten, damit daraus neues Leben entstehen kann – und die laufen ganz überwiegend im Boden ab. Wir erforschen hier in Görlitz die biologische Vielfalt im Boden, den Ablauf der dort stattfindenden Prozesse und die Wirkung, die anthropogene, also von Menschen erzeugte Einflüsse auf sie haben.

Görlitz ist das deutsche Zentrum der Bodenzoologie: ein Randgebiet der Wissenschaft am Rande Deutschlands? Nein, im Ernst, warum Görlitz?

Das hat historische Gründe. Mein Vorgänger Wolfram Dunger war eine Koryphäe unseres Fachs. Er kam 1959 nach Görlitz, um bodenzoologisch zu forschen. Das ist ihm auch gelungen. Bis heute gibt es in Europa kein anderes Museum mit einer so umfangreichen Sammlung. Sie umfasst gut sechseinhalb Millionen Objekte aus den Bereichen Bodenzoologie, Zoologie, Paläozoologie, Geologie, Botanik, Gewebe und DNA. Das ist nicht zuletzt ein Grund, weshalb wir als Forschungseinrichtung von nationaler Bedeutung eingestuft und 2009 in die Senkenberg Gesellschaft aufgenommen wurden.

Wenn der Bereich so wichtig ist, drängt sich die Frage auf, wieso ihn keiner kennt und sich kaum einer damit beschäftigt.

An den Universitäten spielt die Bodenbiologie eine sehr kleine Rolle. Und wenn ein Fachgebiet nicht vertreten wird, ist die akademische Wahrnehmung gering. Das ist das eine Problem. Hinzu kommt, dass die Bodenbiologie ein sehr kompliziertes Arbeitsgebiet ist. In Deutschland sind etwa 5000 bis 7000 Bodentier- Arten bekannt, die sich in Größenklassen und funktionelle Gilden aufteilen. Die allermeisten sind sehr klein, oft kleiner als ein Millimeter, was die Artenbestimmung erschwert – nur wenige Spezialisten können diese Vielfalt erkennen. Und schließlich erreichen Bodenorganismen unvorstellbare Zahlen. Wenn Sie auf einer Wiese stehen, befinden sich in dem Kubikmeter Boden unter Ihnen etwa 100 Milliarden Lebewesen – und da sind Bakterien noch nicht mitgezählt.

Die Bodenbiologie ist also essenziell, aber eben auch schwierig, artenreich, klein und unspektakulär. Und wenn Sie schauen, was uns Schule und Medien als wichtig vermitteln, stellen Sie fest, dass es oft das ist, was die Menschen anspricht und gut verkäuflich ist.

So langsam setzt sich allerdings der Gedanke durch, dass Boden ein wertvolles Gut ist, das wir nicht als gegeben voraussetzen können. Unsere Creepy Crawlies, die kleinen, gruseligen Krabbler, kommen gerade erst in Mode.

Das Naturkundemuseum in Görlitz beherbergt nicht nur ein riesiges bodenbiologisches Archiv, sondern auch eine kleine Ausstellung mit lebenden tropischen Fischen und Reptilien sowie eine Sammlung mit ausgestopften Tieren, die Kindern und anderen neugierigen Besuchern eine Idee von der Vielfalt der Welt geben.

Es gibt Anzeichen, dass das Interesse wächst?

In Görlitz zumindest hat die Zukunft schon begonnen. Seit zwei Jahren haben wir hier den Studiengang Biodiversity and Collection Management, in dem wir unter anderem die Taxonomie, Systematik und Ökologie von Bodentieren lehren. Und wir arbeiten auch sonst an der Popularisierung des Themas.

 

Der Erfolg des Instituts lässt sich mit unterschiedlichen Zahlen belegen. Willi Xylander zählt Stellen auf. Als er 1995 nach Görlitz kam, arbeiteten dort 17 Wissenschaftler, heute sind es 60. Insgesamt sind 135 Menschen an acht Standorten für sein Institut tätig. „Wir sind ein mittelständischer Arbeitgeber“, sagt Xylander, „und wir produzieren Forschung.“ Dann zählt er die Geldgeber auf, Bundesministerien, die EU und so weiter, es gibt auch einige Projekte mit der lokalen Wirtschaft. So ist das im Wissenschaftsbetrieb: Die Akkumulation der Mittel macht den Erfolg besser sichtbar als ihr oft nicht leicht zu durchschauender Zweck. Die wichtigste Zielgruppe für die Forschungsergebnisse des Instituts sei neben der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft die Legislative, erklärt Xylander: „Die Daten, die wir generieren, gehen in die Gesetzgebung ein, etwa in Normen für die nachhaltige Nutzung von Böden oder in Handreichungen für den ökologischen Landbau.“ Zudem sei es ihm wichtig, ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für den Wert des Bodens zu schaffen. Dazu dient etwa eine Wanderausstellung, die in den nächsten Jahren um die Welt ziehen soll, zurzeit aber noch in Görlitz steht. Sie ist ausgesprochen gelungen: Fiese Viecher, die in Wirklichkeit zum Glück keinen Millimeter lang sind, stehen neben Einführungen in komplizierte Kreisläufe und konkreten Handlungsvorschlägen für den Alltag. Eine schöne Sache. Einerseits.

