Die Rätin

Beamte sind wie Menschen in anderen Berufen auch. Es gibt eifrige, weniger eifrige und übereifrige. Und es gibt welche, die ihren Job lieben.




Das Treppenhaus ist nichts Besonderes. Der Blick nach hinten, in den Innenhof, rutscht an einer glatten, nichts sagenden Fassade ab. Vorne raus, zur Maximilianstraße, gab es prächtige neugotische Giebel und Arkaden, wie sich das für die Münchner Maximilianstraße gehört – und für die Regierung von Oberbayern. Hier drinnen aber haben sie beim Wiederaufbau deutlich erkennbar gespart, wie in fast allen deutschen Ämtern. In diesem kargen Aufgang windet sich eine Treppe drei Stockwerke nach oben, das Geländer ist aus dünnen Metallstäben, der Handlauf in Plastik eingefasst. Ab dem ersten Stock sind farbige Bindfäden an diese Stäbe gespannt, ziehen sich durch die Etagen, überkreuzen sich im zweiten und spannen sich im dritten Stock wieder auseinander, rundherum um das Geländer, was an eine Sanduhr erinnert, nur eben eine aus, tja, Bindfäden. „Das war ein Vorschlag von einem unserer Mitarbeiter. Er hat ihn auch selbst umgesetzt“, sagt Inge Ragaller, „die Struktur repräsentiert unsere Arbeit.“ Die Oberregierungsrätin zeigt auf die Fadenskulptur, auf den Knoten des Fadenbündels, die Stelle, die bei einer Sanduhr den Lauf der Dinge kontrolliert, sprich verlangsamt, ein Ort, der von Organisationsexperten auch als Bottleneck oder Flaschenhals bezeichnet wird, und sagt: „Bündelung! Das ist die klassische Funktion einer Mittelbehörde. Wir vermitteln zwischen den verschiedenen bayerischen Ministerien und den lokalen Behörden, Gemeinden, Städten und Ämtern.“ Dabei strahlt sie.

Die Regierung von Oberbayern, so heißt diese Mittelbehörde, von der Inge Ragaller spricht, ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die Regierung Bayerns, sie ist die Verwaltung eines Regierungsbezirkes, wie es davon insgesamt 22 in Deutschland gibt. Der von der Fläche her größte gleicht einem Dreieck, mit München in der Mitte. Garmisch-Partenkirchen im Südwesten, das Berchtesgadener Land im Südosten und Eichstätt im Norden begrenzen das Gebiet. Ein Drittel aller Bayern wohnt hier, etwas mehr als vier Millionen Menschen. Wie alle Bezirksregierungen ist auch diese hier eine klassische Mittelbehörde, das heißt, von hier aus wird die Tätigkeit von Kreisverwaltungen, Fachbehörden und Gebietskörperschaften beratend begleitet und soweit nötig koordiniert und kontrolliert, vom Straßenbau bis zur Wasserwirtschaft. Inhaltlich kommt in so einer Mittelbehörde alles zusammen, was man gemeinhin als „Leben“ bezeichnet.

Zwei Stunden später, in ihrem Büro, geht es noch einmal um das Treppenhaus. Inge Ragaller erzählt, wann sie das Gebäude zum ersten Mal betrat. 1984 war das, da war sie noch Inspektorin im Münchner Polizeipräsidium. „Nein, nein“, die 54-Jährige lacht, „ich war Sachbearbeiterin im Innendienst, in der Personalabteilung. Bei der Polizei heißen Sie ja automatisch Inspektor. Im Polizeivollzugsdienst wären Sie ein Kommissar, vorausgesetzt, Sie befinden sich im gehobenen Dienst. Sonst wären Sie Wachmeister oder Hauptwachtmeister; die befinden sich im mittleren Dienst. Aber egal“, sie lacht wieder, winkt ab, „ich interessiere mich wirklich nicht für diese Titel“, und erzählt weiter von damals.

