Die Aufholjagd

Den Boom der europäischen Biotech-Branche hätte Sachsen fast verschlafen. Doch als der Startschuss einmal gefallen war, gab es kein Halten mehr. Heute spielen Leipzig und Dresden in der Wissenschafts-Bundesliga, einige dynamische Gründer haben Weltniveau. Und die nächsten Laborversuche laufen schon.





Ödnis gähnt am Deutschen Platz in Leipzig. Grasbüschel kämpfen sich durch den Asphalt. Eine Bautafel, mit Politprominenz enthüllt, weist in ferne Zukunft: Hier baut der Freistaat Sachsen ein biotechnologisch-biomedizinisches Zentrum. So sieht es aus im Frühling 2000 im Nirgendwo zwischen Alter Messe, Innenstadt und Universität. Doch dann rollen die Bagger los.

Heute ist der Straßenzug vis-à-vis der Deutschen Nationalbibliothek einer der innovativsten Hotspots der Stadt. Hinter den modernen Fassaden der „Bio City“ mit Säulen, roten Klinkern und viel Glas arbeiten Biotechnologen an Hightech-Lösungen von morgen. Sämtliche Etagen sind ausgebucht mit Start-ups und Uni-Lehrstühlen. Im „Bio Cube“ um die Ecke residieren ausgewachsene Biotech-Unternehmen. Und nebenan ergründet ein Max-Planck-Institut die Geschichte der Menschheit anhand vergleichender Analysen von Genen und Kulturen. Ein Quantensprung binnen 15 Jahren. Was ist geschehen?

Im Frühsommer 2000 verplant die von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf angeführte CDU-Landesregierung eine dreistellige Millionensumme. Jeweils 100 Millionen Euro werden für den Bau von neuen Bio-Innovationszentren in Leipzig und Dresden bereitgestellt. Zugleich sollen an jedem Standort sechs Lehrstühle mit 60 Personalstellen im Zukunftsbereich Biotechnologie entstehen. „Wir müssen auf den fahrenden Zug aufspringen, bevor er davonzieht“, sagt damals Minister Steffen Flath. Er hat die enormen Wachstumsprognosen der neuen Schlüsseltechnologie im Blick. Außerdem muss der junge östliche Freistaat weitere Standbeine aufbauen, neben der anrollenden Automobilindustrie und den Chip-Fabriken. „Nicht nur die Mikroelektronik“, sagt Flath, „auch die Biotechnologie soll in Zukunft ein Markenzeichen Sachsens sein.“

Die Kabinettsentscheidung wirkt wie ein Startschuss zur Aufholjagd Sachsens in der europäischen Biotech-Branche, die längst vorausgeeilt ist. „Wir hatten einen Rückstand zu anderen Regionen von 10 bis 15 Jahren“, erinnert sich André Hofmann, der Geschäftsführer des Branchen-Netzwerks „Biosaxony“. Der Coup gelingt: Der Freistaat hat sich in die Bundesliga der dynamischen Standorte für Biotechnologie hochgearbeitet, mit einer exzellenten Forschungslandschaft und Dutzenden innovativen Unternehmen. Heute zählt Sachsen mindestens 45 reine Biotech- Firmen mit durchschnittlich 20 bis 50 Mitarbeitern und 250 anverwandte Unternehmen. Die Zahl ihrer Beschäftigten ist laut Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) auf mehr als 2000 gewachsen. Darüber hinaus befassen sich rund 1500 Wissenschaftler in mehr als 30 Forschungseinrichtungen mit den Lebenswissenschaften und verknüpfen sich in diversen Netzwerken. „Die Biotechnologie“, sagt Dulig, „besitzt eine wichtige systemische Funktion für etliche andere Branchen und Technologien.“ Anders gesagt: Sie ist ein Mannschaftssport mit exzellenten Spielern.

