Nebelschütz

Die Einwohner des kleinen Dorfes Nebelschütz sind modern und bodenständig zugleich. Das hilft nicht nur gegen die Landflucht.





Die Fachwerkhäuser mit den gepflegten Gärten, der kleine Teich mit seinen Enten, die Obstbäume und die imposante Barockkirche auf dem kleinen Hügel wirken exakt so, wie sich ahnungslose Städter das Landleben vorstellen: beschaulich, etwas aus der Zeit gefallen und auf eine freundliche Weise sehr ruhig. Das ist Nebelschütz im östlichen Zipfel Sachsens, ein Idyll zwischen grünen Hügeln und Wäldern nahe der polnischen und der tschechischen Grenze. Schön ist es hier – aber alles andere als verschlafen. Um ihren Ort lebendig zu halten, haben die Nebelschützer viele Initiativen entwickelt, von der ökologischen Erneuerung über den Umbau einer Scheune zu Künstlerateliers bis zur Nutzung eines stillgelegten Steinbruchs, wo nun Kräuter gezüchtet werden und Bildhauer unter freiem Himmel an großen Skulpturen arbeiten.

Auch dank solcher Initiativen hat Nebelschütz die Umbrüche der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte wesentlich besser überstanden als viele andere Dörfer. Der Gemeinde gelingt es sogar, sich der verbreiteten Landflucht zu widersetzen. Während andernorts in dünn besiedelten Landstrichen Kindergärten und letzte Geschäfte schließen, Häuser leer stehen, die Jungen wegziehen und der soziale Zusammenhalt erodiert, haben die Nebelschützer mit Gemeinsinn und einer selbstbewussten Kombination aus Bodenständigkeit und Aufgeschlossenheit ihr Dorf weiterentwickelt. Das Problem sind nicht leer stehende Häuser, sondern dass es zu wenige Grundstücke gibt für junge Leute, die hier bauen wollen.

Verschiedenste Kleinbetriebe sorgen für Arbeitsplätze: die Polstermöbelreparatur Scholze, der IT-Dienstleister radyserb net solutions, der Töpferhof Wěteńca und eine Bau- und Möbeltischlerei. In den Gewerbegebieten des Dorfes sind unter anderem ein Logistik- und Recycling-Unternehmen sowie Firmen für Metallbearbeitung, Brandschutz und Containerbau ansässig. Die Arbeitslosenquote liegt mit rund drei Prozent deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Offenbar ist hier in den vergangenen 25 Jahren einiges richtig gemacht worden. Das bestätigen auch Auszeichnungen beim „Europäischen Dorferneuerungspreis“ oder dem bundesweiten Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“. Dessen Motto wird hier wirklich gelebt.

GUT FÜR DIE ZUKUNFT: HEIMAT

Einer, der seit vielen Jahren dafür sorgt, dass Nebelschütz ein lebendiges Dorf bleibt, ist der seit 1990 amtierende ehrenamtliche Bürgermeister Thomas Zschornak. Der 53-Jährige ist ein Anpacker, der ständig neue Ideen entwickelt, die er zäh und geduldig umsetzt. Er treibt die Entwicklung des Dorfes auch dadurch voran, dass er für seine Projekte immer wieder neue Mitstreiter findet. Schon in der Endphase der DDR hat er im Dorf mit Gleichgesinnten eine Bürgerinitiative gegründet. Und als er nach dem Mauerfall zum Bürgermeister gewählt wurde und die neuen Verwaltungsvorschriften büffeln musste, studierte der gelernte Installateur nach Feierabend in Bautzen Verwaltungswirtschaft. Heute arbeitet er hauptberuflich beim Kommunalverwaltungsverband, der neben Nebelschütz für vier weitere kleine Gemeinden zuständig ist.

Geht man mit Zschornak durch Nebelschütz, bleibt er alle paar Minuten stehen, um stolz zu erklären, was hier alles geschafft oder verhindert wurde. Verhindert haben Zschornak, der Gemeinderat und andere Mitstreiter zum Beispiel das schon genehmigte Projekt eines Unternehmens, das auf der Gemeindegemarkung eine riesige Mülldeponie mit bis zu 30 Meter hohen Abfallbergen errichten wollte. Gerettet haben sie das älteste Fachwerkhaus im Ort, das verfallen war und abgerissen werden sollte, dann aber von der Gemeinde für einen Euro gekauft und mit ABM-Kräften saniert wurde. Heute dient es als rustikale Selbstversorger-Herberge für Wanderer, die dem Pilgerpfad durch die Lausitz folgen.