Die Behörde – ein Gefühl von Zuhause

„Kommen’s doch zu uns“, hatte der Kollege aus der Personalstelle der Regierung von Oberbayern gesagt. „Er wollte wieder zurück aufs Landratsamt nach Bad Tölz“, sagt Ragaller. Also schaute sie mal vorbei, ging in dieses riesige rostbraune Gebäude, das Treppenhaus hoch, und plötzlich wurde ihr ganz anders. „Wie ich da rauf bin, dachte ich, ich bin Zuhause“, sagt sie langsam. Dann neigt Inge Ragaller den Kopf, macht eine Pause und fragt: „Haben Sie das auch schon mal erlebt in Ihrem Beruf?“

Beamte sind Dienstleister der Allgemeinheit. Die meisten Bürger kommen mit den Staatsdienern nur dann in Kontakt, wenn sie eine dieser staatlichen Dienstleistungen abrufen. Da gibt es schöne und weniger schöne Geschichten. Wie das so ist, in einem Dienstleistungs-Schwellenland. Beamte, Ämter und Behörden hat es in den vergangenen Jahren genauso durchgeschüttelt, wie den Rest des Landes auch. Bund, Länder, Gemeinden und Behörden – alle bekennen sich zum Bürokratieabbau wie zu einem Glaubensbekenntnis für den Fortschritt. Wer nicht verschlankt, ist nicht modern. Das sorgt für Verunsicherung bei den Beamten.

Überdurchschnittliche Pensionen und Sozialleistungen, automatische Aufstiege, krisensichere Arbeitsplätze, Unkündbarkeit: Ausgerechnet jene Errungenschaften, die den Staatsdiener gegen Machtmissbrauch und Korruption panzern sollten, kommen seitdem auf den Prüfstand. 1,7 Millionen Beamte gibt es in Deutschland. Und wenn es nach den Plänen so mancher Experten geht, dann haben wir es mit einer aussterbenden Spezies zu tun. In der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei beispielsweise liegt eine Studie des Hamburger Staatsrechtlers Hans Peter Bull, nach der ganz normale Arbeitsverträge die Lebensanstellung ersetzen können. Die Umsetzung wird gerade geprüft. Seit 1990 ist die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 1,1 Millionen gesunken. Von den heute 4,8 Millionen Staatsbediensteten sind nur noch rund ein Drittel Beamte, der Rest sind Angestellte und Arbeiter.

Ihre Arbeit in den Behörden hat sich längst vom Klischee entfernt. Zwar bilden die Schienen mittlerer, gehobener und höherer Dienst (die früher unterste Stufe, der einfache Dienst, kommt kaum mehr vor) die Starrheit des deutschen Schul- und Ausbildungssystems ab, doch gibt es immer mehr Querverbindungen zwischen den Karrieregleisen. Bezahlung soll zunehmend an Leistung gekoppelt werden; an die Stelle der öffentlich geführten Pensionskassen sollen privatwirtschaftliche Lösungen treten.

Parallel zum Abbau der einst Neid erregenden Benefits schraubt der staatliche Arbeitgeber die Ansprüche hoch. Gehälter werden eingefroren, Regelarbeitszeiten erhöht – nicht nach zähen Verhandlungen, sondern schnell und sauber per Gesetz. Die meisten Beamten arbeiten schon jetzt deutlich mehr als 40 Stunden, in Bayern gilt für sie offiziell eine 42-Stunden-Woche. Wer streikt, macht sich strafbar. Übermäßiger Alkoholkonsum, Übergewicht, auffälliges oder gar aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit: Das alles sind Kündigungsgründe für Beamte. Haben sich die alten Wohltaten zum Korsett entwickelt? Wie fühlt sich dieser Apparat von innen an? Oder anders gefragt: Macht das überhaupt noch Spaß, Beamter zu sein?

Inge Ragaller lächelt. Und sie ist aufmerksam, bemerkenswert aufmerksam. Zweimal wurde das Gespräch jetzt schon unterbrochen, einmal brachte eine Kollegin Kaffee und Kekse, dann kam jemand und reichte eine Umlaufmappe herein. Beide Male gab es höfliche, helle Wortwechsel. Inge Ragaller hat diese explizite Wachheit und Zuwendung, die Menschen zu Eigen ist, die andere Menschen ganz offensichtlich mögen. Seit 25 Jahren, die Ausbildung mitgerechnet, ist sie Beamtin. Die meiste Zeit hat sie im inneren Dienst verbracht. Inge Ragaller war Personal-Sachbearbeiterin bei der Münchner Polizei, für die Regierung von Oberbayern hat sie mehr als tausend junge Beamte für den gehobenen Dienst eingestellt und deren Ausbildung begleitet. Nun ist die Oberregierungsrätin Personalchefin für die Angestellten der Regierung.

