Weniger ist mehr

Die künstliche Verknappung eines Produkts ist ein probates Mittel, um seine Begehrlichkeit zu steigern – und den Preis. Das haben auch die Funktionäre der DDR gewusst. Und für Briefmarken den Sperrwert erfunden.




Die Regale sind vom Boden bis zur Decke mit Büchern, Katalogen und vor allem Briefmarkenalben gefüllt. Auf dem ausladenden Schreibtisch und daneben auf dem Fußboden stapeln sich Papiere und Zeitschriften. Aber alles scheint wohlsortiert. Von Chaos keine Spur. Peter Fischer findet sofort, was er sucht. Womit man schon mal zwei essenzielle Dinge über den 67-Jährigen erfährt: Der Mann sammelt. Und kann organisieren.

Beides zusammen tat Fischer mehr als zwei Jahrzehnte lang, von 1969 bis 1990, in ehrenamtlicher Funktion: erst als stellvertretender, dann, ab 1973, als erster Vorsitzender des Philatelistenverbandes im Kulturbund der Deutschen Demokratischen Republik. Fischer war damit „der oberste Briefmarkenmensch in der DDR“. Das Amt machte den einst hauptberuflichen Journalisten zum Verfechter einer ureigenen Erfindung der DDR: des Sperrwerts.

Der nahm seinen Anfang lange vor Beginn von Fischers Amtszeit. Mitte der fünfziger Jahre verschob sich der inoffizielle Wechselkurs zwischen der D-Mark (BRD) und der Mark (DDR) immer stärker zu Gunsten der Westwährung. Zwischen eins zu vier und eins zu zehn schwankte der Kurs auf dem Schwarzmarkt. Die Wirkung auf den Briefmarken-Handel folgte prompt. Ursprünglich hatten die Ost- mit den Westsammlern paritätisch getauscht – eine Marke zu zehn Pfennig Ost gegen eine zu zehn Pfennig West. Nun wollten sich die Sammler aus dem Westen damit nicht mehr zufrieden geben und verlangten von ihren Tauschpartnern im Osten immer mehr, nicht selten das Doppelte, Dreifache oder gar Vierfache des Wertes ihrer West-Marken.

Zudem vermasselten geschäftstüchtige Westberliner den Ost-Sammlern das Tauschgeschäft: In Scharen nutzten sie die damals noch offene Sektorengrenze, um regelmäßig an den Postschaltern der DDR große Mengen Ost-Briefmarken zu kaufen und sie anschließend mit Gewinn im Westteil der Stadt wieder unter die Sammler zu bringen.

Für die Außenhandelsfunktionäre der DDR war das ein Problem. Sie hatten schon lange entdeckt, dass sich Briefmarken gut gegen harte Devisen in den Westen verkaufen ließen. Durch die Schwäche der Ostwährung und die Aktivitäten der Westhändler schien ihre Einkommensquelle bedroht.

Es musste dringend ein Weg gefunden werden, den Kapitalisten das Geschäft zu erschweren und es auf den offiziellen staatlichen Export der DDR umzulenken. Die Idee: Verknappung. Ein Wert jeder Briefmarken-Serie sollte künftig in sehr geringer Auflage gedruckt werden.

Es kam zu einer hitzigen Debatte. Die DDR-Philatelisten hatten Angst, beim Verkauf der knappen Marken leer auszugehen – schließlich wollten die Export-Bürokraten in erster Linie Westlern das Geld aus der Tasche ziehen. Ein Argument überzeugte am Ende selbst die Ost-Sammler. Dass auch ihr Leben durch Devisen besser würde. „Wir sagten unseren Mitgliedern, ihr wollt ja auch Kaffee trinken und ab und zu mal Bananen und Apfelsinen essen“, sagt Fischer. Das zog.

Dennoch handelte die Sammler-Zunft eigene Vergünstigungen aus: Jedermann, so das Zugeständnis der Funktionäre im Außenhandel, konnte am Ausgabetag bis zu fünf Exemplare der seltenen Marken am Postschalter erstehen. Später wurde die Zahl auf drei reduziert. Sammler bekamen Extrarechte. Sie durften Marken-Abonnements abschließen. Gegen eine Bescheinigung vom Philatelistenverband, die sie als aktive Sammler auswies, konnten sie bis zu sechs Werte kaufen.

Offiziell bekamen die verknappten Marken den Titel „gebundene Werte“, später wurden sie in „Werte mit geringerer Auflage“ umbenannt. Im Volksmund und besonders bei all jenen, die gegen die Regelung waren, hießen sie schlicht „Sperrwerte“.