Der Bürgermeister Thomas Zschornak ist die treibende Kraft im Ort. Hier sitzt er auf der Skulptur „Die Nebelschützerin“, die neben einer Herberge für Wanderer liegt.

Auch den Dorfladen gibt es nur dank Zschornak und der Gemeindeverwaltung. Die Eröffnung eines Lebensmittelgeschäftes zählt zwar nicht zu den Kernkompetenzen einer Gemeinde, doch von dem engen Regelwerk der kommunalen Pflichten lässt man sich hier nicht irritieren, wenn gute Gründe dagegen sprechen. „Wir sind nicht weit von der Stadt Kamenz entfernt, und natürlich gibt es überall große Supermärkte“, erklärt der Bürgermeister. „Aber wir wollten einen Dorfladen auch als Ort der Kommunikation und als Angebot für die Nahversorgung, vor allem für Ältere und Touristen. Außerdem wollten wir wissen, ob so ein Laden überhaupt eine Chance hat. Also haben wir in der Gemeinde einen Pächter gesucht, ihm die Räume zu sehr günstigen Konditionen verpachtet und ihm dabei geholfen, das Geschäft aufzubauen. Nun wollen wir den Laden mit mehr regionalen Produkten weiter ausbauen.“ Der Pächter betreibt nebenbei auch das Sportlerheim am Fußballplatz.

Der Laden, in dem einige Männer am frühen Abend gern ein Bier trinken, sorgt wie die kleine Gemeindebibliothek für Kinder und Jugendliche oder der gepflegte Fußballplatz für die wichtigsten Ressourcen, die so ein Dorf hat: sozialen Austausch, Begegnungen, das Gefühl, in einer Gemeinde zu leben, die man miteinander gestalten kann. „Sozialer Zusammenhalt braucht solche Orte“, findet Thomas Zschornak. „Der entsteht nicht von allein.“

Bei all den Initiativen, die sich der Bürgermeister und seine Mitstreiter ausdenken, geht es darum, den Bürgern Angebote für Engagement und zur Mitarbeit zu machen. Schließlich ist es ihr Dorf, und Gemeinsinn gedeiht nun mal am besten, wenn man etwas gemeinsam tut. Ein wichtiges Instrument dafür war ein Förderprogramm des Amtes für Ländliche Neuordnung, mit dem die Gemeinden Dorfentwicklungspläne erstellen sollten. Weil alle Bürger eingeladen waren, mitzudiskutieren, war der gemeinsame Prozess für Zschornak mindestens so wichtig wie das Ergebnis. „Unser Ziel war es, die Menschen zu fragen, was für ein Dorf sie wollen, und ein Gespräch darüber in Gang zu bringen“, sagt der Bürgermeister.

Thomas Zschornak ist Sorbe, wie die meisten Nebelschützer. Sorbisch ist zweite, vielleicht sogar erste Sprache im Ort. Auch das erklärt ein wenig seinen kämpferischen Lokalpatriotismus. Um Nebelschütz zu verstehen, findet er, muss man die Situation der Sorben kennen: Das kleine Volk wurde von den Deutschen lange diskriminiert und von den Nazis schikaniert, sorbische Politiker wurden sogar in Konzentrationslager verschleppt. Und in der DDR waren die Sorben eher geduldet als respektiert. Heute sprechen nur noch einige Tausend Menschen die Sprache. Für Zschornak geht es deshalb auch darum, das sorbische Selbstbewusstsein zu stärken. Die Arbeit für sein Dorf ist für ihn zugleich Arbeit an der sorbischen Identität.

SEHR GUT FÜR DIE ZUKUNFT: KINDER

Nebelschütz ist heute mit rund 1200 Einwohnern etwa so groß wie zur Zeit des Mauerfalls. Viele, die nach der Wende im Westen oder im boomenden Dresden ihr Glück gesucht haben, sind zurückgekommen und haben sich hier Häuser gebaut. Es gibt im Ort genug Arbeitsplätze und eine funktionierende Infrastruktur, sodass junge Familien nicht wegziehen müssen. So wurde in Nebelschütz vor ein paar Jahren mit viel Eigenleistung der Eltern eine neue Kindertagesstätte gebaut. Der alte Kindergarten war zu klein geworden – Nebelschütz liegt mit etwa drei Kindern pro Familie deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

Kinder bedeuten Zukunft. Damit beides, Kinder wie Zukunft, im Dorf bleiben, wurde ein neuer Kindergarten gebaut.
Vielleicht gibt es hier bald auch eine neue Schule.

