Von der Amöbe lernen

Wie schafft es ein Unternehmen, sich ständig an neue Umgebungen anzupassen, dauernd Optionen zu prüfen, seine Form und Struktur immer wieder zu verändern und dabei im Kern doch stabil zu bleiben?
Ganz einfach: Es verzichtet auf fast alles, was eine klassische Organisation ausmacht. Bei Gore gibt es keine Hierarchie, keine Stellenbeschreibungen, keine Titel, keine Chefs. Die Mitarbeiter sollen sich selbst führen.




Mira Czutka öffnet eine Tür der Schrankwand in ihrem Büro. Sie holt einige Päckchen hervor, die in Klarsichtfolie gehüllt sind und die Form eines Sofakissens haben. „Das Schwierige an unseren Produkten ist, dass man ihre Funktionalität nicht sehen kann“, sagt sie, reißt eines der Päckchen auf, zieht eine Windjacke heraus und hält sie ins Licht. „Sie können nicht sehen, dass da eine Membran drin ist. Sie können auch nicht sehen, dass die Jacke winddicht und scheuerbeständig ist. Wir müssen unseren Kunden gegenüber immer wieder transportieren, warum sie diese Teile brauchen, was das bringt für den Anwender.“ Mira Czutka öffnet weitere Päckchen und breitet Jacken auf dem Tisch aus, eine ist dunkelblau, eine leuchtend orange, die dritte trägt ein Tarnmuster. „Außen Webware, innen Fleece für die Wärmeisolation, erstaunlich leicht und dabei robust.“ Die australische Armee setzt die Tarnjacken im Irak ein. Die polnische Post trägt die blauen.

„Product Range Manager“ steht auf der Visitenkarte von Frau Czutka, „Think Positive“ auf ihrem Mousepad. Sie entwickelt und vertreibt mit Kunststoff beschichtete Kleidungsstücke, die für den täglichen Einsatz unter extremen Bedingungen bestimmt sind. Zu ihren Kunden gehören Armeen, Feuerwehren und Entsorgungsunternehmen, aber auch Fußballvereine. „In der Kategorie Next-to-Skin haben wir diese Funktionswäsche eingeführt“, sagt sie und präsentiert ein seidig glänzendes Leibchen: „Das dünne Laminat verhindert das Auskühlen bei Spielen oder beim Training in der Kälte und hält den Körper des Trägers leistungsfähig.“

Die Kunden von Holger Stolpmann kommen aus der Öl- und Erdgasindustrie. Fragt man ihn nach seiner Job-Bezeichnung, antwortet er: „Area Sales Manager.“ Stolpmann vertreibt ein Verfahren zur geochemischen Erkundung der Erdkruste. Zu seinen Einsatzgebieten gehören Afrika und der Mittlere Osten. Mit etwa 70 Zentimeter langen, hochsensiblen Schnüren aus Kunststoff kann er direkt unter der Oberfläche Gaspartikel lokalisieren, die aus der Tiefe aufsteigen. Dieses Verfahren hilft beim Auffinden von fossilen Brennstoffvorkommen. „Wir haben einen Sensor entwickelt, der minimale Mengen von Kohlenwasserstoffen messen kann“, sagt Stolpmann. „Mit seiner Hilfe verringert sich das Risiko von Bohrungen nach Öl und Gas, die 3000 bis 4000 Meter tief in die Erde gehen.“ Jede Bohrung kostet zwischen zwei und 25 Millionen US-Dollar, und nur in 30 bis 40 Prozent der Fälle wird tatsächlich Öl gefunden. Um die Lagerstätten zu treffen, braucht man vor der Bohrung möglichst präzise Informationen.