Schiller ziert 1955 den ersten Sperrwert

Der erste Briefmarkensatz mit Sperrwert erreichte am 30. April 1955 die Postschalter der DDR. Die Werte zu zehn und zwanzig Pfennig der Serie zum 150. Todestag von Friedrich Schiller wurden in einer Auflage von drei Millionen Stück gedruckt, der Fünf-Pfennig-Wert jedoch nur 750.000-mal. Die DDR-Nr. 464 im Michel-Katalog Deutschland, der Bibel aller Briefmarkensammler, ist der erste Sperrwert. „Der Außenhandel verkaufte die Marken zu zehn und zwanzig Pfennig weit unter Nominalwert in den Westen“, sagt Fischer „und den Sperrwert weit darüber.“

Sperrwert wurde ein Reizwort unter Briefmarkensammlern. Die Einmischung der DDR-Regierung war ein Tabubruch. Sammlerpreise waren immer Marktpreise gewesen: Sie hatten sich einerseits nach Verfügbarkeit gerichtet, andererseits aber auch nach der Romantik des betreffenden Gegenstandes, der Geschichte, die er zu erzählen hat, dem Grund für seine Seltenheit. Im Bereich des Briefmarkensammelns waren das politisch-historische Umstände, Umstürze und Kriege oder aber groteske Fehler wie verkehrt herum gedruckte Ziffern. Eine planwirtschaftlich verordnete Rarität hatte keinerlei Romantik.

Verknappte Marken kommen auf den Index

Prompt trat wegen dieser Regelverletzung die F.I.P. auf den Plan. Die Fédération Internationale de Philatélie, der in der Schweiz ansässige internationale Dachverband der Briefmarkensammler, setzte die Sperrwerte auf die „Liste unerwünschter Ausgaben“ – Marken, die aus irgendwelchen Gründen gegen die Spielregeln verstießen. Sammlungen galten folglich auch ohne Sperrwerte als vollständig. Auf internationalen Briefmarkenausstellungen durften sie nicht gezeigt werden.

„Das ging so weit, dass F.I.P.-Vertreter vor einer offiziellen Eröffnung die Ausstellungen abgingen und solche Marken umdrehten“, erinnert sich Peter Fischer. Proteste seitens des Philatelistenverbandes der DDR ließen die F.I.P. unbeeindruckt. „Der Krieg unter den Briefmarkensammlern war letztlich eine Fortsetzung des Kalten Krieges“, sagt Fischer heute. Anträge der organisierten Philatelie der DDR auf Aufnahme in den F.I.P. wurden regelmäßig abgelehnt. „Da hieß es einfach: Sorgt doch erst mal dafür, dass eure Briefmarken frei verfügbar sind“, sagt Fischer.

Mit dem politischen Tauwetter in den siebziger Jahren entspannten sich schließlich auch die Ost-West-Beziehungen der Philatelisten. Der DDR-Verband wurde 1969 in die F.I.P. aufgenommen. Anfang der siebziger Jahre verlor auch die schwarze Liste des Dachverbandes der Briefmarkensammler an Bedeutung – Sammler im Westen Sammler und mehr als 20 Jahre lang der oberste Briefmarken-Mensch in der DDR – Peter Fischer mochten sich nicht länger vorschreiben lassen, was sie sammeln dürfen. Es wurde leise um den Sperrwert. Sein Ende wurde schließlich durch die Wiedervereinigung besiegelt. Die DDR-Post wurde mit der Deutschen Bundespost zusammengelegt. Der letzte Sperrwert erschien im Juni 1990, Michel-Nr. 3343. Die Auflage lag bei 2,1 Millionen Exemplaren. Fischer hat noch heute Verständnis für die Sperrwert-Regelung: „So konnte die Regierung mit Briefmarken viel mehr Devisen erwirtschaften als ohne.“

Die Zahl der Briefmarkenabonnements stieg übrigens in der DDR bis zuletzt an: „Die Leute dachten, das wird mal wertvoll.“ Leider irrten sie. Zwar kletterten die Preise ab 1990 auf ein kleines Zwischenhoch, weil Deutschland-Sammler ihre Alben mit den DDR-Marken auffüllten. Doch dann sanken sie. Heute sind die meisten Sperrwerte lediglich ein paar Euro wert. „Wer auf den Sperrwert gesetzt hat“, sagt Peter Fischer trocken, „der hat sich verspekuliert.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.