Der ambitionierte Bau war ein weiteres dieser gemeinschafts- und identitätsstiftenden Projekte, die Zschornak liebt. Ein simpler Zweckbau wäre ihm entschieden zu wenig gewesen, sagt er. „Wir haben die Kinder gefragt, was sie sich wünschen, wir haben die Vereine gefragt und Diskussionsabende mit den Eltern veranstaltet“, erzählt der Bürgermeister. Die häufigsten Wünsche – kreativ, ökologisch, sorbisch – hat die Gemeinde in ihre bundesweite Ausschreibung gesetzt.

Möglich war der Bau auch, weil der Eigentümer das großzügige 4000-Quadratmeter-Grundstück im Ortskern zu einem sehr fairen Preis verkauft hat. Schließlich sollte der Kindergarten nicht irgendwo am Rand stehen, sondern im Herzen des Dorfes. Seit zwei Jahren treffen sich die kleinen Nebelschützer Kinder jetzt in einem ökologischen Musterbau mit viel Holz, Lehmwänden und Pflanzen auf den Dächern, der dank regenerativ erzeugter Energie vom Stromnetz unabhängig ist. Ein Haus wie ein optimistischer Blick in die Zukunft.

Dennoch war es nicht ganz einfach, den Neubau durchzusetzen, erzählt Mirko Domaschke, der Leiter des zuständigen Kommunalverwaltungsverbands „Am Klosterwasser“. Der übergeordneten Kommunalaufsicht wäre ein zentraler Kindergarten für mehrere kleine Gemeinden lieber gewesen. Aber „wir wollten, dass die Kinder in Nebelschütz bleiben können“, erklärt Domaschke. Wenn die Kleinen morgens in die nächste Gemeinde gefahren werden müssen, ziehen junge Familien eher ungern in ein Dorf. Außerdem sind Eltern automatisch im Austausch miteinander, wenn ihre Kinder gemeinsam aufwachsen – auch das ist gut für den Zusammenhalt im Ort.

Weil Kindergarten-Kinder irgendwann in die Schule kommen, überlegen die Nebelschützer derzeit, wie sie eine eigene Grundschule in freier Trägerschaft gründen können. Ihre alte Schule wurde 1991 geschlossen, weil die Geburtenzahlen nach der Wende stark zurückgegangen waren. Heute haben sie wieder Kinder, aber keine Schule mehr. Lukas Delenk, 38, Sozialpädagoge und im Gemeinderat für die Jugend zuständig, erklärt das Problem. „Der Freistaat Sachsen finanziert uns keine neue Grundschule, damit die Grundschulen in den umliegenden Gemeinden ausgelastet sind. Wir wissen natürlich, dass es nicht einfach ist, eine Schule in freier Trägerschaft zu gründen. Aber wir wollen es versuchen. Jetzt hoffen wir, dass wir unter den Kita-Eltern genug Mitstreiter dafür finden.“ Auch das gehört in seinen Augen zu der ganz praktischen Arbeit an der Zukunft des Dorfes.

HILFREICH FÜR DIE ZUKUNFT: STOLZ

Dass der Bürgermeister so stolz auf seinen Ort ist, hat auch damit zu tun, dass dessen Entwicklung alles andere als selbstverständlich war. Nach der Wende war Nebelschütz „ein graues Dorf ohne Gesicht und ohne eine Idee, wo es hinwill. Es war sehr verschlossen, die Außenwelt war weit weg“, erinnert sich Zschornak. In dieser Zeit verlor die Region außerdem viele Arbeitsplätze, weil die LPG-Großbetriebe von Agrar-Investoren übernommen und modernisiert wurden. Und natürlich ging es der Gemeindeverwaltung auch noch nicht um Gemeinsinn – sie hatte genug damit zu tun, für die Infrastruktur zu sorgen: Straßen, Abwasser, Telefon, Energie. Damals gründete die Stadt Wittichenau gemeinsam mit Nebelschütz und weiteren Gemeinden eine eigene Gesellschaft zur Versorgung mit Erdgas.