„Unser Verfahren trägt dazu bei, das Risiko eines Fehlschlags um fünf bis zehn Prozent zu senken.“ Auf Grundlage der Messungen werden Karten entwickelt, die zeigen, wo sich die Lagerstätten im Untergrund ausbreiten. „Da zählen nur klare Erfolge“, sagt Stolpmann. „In der Erdölindustrie geht es einfach um zu viel Geld, als dass man sich mit einer Wünschelrute abgeben könnte.“

Mira Czutka entwickelt Funktionstextilien, Holger Stolpmann ortet Öl- und Gasreservoirs. Beide arbeiten für dieselbe Firma. W. L. Gore & Associates ist ein Unternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, immer neue Anwendungen für den Kunststoff Polytetrafluorethylen (PTFE) zu finden, zu produzieren und zu vermarkten. PTFE ist ein äußerst robustes und vielseitiges Material, das vor allem unter dem Markennamen Gore-Tex bekannt wurde. Es ist reißfest und beständig gegenüber extremen Temperaturen. Es verträgt sich mit lebendigem Gewebe, die meisten Säuren und Laugen können ihm nichts anhaben, und der Grad seiner Durchlässigkeit für kleinste Teilchen lässt sich genau steuern. In einer ganzen Reihe von Einsatzgebieten sind diese Eigenschaften von großem Nutzen. Gore produziert unter anderem widerstandsfähige Kabelisolierungen, atmungsaktive Schuhe, Implantate für die plastische Chirurgie und künstliche Blutgefäße; Filter für Verbrennungsanlagen, Dichtungen für Rohre und Ausgleichsmembrane für Akkumulatoren und Brennstoffzellen; Jacken, die kein Wasser durchlassen, Zahnseide, die nicht fasert, und Gitarrensaiten, die nicht reißen.

Selbstregulierende Systeme fördern Kreativität

Gore ist Weltmarktführer im Einsatz von PTFE und baut diese Position mit jedem neuen Patent aus. Der Motor des Unternehmens ist seine Innovationskraft, die fortwährende Suche nach neuen Möglichkeiten, das Material marktgerecht anzuwenden. So ein Unternehmen braucht Mitarbeiter, die kreativ und beweglich sind – zwei Eigenschaften, die vom Aufbau der Firma begünstigt werden: Gore hat eine Organisationsform gefunden, die mit dem Anspruch auf Innovation und Kreativität harmoniert. „Starre Strukturen müssen selbstregulierenden Systemen Platz machen, die den Kern eines sich entwickelnden, ‚fließenden‘ Unternehmensgefüges bilden“, schreibt Heinrich Flik, langjähriger Geschäftsführer der deutschen Gore-Niederlassung in einem Aufsatz über Strategien der Personal- und Organisationsentwicklung. Er vergleicht das Gore-Modell mit einer Amöbe. Die Amöbe, deren Name sich vom altgriechischen Wort für Veränderung ableitet, nimmt ständig neue Formen an, bleibt aber nach außen klar definiert und nach innen stabil. Mit so genannten Scheinfüßchen tastet sie sich an Nahrungspartikel heran, die sie untersucht, umschließt und schließlich absorbiert. Erweist sich der Fremdkörper als ungenießbar, zieht sie ihre Füßchen schnell wieder ein.

Nach ihrem Vorbild sollen lern- und entscheidungsfähige Teams innerhalb einer Organisation, die sich kontinuierlich wandelt und auf eine hierarchische Architektur verzichtet, Marktchancen identifizieren und nutzen. Oder eben schnellstmöglich davon ablassen, falls sich eine Idee als untauglich herausstellt. Abgesehen von ein paar konsistenten Grundprinzipien, scheint die Veränderung tatsächlich das Einzige zu sein, was bei Gore Bestand hat. „Bei uns ist alles in Bewegung“, sagt Mira Czutka. „Eine Gruppe wächst, braucht Platz, verdrängt eine andere Gruppe, die sich daraufhin neu organisieren muss. Da braucht man die Bereitschaft, sich an neue Situationen anzupassen.“ Seit 13 Jahren arbeitet sie bei Gore. Alle zwei bis zweieinhalb Jahre ist sie innerhalb des Werks umgezogen.

