Salon Haarschneider

Ein Friseursalon auf Weltstadtniveau. In der Provinz. Absurd? Im Gegenteil!




Ganz am Ende eines langen Treffens sagt Heiko Schneider: „Ich bin kein Friseurmeister – ich bin Friseurunternehmer.“ Eine kuriose Bemerkung. Stundenlang ging es um Logistik und die Firma als Familie, um den Sinn von Marketing und den Unterschied zwischen einem Haarschnitt und einem Kurzurlaub. Also um das, was sein Unternehmen „Haarschneider“ zu einem der interessantesten Friseursalons Deutschlands macht. Und nun dies. Wer will das wissen? „Mir ist das egal“, erklärt der Friseur aus Hoyerswerda sofort, „aber es gibt Kollegen, die auf so etwas achten. Und ich habe nun mal keinen Meister.“ Heiko Schneider fehlt der Titel. Und der, so scheint es, ist einigen Wettbewerbern genauso wichtig wie alles, was er sonst leistet. So kehren wir also nach einem langen Ausflug auf die lichten Höhen des gehobenen Unternehmertums zurück auf den Boden des deutschen Handwerks.

Nicht dass Schneider das selbst so sagen würde. Er steht seiner Branche höchst loyal gegenüber, gerade auch ihrem Mittelstand. Allerdings glaubt auch er, dass es in etlichen guten Betrieben in Sachen Professionalisierung noch Luft nach oben gibt. „Wir haben mehr als 80 000 Friseursalons in Deutschland“, sagt er, „und viele tun zu wenig, um sichtbar zu sein.“ Manche Kollegen seien „zu sehr in den Haaren drin“. Sein Salon stehe allen Kollegen offen. Jeder könne sich gern ansehen, was er tut, und übernehmen, was ihm nützlich erscheint. Was er nicht sagt: Das wäre für viele wohl eine Menge.

Heiko Schneider hat in der DDR Elektronikfacharbeiter gelernt, doch als ihm die Wende die Chance gab, ein neues Leben zu beginnen, eröffnete er 1991 in Lauta, zwölf Kilometer westlich von Hoyerswerda, einen Friseursalon im eigenen Elternhaus – mit seiner Mutter, die Friseurin war. Zwölf Jahre betrieben die beiden ihren Laden, bis die Mutter begann, an die Rente zu denken. Der Sohn dagegen wollte noch mal „richtig was bewegen“. Schneider hatte nebenher Kassen-Software für Friseursalons verkauft und auf seinen Reisen durch die Republik die Läden vieler Kollegen gesehen. So hatte er bereits einige Ideen, als er 2004 in Hoyerswerda mit zwei Angestellten seinen Haarschneider eröffnete.

„Ich bin ein Stratege, im Kopf immer zehn Jahre voraus“, sagt der 48-Jährige. „Das war ich schon damals. Und als ich nach Hoyerswerda ging, hatte ich die Idee, die Nummer eins in der Region zu werden. Aber dass ich mal mehr als 20 Mitarbeiter haben würde, hätte ich nie gedacht. Irgendwann hat mich die Entwicklung überholt.“ 29 Angestellte arbeiten zurzeit in seinem Salon auf etwa 400 Quadratmetern – angefangen hat er mit 68 Quadratmetern. Auf die vielen kleinen Räume angesprochen, die sich durch das Haus in der Altstadt ziehen, lacht Schneider. Er kann ihre Entstehung Durchbruch für Durchbruch nacherzählen. „Wir sind seit zwölf Jahren ständig am Erweitern.“

Die Gründe für den Erfolg sind so banal wie essenziell. Einerseits denkt der Friseurunternehmer viel über seine Kunden nach: „Ich möchte den Menschen nicht bloß einen Haarschnitt bieten, sondern eine Auszeit vom Alltag, einen Kurzurlaub. Unsere Gäste trinken einen Kaffee oder ein Glas Wein, sind mit einer Freundin verabredet oder treffen zufällig eine Bekannte – und dabei kümmern wir uns um sie und ihre Haare.“ Die Ansprüche der Kunden sind mit der Zeit gewachsen. Dass Schnitt und Farbe stimmen, gehört heute zur Grundausstattung. Das Drumherum macht den Unterschied.