„Nach der Wende haben die Leute aufgehört, selber Kartoffeln oder Tomaten anzubauen, sie haben auch keine Hühner oder Enten mehr gehalten. Sie sind lieber zum Einkaufen in die Supermärkte gefahren – die Lebensmittel waren dort billig und schön verpackt“, erinnert sich der Bürgermeister. So wurden Dörfler zu Konsumenten. Viele Männer arbeiteten im Westen und pendelten. Das Dorfleben wurde trister. „Man hat in den Gärten selten Blumen gesehen, niemand wollte sich mit seinem Garten Arbeit machen“, sagt Zschornak. „Die Selbstversorgung und die damit verbundenen Tauschgeschäfte verschwanden.“

Michael Purschke glaubt an die Selbstversorgung und daran, dass sie künftig noch viel mehr Freunde finden wird.

Michael Purschke, 35, erinnert sich gut an die Tristesse. Er ist als Einzelhandelskaufmann in einem Baumarkt tätig, betreibt nebenher Landwirtschaft und führt den Dorfladen sowie das Sportlerheim am Fußballplatz. „Nach der Wende war erst mal Umbau angesagt“, erzählt er. „Alle Ställe sollten weg. Die Leute dachten, sie bräuchten keine Tiere mehr, das mache nur Arbeit. Die haben Partyräume in die Schweineställe gebaut. Heute wissen sie, wie viel Chemie im Industriefleisch ist, und stellen sich wieder einen Kaninchenstall hin oder nehmen ein paar Hühner in den Garten. Noch vor acht, neun Jahren hat kaum einer im Dorf Hühner gehabt. Die Kinder standen bei mir am Zaun, um sich mal eines anzuschauen. Erst die Generation nach der Wende hat das wieder entdeckt.“ Auf die Frage, ob er schon mal überlegt hat wegzugehen, schaut er, als hätte man ihn gefragt, ob er ab und zu auf den Händen läuft. „Das kam für mich nie infrage.“

Der Bürgermeister hält natürlich auch Tiere. Mit Freunden teilt er sich 30 Gänse, eine Kuh, Schweine, Schafe und Kaninchen. Als Nächstes wollen sie eine kleine Schlachterei für den Eigenbedarf einrichten. Um die Kultur der Selbstversorgung weiter voranzutreiben, hat die Gemeinde Land gekauft, auf dem sie in Kooperation mit der Sächsischen Landesstiftung Natur und Umwelt eine Streuobstwiese mit alten Obstsorten anlegt. Daraus soll ein Gemeingut entstehen, auf dem jeder Patenschaften für einzelne Bäume übernehmen kann. Und das wird wohl nur der Anfang sein.

Thomas Zschornak würde die lokalen Bioprodukte am liebsten selbst vermarkten, vielleicht unter dem Label „Krabat- Region“, das er sich eigentlich für den Tourismus ausgedacht hat. Otfried Preußlers Jugendbuch „Krabat“ ist schließlich weithin bekannt, und die sorbische Krabat-Sage hat ihren Ursprung in dieser Gegend. Ein Krabat-Bier gibt es schon. Nun sucht die Gemeinde weitere Akteure, die ihre landwirtschaftlichen Produkte zu Marmelade, Kräutersalz oder Brot veredeln – gern auch von außerhalb. „Menschen, die bei uns Manufakturen gründen wollen, werden wir unterstützen“, sagt der Bürgermeister. Und Impulse von außen, betont er, könnten beim Aufbau einer regionalen Ökonomie nur helfen.

NOTWENDIG FÜR DIE ZUKUNFT: GRÜNDER

Ignaz Wessela ist 22 Jahre alt und hat sich vor zwei Jahren als Biobauer selbstständig gemacht – ohne Eigenkapital und fast ohne eigenes Land. Für die Meisterschule als Agrarbetriebswirt pendelt er nach Bayern, parallel bewirtschaftet er 40 Hektar mit Ökolandbau: Getreide, Ackerbohnen, Körnermais. Sobald er das nötige Grünland pachten kann, will er Mutterkühe anschaffen. „Wiederkäuer gehören einfach zum Ökobetrieb“, sagt er.

Ignaz Wessela wollte schon immer Bauer werden. Als er so alt war wie sein Neffe Corla heute, fuhr er mit einem kleinen grünen Traktor herum und träumte davon, eines Tages einen großen grünen Traktor zu besitzen.
Den hat er nun, und so darf heute Corla auf dem kleinen von der Zukunft träumen.