Man kann also sagen, Inge Ragaller hat sie alle gesehen, und ja, die Zeiten sind härter geworden. „Allein im vergangenen Jahr gab es so viele Blindbewerbungen wie noch nie. Plötzlich sitzen hier völlig überqualifizierte Leute und behaupten, es sei schon immer ihr Traum gewesen, für den öffentlichen Dienst zu arbeiten“, sagt sie und schaut dabei besorgt. Das war nicht einmal ihr Traum, damals, als sie sich für die gehobene Beamtenlaufbahn bewarb und einfach mal so den Einstiegstest machte. Dass sich jemand wegen der guten Sozialleistungen oder der Unkündbarkeit bewirbt, das hat sie früher nie erlebt, „an so etwas denken Sie doch nicht, wenn Sie jung sind“. Sie wollte „etwas Juristisches machen. Ich dachte, das schaust du dir mal an, studieren kannst du später immer noch. Die Beamtenlaufbahn war mir wurst, ganz ehrlich“.

Die Bewerber, die später in ihrem Büro saßen, konnte sie fast immer in drei Gruppen einteilen. „Es gab welche, die wollten, welche, die sollten, und welche, die mussten.“ Letztere hat sie zur Seite genommen. „Viele Beamtenkinder waren das, wo man merkte, die Eltern machen Druck. Die haben sich schon in der Ausbildung gesträubt. Die steigen später alle wieder aus.“

Nicht todernst war es, sondern toll, lebhaft und beeindruckend

Beamtenausbildung geht so: Die höheren Dienste (also Regierungspräsidenten, -direktoren und -räte) rekrutieren sich aus Studienabgängern. Die mittleren und gehobenen Anwärter werden an Verwaltungsschulen und an Fachhochschulen ausgebildet und dazu parallel zwei oder drei Jahre lang durch alle bürokratischen Erscheinungsformen geschleust. „Ausländeramt, Sozialamt, Bauamt, Personalstelle: Sie machen alles mal mit.“ Zum Abschluss gibt es eine Prüfung. „Und die ist wichtig! Die hängt Ihnen lange hinterher“, sagt die Personalleiterin.

Natürlich hatte auch sie nicht das beste Bild von Beamten. „Ich dachte, die seien alle todernst, aufs Gesetz bedacht und trocken. Das Interessante war: Das waren die wenigsten.“ Das Team im Bauamt war toll, die Kfz-Zulassungsstelle herrlich lebhaft, das Sozialamt war beeindruckend, nur der Rechnungsprüfer, „ein hagerer, ernster, sehr korrekter, schüchterner Mann. Der war doch sehr trocken“, sagt Inge Ragaller und blickt auf, „aber, mei, was sollte der auch mit so einem jungen Mädchen anfangen?“

Wie schafft man es zwischen all den Verordnungen, Dienstwegen und Anweisungen, nicht zu einem dieser Beamten zu werden, der man selbst nie sein möchte? „Ganz einfach: indem man genau das einfach nicht ist“, sagt Inge Ragaller versöhnlich, „es sind ja nicht die Beamten, die so kompliziert sind, sondern die Gesetze, mit denen sie zu tun haben.“

Nach der Ausbildung kam sie zum Sozialamt, betreute als Inspektorin zur Anstellung (so heißt die Probezeit) den Buchstabenbereich E bis K. „Da hab’ ich das Flattern bekommen“, erzählt sie, wie plötzlich erwachsen werden war das: Menschen, die so arm oder krank waren, dass sie nicht einmal mehr aufs Amt kommen konnten. Krankheiten, von denen sie vorher nie gehört hatte. „Ich hatte bis dahin immer eine große Schnauze, aber da habe ich ganz kleine Brötchen gebacken. Ich wusste doch als 22-Jährige nicht, was Multiple Sklerose ist.“ Aber sie musste die Entscheidungen treffen.

„Einer war dabei“, erzählt Inge Ragaller, „der hatte ein Gespür für Wahrheit. Der war menschlich, hatte ein Herz und war auch mal in der Lage, zu bremsen und Grenzen zu setzen.“ Wenn es schwere Fälle gab, junge schwer kranke Leute, die keine Mittel hatten; wenn sie das Gefühl hatte, sie müsse helfen, „dann bin ich zu ihm gegangen, und da hat er mir Rückendeckung gegeben“, sagt sie und: „Mein Gott, an den habe ich schon lange nicht mehr gedacht.“ Sie steht auf, geht hinter ihren Schreibtisch und kramt nach einem Zeitungsausriss. „Der Bezirk Oberbayern nimmt Abschied von seinem Mitarbeiter Verwaltungsoberamtsrat Volkmar Rahnert“ steht auf der Todesanzeige. „Vor drei oder vier Jahren ist er gestorben“, sagt sie, „mein erster Chef. Der war lange Jahre mein Vorbild.“