Mindestens genauso viele Gedanken wie über sein Publikum macht sich Schneider über seine Mitarbeiter. Sein Unternehmen, sagt er, solle auch eine Familie bieten. „Mir ist es wichtig, mit den Leuten langfristig zu arbeiten. Wer hier anfängt, hat erst mal ein Jahr, in dem er sich einarbeiten kann.“ Das nütze auch den Gästen. „Für Stammkunden ist es schön, wenn sie ihren jeweiligen Friseur gut kennen.“ Tatsächlich verlässt nur selten ein Mitarbeiter den Salon, und wenn doch, zieht er häufig auch weg aus der Stadt. „Am Anfang“, sagt Schneider, „hatte ich sogar die Idee, dass wir hier alle gemeinsam alt werden. Aber inzwischen finde ich es auch gut, wenn junge Leute dazukommen und sich die Dinge erneuern.“

Zufriedene Kunden und Mitarbeiter

Um die Arbeit zu erleichtern und Kunden wie Mitarbeitern eine gute Atmosphäre zu bieten, optimiert Schneider ständig die Logistik. Termine werden über ein Computersystem verwaltet, auf das alle Mitarbeiter über die im Salon verteilten Terminals zugreifen können. Jeder trägt zudem ein Headset, über das er Unterstützung anfordern kann oder Material – das spart unnötige Wege. An den besonders geschäftigen Tagen zum Ende der Woche lässt der Chef für alle ein Bio-Büfett servieren. „Ich kenne das aus der Gastronomie“, sagt Schneider, „vorne Luxus für die Kunden, hinten das Billigste für die Mitarbeiter. Das möchte ich nicht.“

Mit diesen schlichten Grundsätzen hat er es weit gebracht. 65 bis 75 Kunden kommen pro Tag in den Salon, 100 bis 120 sind es freitags. Und das alles ohne Schnäppchen und Rabatte. „Wir sind nicht billig und nicht Luxus“, sagt Schneider. „Im Design und Angebot befinden wir uns im oberen Segment, aber zu Preisen, die sich die Leute leisten können. Ich habe lieber einen vollen Salon und mittlere Preise, als hohe Preise und ein leeres Haus.“ In Hoyerswerda ist er längst die Nummer eins, und weil sich sein Erfolg in der Branche herumgesprochen hat, hält er nun in ganz Deutschland Vorträge und führt auch Webinare durch. Das alles wäre an jedem Ort bemerkenswert, für Hoyerswerda ist es eine Sensation. Um die zu verstehen, muss man allerdings die Geschichte der Stadt kennen.

Hier geht es zum Haarschneider.
Der Libanese Naser Kassem arbeitet seit gut 30 Jahren als Barbier. Das spürt man an jeder seiner Handbewegungen.

Hoyerswerda liegt in der Oberlausitz, nahe der polnischen Grenze, die für viele Deutsche so fern ist wie das Herz des Kongo. Das war nicht immer so: Dank ihrer riesigen Braunkohlevorkommen war die Region früher der extrem systemrelevante Energiebezirk der DDR – und Hoyerswerda war einer seiner wichtigsten Städte. Noch Anfang der Fünfzigerjahre zählte der kleine Ort rund 7000 Menschen. Doch 1955 wurde damit begonnen, für die Arbeiter im Tagebau und in der Veredelungsindustrie die Neustadt zu errichten, ein zu jener Zeit nahezu futuristischer Ortsteil, in dem weltweit erstmals industriell gefertigte Plattenbauten hochgezogen wurden. So wuchs die Stadt immer weiter, bis sich 1981 die Einwohnerzahl verzehnfacht hatte: Fast 72 000 Menschen lebten damals in Hoyerswerda.

Die Arbeiter des Energiebezirks waren sehr wichtig, und so wurden sie besonders gut versorgt. Sie lebten in den Plattenbauten in sogenannten Komfortwohnungen und fanden am Zahltag in den Läden alles vor, was die DDR zu bieten hatte – und wovon Bürger im Rest des Landes oft nur träumen konnten. Doch mit der Wende endete die Sonderstellung. Tagebaue wurden geschlossen, die Elite-Arbeiter waren plötzlich überflüssig. Viele zogen weg, und so schrumpfte die Stadt fast so schnell, wie sie gewachsen war. Heute leben noch rund 34 000 Menschen in Hoyerswerda – Tendenz sinkend. So ein Schwund wäre für jede Stadt ein harter Schlag. Doch hier verschwanden nicht nur die Menschen – es verschwanden auch Selbstwert und Lebensgefühl. Menschen aber brauchen etwas, das ihren Ort auszeichnet und ihnen sagt: Hier, wo du bist, ist es besonders. Einige Städte erreichen das über ein Motto, das manchmal sogar über die Region hinausstrahlt. Wie etwa Riesa im Landkreis Meißen, das sich zur Sportstadt erklärt hat. Die meisten Orte finden ihre Persönlichkeit allerdings eher in kleinen Rahmen: Da gibt es das jahrhundertealte Unternehmen, den besonderen Laden, das außergewöhnliche Stadttheater, die beste Kneipe der Welt.