Zu den Wachstumskernen gehören die Bio-Innovationszentren, die 2003 in Leipzig und 2004 in Dresden starteten. Durch die enge Verbindung von Lehrstühlen, verfügbaren Flächen und Laborkapazitäten auf insgesamt 35 000 Quadratmetern wirken sie wie Inkubatoren, in denen Life-Science-Start-ups laufen lernen und wachsen können. Die Gründerzentren bieten günstige Konditionen, Technologie und Service. Die Gründer profitieren von kurzen Wegen und engen Kontakten zwischen Forschern, Beratern und Dienstleistern. Sie bekommen Hilfe bei Anträgen, Finanzierungsfragen und Marketing. Zu den ersten Mietern zählen die Pflanzen-Fachleute von Bioplanta und die Nabelschnurblutbank Vita 34, der Blutspendedienst Haema und der Enzym-Entwickler c-LEcta (siehe folgende Seiten). Sie alle sind inzwischen kräftig gewachsen und in Neubauten in der Nachbarschaft umgezogen. Bis heute sind die Bio City in Leipzig und das BioInnovationsZentrumDresden (BioZ) voll ausgelastet. Inzwischen wird offen über Neubauten nachgedacht, um Raum für kommende Start-ups und Spin-offs zu schaffen.

Planen, begeistern und ansiedeln

Die Landesregierung bewältigte den Marathon nicht allein. Entscheidend waren Ansiedlungen großer Forschungsinstitute wie das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig (IZI). Es wurde 2005 in der Bio City gegründet, eröffnete 2008 sein eigenes Institutsgebäude und beschäftigt heute mehr als 550 Mitarbeiter. Eine Schlüsselrolle für Sachsen spielt auch das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Als das Institut nahe dem Universitätsklinikum Carl Gustav Carus 2002 eröffnet wird, zeigt sich schon an der Gästeliste seine Bedeutung: Anwesend sind Kanzler Gerhard Schröder, Ministerpräsident Biedenkopf und Max-Planck-Präsident Hubert Markl. Heute forschen am MPI-CBG 500 Menschen aus 50 Ländern an der Frage, wie sich Zellen zu Geweben organisieren.

Gründungsdirektor war der Finne Kai Simons, der Zellbiologe leitete das Haus bis zu seiner Emeritierung 2006. Ohne den agilen, mitreißenden, heute 78-jährigen Mann wäre die sächsische Erfolgsstory kaum denkbar. In den Achtzigerjahren rief er am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg ein Forschungsprogramm ins Leben, das sich zu einem Kern der molekularen Zellbiologie in Europa entwickeln sollte.

Ende der Neunzigerjahre wird Simons zum Max-Planck-Direktor berufen, rund 100 Wissenschaftler und Experten aus dem Raum Heidelberg ziehen mit ihm, um eine moderne Keimzelle für Biowissenschaften in Deutschlands östlichster Großstadt zu etablieren.

Damals ist Biotech in Dresden Neuland, und Simons macht den Sachsen Beine. Es nütze wenig, das MPI als Elfenbeinturm in biotechnologisches Niemandsland zu setzen, macht er ihnen klar. Weitere Partner und Ansiedlungen müssten her: Forschungsinstitute, Gründungsschmieden und Firmen, die Brücken bauten und ein Umfeld für den Aufschwung schafften. Die Politik zog mit. „Biedenkopf und die Minister Kajo Schommer und Hans Joachim Meyer wussten: Das ist die Zukunft“, erinnert sich Simons. Ein wenig mehr von diesem Gründungselan könnte heute nicht schaden, findet er. „Die Forschung ist da. Aber wir brauchen einen stärkeren Technologietransfer, um noch mehr Ergebnisse in Produkte, Industrien und Arbeitsplätze umzusetzen.“ Nötig wären noch mehr Strukturen für weiteres Wachstum und Ansiedlungen. Was daraus dann werden kann, macht der quirlige Forscher gleich vor – mit seiner Firma Lipotype, die er 2012 gegründet hat (siehe Seite 13).

Kai Simons ist nicht der Einzige, der in Sachsens Aufbruchjahren für Bewegung sorgt. Da ist auch der preisgekrönte Münsteraner Zellforscher Wolfgang Göhde. Zur Jahrtausendwende baut er in seiner Geburtsstadt Görlitz einen Schwesterbetrieb seiner Diagnostikfirma Partec auf. Der Standort wächst dank seiner besonderen Produkte: Die simplen, robusten und schuhkartonkleinen Diagnoselabors für HIV, Malaria oder Tuberkulose werden in Schwellenländern dringend gebraucht. 2013 kauft der japanische Konzern Sysmex das Familienunternehmen. Göhde und sein Sohn Roland mischen derweil eifrig in Sachsens Biotech- Netzwerken mit, zeitweise auch im Vorstand des Branchenverbandes.