Vom harten Sozialamt zur Lebensaufgabe in der Personalstelle

Das Sozialamt war eine Nummer zu hart. „Ich habe dort meine Grenzen gespürt. Das hat mich zu sehr berührt.“ Sie wechselte zwei Jahre später ins Münchner Polizeipräsidium, das damals gerade verstaatlicht wurde, also dem Land unterstellt. Eine turbulente Zeit, die meisten Verwaltungseinheiten wurden neu geschaffen, sie kam in die Personalstelle, kümmerte sich um Anwärter, aber auch um die Polizeisportmittel, „plötzlich hat das richtig Spaß gemacht“. Organisieren, vermitteln, verwalten, motivieren, entscheiden, da hat sie sich für ihren Beruf entschieden, 1975 war das: „Ich dachte, das machst du jetzt so gut, wie du es kannst.“

Hinter ihrem Schreibtisch hängt ein Organigramm, es ähnelt im Aufbau dem eines Ministeriums mit seinen verschiedenen Ressorts und Staatssekretären, ganz klar, „eine Mittelbehörde muss ja immer das Ministerium spiegeln“. Ihr Name taucht in keinem der Kästchen auf. Sie ist „Aufstiegsbeamtin“, vor fünf Jahren hat sie eine Prüfung abgelegt und ist in den höheren Dienst gesprungen, seitdem ist sie Oberregierungsrätin. Theoretisch könnte Inge Ragaller demnächst in diesem Organigramm erscheinen und einen Sachbereich leiten, aber „höherer Dienst heißt erst mal mehr Geld“.

Zwanzig Jahre hat Inge Ragaller junge Menschen und Quereinsteiger in den Staatsdienst geholt. Es gibt kaum eine Behörde der Allgemeinen Inneren Staatsverwaltung in Bayern, in der nicht jemand sitzt, den sie eingestellt hat. Sie würde nie von ihren Schäfchen reden, das wäre anmaßend, aber ihr Ton hat Wärme und Wahrhaftigkeit. Sie war lange Jahre Frauenbeauftragte, sie hat das Leitbild der Regierung von Oberbayern mit entwickelt, „was für ein Schmarr’n, dachte ich zuerst, aber dann setzen Sie sich mit Ihren Kollegen und mit der Arbeit auseinander. Das Selbstverständliche wird wieder bewusst“. Sie hat Reformen miterlebt, sie hat modernisiert, es gibt Mitarbeiterbeurteilungen und Führungsdialoge, wo sogar auf Sachbearbeiter-Ebene mit einem Moderator Konflikte geklärt werden. Es gibt Fortbildungen für Soft Skills, soziale Kompetenz und Mitarbeiterschulungen. Es menschelt im Amt. Aber unterm Strich bleibt die Feststellung: „So eine harte Zeit wie heute habe ich noch nicht erlebt.“

„Wenn wir ausschreiben und freie Stellen haben, gibt es viel zu viele Bewerbungen.“ Früher hat sie Info-Stände im Arbeitsamt aufgebaut, um Bewerber anzusprechen. Früher hat sie in einem Jahr 120 Anwärter für den mittleren und gehobenen Dienst eingestellt. Heute vielleicht 20. Bei jeder Neubesetzung muss sie nun zuerst auf den internen Job-Pool zurückgreifen, denn seit Mitte der Neunziger wird in Bayern konstant umgebaut und abgebaut. Inge Ragaller reibt mit Daumen und Zeigefinger imaginäre Geldscheine: „Das Ziel ist immer: Es soll billiger und schneller werden, nicht ganz so kompliziert, und das mit weniger Personal.“ Ämter können nicht einfach ihre Geschäftsfelder erweitern. Bei Kündigungsschutz und konsequentem Stellenabbau würde das die sichere Überalterung bedeuten. „Das kann in den nächsten Jahren tatsächlich ein Problem werden“, sagt die Oberregierungsrätin und dabei nickt sie langsam.

Am Ende des Gespräches sagt Inge Ragaller, die sich nun sehr viel mit Angestelltentarifverträgen, Ver.di, Arbeitsgerichten und dergleichen herumschlägt, noch etwas. „Beamte sind pflegeleichter. Nicht weil die kuschen, nein. Sie können Beamte einfach überall einsetzen. Schauen Sie, jeder Beamte hat ja eine ähnlich breit gestreute Ausbildung durchlaufen. Auf diese Art sind ihre Berufe alle miteinander verwandt.“

Das ist ein wenig so, als wären alle Beamte auf derselben Schule gewesen, denkt man später, beim Abstieg durch das Treppenhaus. Und Inge Ragaller war zwar nicht ihre Schulleiterin, aber sie war wohl ziemlich nah dran.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.