Und in Hoyerswerda? „Heiko Schneider ist der wichtigste Mann in Hoyerswerda“, sagt Dorit Baumeister und lacht. „Immerhin ist er unser aller Friseur.“ Baumeister ist Architektin, sie engagiert sich seit Langem für die Stadt: Sie hat viele Kulturprojekte angeschoben und begleitet, das neue Bürgerzentrum am Marktplatz entworfen, und natürlich tanzt sie auch beim örtlichen Amateur-Tanztheater mit, das ihr Bruder leitet und das sogar schon durch Deutschland getourt ist. Das alles mache ihr Spaß, sagt sie, aber es ginge immer auch um Hoyerswerda. „Wenn wir unseren Anspruch auf diese Art des Lebens, auf das Großstadtgefühl aufgeben würden, dann hätte unsere Stadt keine Zukunft.“ Der Salon Haarschneider ist für sie dabei ein zentraler Baustein.

„Mir ist diese Großstadtqualität tatsächlich auch wichtig“, sagt Heiko Schneider. Er komme viel herum, schaue sich an, was in den Metropolen läuft, und bringe es dann in seine Stadt. „Die Leute sind früher nach Dresden gefahren oder sogar Berlin, um zum Friseur zu gehen. Das ist auch nicht so selten, wie man denkt: Für den Friseur wird viel gefahren, darüber spricht nur keiner. Aber jetzt gibt es uns.“ Es mag in Hoyerswerda keine Kneipe oder Bar geben, in der sich trifft, wer in der Stadt etwas bewegen möchte – doch dafür gibt es einen Friseur. „Ja“, sagt Schneider und lacht, „hier treffen sich wirklich viele gute, kreative Leute.“

Das liegt wohl auch daran, dass Schneider dafür bekannt ist, dass sein Engagement nicht an der Ladentür endet. So veranstaltete er im August 2015, als kurz vor der Eröffnung des neuen Bürgerzentrums noch Geld fehlte, den Haarschneider-Marathon. „Ich kam auf die Idee, als ich von Gamern hörte, die so lange spielten, wie die Leute für einen guten Zweck spendeten. Also haben wir gesagt: Wir schneiden so lange Haare, wie ihr für das Bürgerhaus spendet. Wir haben erst nach 25 Stunden aufgehört.“ In dieser Zeit standen die spendenwilligen Kunden Schlange bis auf die Straße, nahmen Wartezeiten von bis zu drei Stunden in Kauf. Mehr als 200 Schnitte sind am Ende zusammengekommen – und eine Spende von 3114 Euro. Dafür erhielt Schneider viel Lob in den Medien und einen Marketingpreis. Die Aufmerksamkeit weiß er durchaus zu schätzen. „Natürlich muss ich dafür sorgen, dass ich unter den 44 Salons in der Stadt gesehen werde. Und nicht nur von den Kunden. Wenn eine junge Friseurin nach Hoyerswerda zieht und sich bewerben möchte, soll sie das zuerst hier tun.“

Über seine Sichtbarkeit musste sich Schneider allerdings gar keine Sorgen mehr machen, er war schon vorher durch die Medien gerauscht: Er hatte – wohl als Erster in der Branche – einen Asylbewerber angestellt. Aber auch in dem Fall war die Aufmerksamkeit ein Kollateralnutzen. Denn vor allem hatte er für den Salon einen guten neuen Mitarbeiter gefunden.

Schneider hat vor etwa fünf Jahren einen Herrensalon eröffnet, mit exakt dem Programm, das kurz darauf in den Metropolen Trend wurde. Männer können sich dort nicht nur die Haare schneiden, sondern auch den Bart pflegen oder rasieren lassen. Wuchernde Haarbüschel in Ohren und Nase werden per Fadentechnik entfernt. Aber natürlich ist es nicht einfach, für diese Arbeit die richtigen Fachkräfte zu finden, schon gar nicht in Hoyerswerda. Doch der Friseur hatte Glück: Er traf den Libanesen Naser Kassem, der schon mit 13 Barbier wurde. „Er hat einen sehr guten Blick“, sagt Schneider über den 41-Jährigen, „und er ist präziser und sauberer, als es in Deutschland üblich ist.“ Eine gute unternehmerische Entscheidung, eine gute Tat und gutes Marketing – so einfach kann es sein.

Gerade hat Heiko Schneider im Herrensalon einen neuen Raum eröffnet. Setzt sich dort ein Kunde auf einen Friseurstuhl, fährt ein Spiegel vor ihm hoch, der zugleich ein Bildschirm ist. Ein persönlicher Willkommensgruß erscheint, danach kann der Gast Videos anschauen oder den Wetterbericht. Schneider sagt: „Ich möchte gesellschaftlich etwas bewegen. Ich will Menschen motivieren und inspirieren. Und ich möchte etwas für die Region tun.“

Sicher, es ist inspirierend, in einem der Stühle zu sitzen, von denen Heiko Schneider meint, es seien wohl die modernsten Friseurplätze des Landes. Aber vor allem macht es Freude. Und das ist für eine Stadt wie Hoyerswerda eine wichtige Botschaft: Es macht Freude, hier zu sein und zu leben.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.