Im ersten Jahr hatte er nur Kosten: Er verdient erst nach der Ernte, die Subventionen kommen noch später. Seine Tage bestehen aus Arbeit, Arbeit, Arbeit. Dafür zahlt er sich weniger Lohn, als in der Stadt ein Busfahrer oder eine Verkäuferin bekommt. Er steckt das Geld lieber in die Technik für den Hof. „Ich wusste immer, dass ich Landwirt werden will“, erzählt er. „Ich habe mit 18 Jahren angefangen, mich um Land und Pachtverträge zu bemühen, aber damals hatte ich keine Chance. Die Leute trauten mir nicht einmal zu, das Geld für die Pacht zu erwirtschaften. Es ist schwierig, einen Landwirtschaftsbetrieb aus dem Nichts aufzubauen. Man bekommt kein Land, und die Investitionen in die Technik sind wahnsinnig hoch. Es war ein Riesenaufwand, so viel Kapital von den Banken zu bekommen.“

Ignaz Wessela weiß sehr genau, was ihm wichtig ist. „Unsere Aufgabe als erste Generation nach der Wende ist es, hier etwas Langfristiges aufzubauen, das sich über Jahre entwickeln kann. Natürlich kaufe ich auch Land, obwohl ich mir das eigentlich nicht leisten kann. Ich will meinen Kindern einen soliden landwirtschaftlichen Betrieb weitergeben können. Auch weil wir so ein kleines Volk sind, habe ich als junger Sorbe die Verpflichtung, für meine Leute da zu sein. Die Frage ist doch, was wirklich wichtig ist. Ein Smartphone? Das dicke Auto? Meiner Meinung nach gibt es nichts Wichtigeres als die Landwirtschaft und gute Lebensmittel.“

Während der Ausbildung hat Wessela ein Praktikum in einer großen Milchviehanlage mit rund 1000 Kühen gemacht. Spätestens seit dieser Zeit weiß er, dass konventionelle Landwirtschaft für ihn nicht infrage kommt. „Ich habe gesehen, wie viele Medikamente da eingesetzt werden und welche Krankheiten die Kühe haben. Die sind so hochgezüchtet, dass sie zum Teil nicht mal richtig laufen können, weil das Euter zu prall zwischen den Beinen hängt.“ Wessela rechnet vor, dass jeder konventionell bewirtschaftete Hektar jährlich Chemikalien für etwa 500 Euro benötigt. Und dabei wird es nicht bleiben: „Die Spritzmittel werden jedes Jahr teurer. Außerdem haben die Flächen in den vergangenen 50 Jahren durch die intensive Bewirtschaftung 50 bis 75 Prozent ihres Dauerhumus verloren. Wo stehen wir in 30 oder 50 Jahren, wenn wir so weitermachen?“

Der Jungbauer plant groß. Er will keine Klitsche betreiben, sondern ein modernes Unternehmen. Um konkurrenzfähig zu sein, muss er große Flächen bewirtschaften, am liebsten um die 200 Hektar. Nur so lassen sich ein gut ausgestatteter Maschinenpark und die intelligente Technik für den Ökolandbau finanzieren, etwa eine kameragesteuerte Hacke, die selbstständig und präzise zwischen den Ackerreihen hackt.

Wesselas Pachtland gehört der Gemeinde. Sie hat es gezielt gekauft, um es für ökologischen Landbau zur Verfügung zu stellen. An den Jungbauern hat sie es nicht nur verpachtet, weil er das Land ökologisch bebauen will, sondern auch, weil er aus der Region kommt und einen kleinen Betrieb gründen wollte. Die Kommunalaufsicht war von den Vorgängen irritiert, schließlich sei das keine kommunale Pflichtaufgabe, erzählt der Bürgermeister. Er habe es trotzdem gemacht. „Es ist für mich selbstverständlich, dass sich die Gemeinde um Themen wie ökologischen Landbau und Selbstversorgung kümmert.“

NÜTZLICH FÜR DIE ZUKUNFT: KUNST UND KRÄUTER

Das wagemutigste Experiment in Nebelschütz findet am Dorfrand statt, auf einem 15 Hektar großen, verwilderten Gelände mit Kräuterbeeten, einem See unter schroff abfallenden Klippen, Kochmöglichkeiten und vielen großen, zum Teil sehr lustigen Stein- und Schrott-Skulpturen. Unter Bäumen sitzt da zum Beispiel ein überdimensionaler Mann in einem Sessel vor einem Fernseher – ein Fernsehzuschauer für die Ewigkeit, gehauen in weißen Granit.