Auch der lebhafte Unternehmer Wilhelm Zörgiebel zählte Anfang der Neunzigerjahre zu den Biotech-Pionieren. Nicht lange nachdem Kanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 vor der Ruine der Frauenkirche eine historische Rede hält, kündigt Zörgiebel seinen gut dotierten, aussichtsreichen Job in München, packt seine Koffer und bricht mit Frau und Kindern nach Dresden auf. Schon bald beginnt der mutige Macher, die Deutschen Werkstätten Hellerau zu sanieren und das historische Gebäudeensemble zum Teil in ein Innovationszentrum für Biotechnologie zu verwandeln. Zörgiebel steht nie still und engagiert sich stets auch für die Entwicklung seines Standortes.

In Dresden entstehen derweil immer neue Forschungsinstitutionen, die bald internationales Spitzenniveau erreichen: Das Max Bergmann Zentrum für Biomaterialien etwa bringt seit 2002 Forscher von Werkstoffwissenschaft und Bioengineering zusammen. Am 2006 gegründeten Zentrum für Regenerative Therapien (CRTD) der TU Dresden, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Exzellenzinitiative, ergründen fast 300 Grundlagenforscher und Mediziner Selbstheilungsprozesse und regenerative Therapien für bisher unheilbare Krankheiten.

Und das renommierte Zentrum für Medizinische Strahlenforschung in der Onkologie, kurz: OncoRay, optimiert seit 2005 Strahlentherapien gegen Krebs. Nicht von ungefähr genießt die TU Dresden heute den Status einer Exzellenz-Universität. Und auch die Wirtschaft profitiert: Aus der Forschung entstehen Start-ups wie die Zellmechanik Dresden. Das fünfköpfige Gründerteam – 2015 als Spin-off gestartet – entwickelt und produziert ein Forschungsgerät, das binnen Minuten die mechanischen Eigenschaften von Zellen bestimmen und krankhafte Deformationen erkennen kann.

Finanzieren, motivieren und halten

Das Einzige, was Sachsen bis heute weitgehend fehlt, sind biotechnologische Großunternehmen. Zu den seltenen Ausnahmen zählt der Konzern GlaxoSmithKline, der in Dresden mit mehr als 700 Mitarbeitern Grippe-Impfstoffe für den Weltmarkt herstellt. Die B. Braun Melsungen AG produziert mit ebenfalls mehr als 700 Mitarbeitern in Radeberg und Berggießhübel Dialysatoren für die Blutwäsche, bis 2018 soll ein neues Werk in Wilsdruff gebaut werden. Aber weitere Ansiedlungen großer Pharmafirmen wären wichtig.

André Hofmann, 39, gebürtiger Sachse und Diplomingenieur für Biotechnologie, kennt jeden namhaften Akteur in der Biotech- Branche seiner Heimat. Das muss er auch als Geschäftsführer von Biosaxony, jenem Verein, der sich um den Informationsaustausch und mögliche Synergien kümmert. Dem Netzwerk gehören heute fast 120 Mitglieder aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung an. Kürzlich hat der Verein den „Life-Sciences- Atlas Sachsen“ herausgebracht, ein Internetportal, das sie alle vorstellt.

Hofmann kennt Licht und Schatten der Branche, er spricht auch über die Aufgaben der Zukunft. Nummer eins: In Sachsen fehlen noch Risikokapitalgeber, die eine Gründung oder einen Wachstumsschub junger Unternehmen begleiten. Ist ein Start-up erfolgreich und bereit zu wachsen, droht die Gefahr, dass es mit seinem Know-how abwandert und dem Geld großer Investoren in andere Regionen folgen muss. „Wir bräuchten mehr Geld im System, um einen Start in den Markt zu begleiten und Abwanderungen in andere Regionen zu verhindern“, sagt Hofmann.

Nummer zwei: Sachsens herausragende Wissenschaftslandschaft ist ein beliebtes Biotop, in dem Forscher gern arbeiten – und deshalb meist lange bleiben wollen. „Wir würden uns jedoch wünschen, dass noch mehr Wissenschaftler den Sprung ins eigene Unternehmen wagen“, sagt Hofmann. Seine gegenwärtige Bilanz dürfte Mut machen: „Wir haben zwar noch nicht den Stand von großen Playern wie München oder Heidelberg erreicht, aber in relativ kurzer Zeit einen riesigen Sprung gemacht.“ Nun seien neue Wachstumsstrategien nötig: „Wir können uns nicht auf den Erfolgen ausruhen“, findet André Hofmann.

Es ist Zeit für die nächsten Bautafeln in Biosaxony.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.