 

Dass Wissenschaftler Politiker von ihrer Forschung überzeugen wollen, ist verständlich, schließlich werden sie von ihnen finanziert. Aber wieso brauchen normale Menschen ein größeres Bewusstsein für Bodenbiologie?

Nun ja, man kann Menschen für Themen sensibilisieren. Viele wissen inzwischen, dass man seinen Garten nicht so aufräumt, dass für Insekten oder Kleintiere kein Raum mehr ist, weil das dem ökologischen Gleichgewicht schadet – also schaffen sie ökologische Refugien. Bei Bodentieren ist das leider schlechter zu vermitteln. Wer mag schon Lebewesen, die aussehen wie Monster in einem Science-Fiction-Film? Aber ihr Wert ist unendlich groß. Übrigens auch ihr ökonomischer.

Aber der lässt sich wohl kaum berechnen, oder?

Wir arbeiten daran. Im Oktober ist unser zweiter internationaler Studiengang angelaufen: Biodiversity & Ecosystem Services. Da geht es um die Verbindung von biologischer Vielfalt und ihrer wirtschaftlich- gesellschaftlichen Bedeutung. Die Grundfragen dazu lauten: Welche Werte haben Leistungen, die die Natur erbringt, ohne dass wir etwas dafür tun müssen? Und wie monetarisiere ich diese Werte? Dafür muss ich wissen, was in der Natur existiert und wie Gemeinschaften funktionieren. Zugleich sollte ich aber auch den Wert dieser Dinge für den Menschen einschätzen können.
Da geht es um ein weites, spannendes Feld. Das reicht vom Tourismus, der von schöner, abwechslungsreicher Landschaft lebt, über die Nahrungsmittelproduktion bis zur Regulation des Klimas durch ökologische Systeme. Wir werden in Zukunft diese sogenannten ökosystemaren Leistungen bewerten müssen, nicht zuletzt, weil wir sie immer häufiger beeinträchtigen oder sogar zerstören. Und wer etwas zerstört, muss es nach dem Verursacherprinzip ersetzen. Doch wenn wir den Wert des Zerstörten nicht kennen, geht das nicht.

Solche Berechnungen sind vermutlich extrem komplex. Wo fängt man da an? Wie sähe das in Ihrem Fachgebiet aus?

Ein wichtiges Kriterium für die Qualität von Böden ist der Artenreichtum. In einem Waldboden finden wir einige Hundert bis Tausend Tierarten, ein konventioneller, stark genutzter Ackerboden dagegen beherbergt meist nur etwa 70 bis 100 Arten. Und für Böden gilt, was auch für Menschen oder die Wirtschaft gilt: Ein System ist umso stabiler, je mehr Teile ihm angehören, die bei Ausfällen einspringen können. Das haben in den vergangenen Jahren umfangreiche Studien belegt.

Könnte es irgendwann dazu kommen, dass der Wert eines Bodens an seinem Artenreichtum gemessen wird?

Ja, und das wäre sicherlich ein attraktives Arbeitsfeld für junge Bodenbiologen. Vorstellbar wäre zum Beispiel, die Artenzusammensetzung und deren Funktionen zu dokumentieren. Denn die können oft standortgenau Auskunft geben über die ökosystemare Pufferfähigkeit des Bodens bei anthropogenen Störungen und Eingriffen, also über seine Fähigkeit, sich auch unter schwierigen Bedingungen am Leben zu halten.

Angesichts der unterschiedlichen Formen von Landwirtschaft, von quasi industrieller Produktion auf gigantischen Flächen bis zum fast handgepflegten Demeter-Hof, kann man sich gut vorstellen, dass die verschiedenen Formen auch im Boden ihre Spuren hinterlassen. Und die Ökobauern würden sich vermutlich freuen, wenn sie beweisen könnten, dass ihre Böden besser und damit wertvoller sind. Klar, das ist alles noch Zukunftsmusik, aber mit Ihrem Studiengang betreten Sie doch ohnehin Neuland, oder?

Absolut. Über die Verbindung von Biodiversität und ökosystemare Leistungen wird zwar geforscht, aber es gibt dafür noch kaum akademische Studiengänge. Das ist wie in der Frühzeit der Autoindustrie: Man konnte Autos bauen, ohne dass ein Studiengang für Autobau existierte. Da wird sich in den kommenden Jahren sicherlich einiges entwickeln. Besonders bei uns in Görlitz: 2021 soll unser neuer Campus fertiggestellt sein. Dann werden wir hier rund 120 Studenten ausbilden. Zugleich werden wir das Institut zu einem Ort der Kommunikation ausbauen, mit internationalen Tagungen, Vorträgen, Ausstellungen und so weiter. Ich bin mir sicher: Die Bodenbiologie wird kommen!


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.