Der Steinbruch ist ein Künstlerparadies mit viel Platz zum Arbeiten – und einem Badesee.

Vor zehn Jahren hat die Gemeinde den ehemaligen Steinbruch gekauft, ihn teilweise geflutet und das gesamte Areal in eine Art soziokulturelles Freiluftzentrum verwandelt. Möglich war das vor allem dank des engagierten Einsatzes des Betreibervereins „Steinleicht“. Der lud Bildhauer ein, aus den herumliegenden Steinbrocken Kunstwerke zu machen – auf Volkskunst spezialisierte Steinmetze waren ebenso dabei wie Künstler, die ihr Handwerk an Kunsthochschulen gelernt haben. Seit 2006 wird jedes Jahr eine internationale Bildhauerwerkstatt veranstaltet. Inzwischen bewerben sich Künstler aus ganz Europa, um bei freier Kost und Logis zwei Wochen lang unter freiem Himmel und mit jeder Menge Platz gemeinsam an ihren Werken zu arbeiten.

Künstler, die länger bleiben oder zwischendurch ein, zwei Wochen in freier Natur arbeiten wollen, sind ebenfalls herzlich eingeladen. In einer offenen Halle, die aus Recycling-Material und Ziegeln einer insolventen Ziegelei gebaut wurde, stehen ein Kompressor und Ambosse. Eine Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach sorgt für den nötigen Strom. Weil viele Werke vor Ort bleiben, verwandelt sich das Gelände langsam in einen stetig wachsenden Skulpturenpark. Um die Zukunft dieses wohl einmaligen Geländes zu sichern, will der Gemeinderat nun eine gemeindeeigene Stiftung gründen.

Der Austausch mit Freigeistern von außen sei ihm wichtig, sagt der Bürgermeister. Auch sein jüngstes Projekt soll ihn fördern: der Umbau einer alten Scheune aus Bruchstein, die die Gemeinde für einen Euro gekauft und vor dem Abriss gerettet hat. Der Gemeindebauhof hat sie renoviert, und jetzt wird sie Künstlern und Kreativen als Werkstatt oder Atelier angeboten. Ob ein Maler, Webdesigner, Comiczeichner oder Kunstschmied kommt, ist Zschornak egal. Entscheidend ist für ihn allein: Der Künstler muss ins Dorf ziehen und dort leben. Städter, die sich hier bloß ein Ferienhaus einrichten und manchmal den Pinsel schwingen wollen, haben keine Chance. Zschornak ist das Projekt wichtig genug, um auf den passenden Mieter zu warten, notfalls auch länger. „Wir haben Zeit.“

Gleich neben der Werkhalle für die Bildhauer hat der Trägerverein ein großes Hochbeet mit Kräutern angelegt. Dort sorgt eine regelmäßige Samen- und Pflanzentauschbörse für Erfahrungsaustausch, etwa darüber, auf welchem Boden welche Kräuter am besten wachsen. Außerdem teilt dort ein Permakultur-Experte, der vor einiger Zeit in die Gegend gezogen ist, sein Wissen über die Feinheiten des ökologischen Anbaus: welche Pflanzen man am besten nebeneinander setzt oder wie man Kräuter mit vom Sonnenlicht gewärmten Steinen trocknet. „Er bringt viele Sachen ein, die uns wirklich interessieren“, sagt Lukas Delenk vom Verein Steinleicht. „Und das ist wichtig, denn auf dem Land ist viel Wissen verloren gegangen.“

SCHÖN FÜR DIE ZUKUNFT: STÖRCHE

Bei einem der Gänge durch das Dorf bleibt der Bürgermeister mal wieder stehen. Diesmal zeigt er aber nicht auf ein Haus oder eine Steinskulptur, sondern auf ein Storchennest. Als sich wieder Störche ansiedelten, hat die Gemeindeverwaltung Feuchtbiotope geschaffen, damit die Tiere Nahrung finden und bleiben. „Störche gehören zum Dorf“, sagt Thomas Zschornak. Und als hätte er es gehört, fliegt ein Storch auf und dreht eine weite Runde am blauen, weiten Himmel über Nebelschütz.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.