Geld verdienen und Spaß haben

Die Geschichte von W. L. Gore & Associates begann 1958 in einer Garage im US-Bundesstaat Delaware. Gründer Bill Gore war Mitarbeiter der Forschungsabteilung des Chemieriesen Dupont und hatte ein paar Ideen zur Anwendung von PTFE, die für seinen Arbeitgeber uninteressant waren. Außerdem weigerte sich Gore, daran zu glauben, dass Menschen nur arbeiten, um Geld zu verdienen, dass sie Belastungen am liebsten aus dem Weg gehen und dass sie deshalb eng geführt und kontrolliert werden müssen. Vielmehr ging er davon aus, dass jeder Mensch das Potenzial in sich trägt, verantwortlich zu handeln und Initiative zu ergreifen, und dass diese Eigenschaften nur gefördert werden müssen. Projektgruppen, die sich ohne Ansehen von Rang an ihren Aufgaben orientieren, kommen schneller zu Ergebnissen, hatte er beobachtet. Bei Dupont war die Arbeit in selbst organisierten Teams dennoch die Ausnahme geblieben. Bill Gore machte die Ausnahme zur Regel und schuf so die Voraussetzung für die Verschmelzung von lose organisierten Arbeitsgruppen zu schlagkräftigen Teams, die im besten Fall den Nukleus für neue Geschäftsbereiche bilden. Heute ist Gore ein globales Familienunternehmen mit mehr als 6000 Mitarbeitern, die in 45 Werken und vier Geschäftsbereichen – Elektronik, Industrieprodukte, Medizin und Textilien – tausende verschiedene Produkte fertigen und damit rund 1,3 Milliarden US-Dollar im Jahr umsetzen.

Die Aufbruchsstimmung, die in Bill Gores Garage herrschte, ist der Firma erhalten geblieben. Etwa zehn Prozent des Umsatzes fließen in den Bereich Forschung und Entwicklung, und noch heute steht die damals formulierte Vision „Geld verdienen und Spaß haben“ für den Einklang von unternehmerischen und persönlichen Zielen – Wertschöpfung und Gewinnmaximierung kombiniert mit Selbstverwirklichung und Autonomie. „Wenn unsere Mitarbeiter die Möglichkeit haben, sich einzubringen und das Unternehmen nach ihren eigenen Ideen und Vorstellungen zu gestalten“, sagt Jan-Sören Wörmer, der für die Personalentwicklung der europäischen Gore-Mitarbeiter verantwortlich ist, „dann haben sie mehr Spaß an der Arbeit und sind motivierter. Davon profitiert wiederum das Unternehmen.“

Tatsächlich ist Spaß ein Wort, das immer wieder fällt, wenn man mit Gore-Mitarbeitern spricht. Spaß an der Arbeit, Spaß mit den Kollegen. Wer sich in der Putzbrunner Zentrale zur Mittagszeit auf den Weg in die Kantine macht, kommt sich beinahe vor wie in einer amerikanischen Vorabendserie aus den fünfziger Jahren, so freundlich und vertraut ist der Umgang miteinander. „Bei uns wird wahnsinnig viel gelacht“, sagt Mira Czutka.

„Wenn Sie einen Vormittag hier verbringen, können Sie davon ausgehen, dass Sie mindestens einmal von irgendwoher schallendes Gelächter hören.“ „Wir managen keine Menschen, die Menschen managen sich selbst“, hat Bill Gore einmal gesagt. Sein Führungsstil wurde als „Un-Management“ bezeichnet. Dabei basiert seine Organisation auf klaren Regeln. Die vier für alle Gore-Mitarbeiter verbindlichen Unternehmensprinzipien lauten: Freiheit, Selbstverpflichtung, Fairness und Waterline. Freiheit steht für die Möglichkeiten, sich zu entwickeln, eigenen Ideen nachzugehen, ein Unternehmer innerhalb des Unternehmens zu werden. Konsequenterweise bedeutet Freiheit aber auch eine gewisse Toleranz des Unternehmens gegenüber Fehlern und Misserfolgen der Mitarbeiter. „Wenn man zu Gore kommt, kann man sich gar nicht vorstellen, welche Freiheiten man hat“, sagt Holger Stolpmann. „Am Anfang ist jeder eher vorsichtig und konservativ. Man muss lernen, die Freiheit zu nutzen. Der wichtigste Lernschritt bei uns bedeutet, andere zu fragen, sich Input zu holen.“

Selbstverpflichtung heißt, dass die Mitarbeiter nicht auf Anweisung handeln sollen, sondern aus innerer Überzeugung. Jeder bestimmt seine Verpflichtungen selbst – und hält sich daran. „Wir organisieren uns um freiwillig übernommene Aufgaben herum“, sagt Jan-Sören Wörmer. „Wenn man etwas aus eigenem Antrieb macht, gelingt es besser, als wenn man dazu gezwungen wird.“ Umgekehrt bedeutet das: Wer sich vor Verpflichtungen drückt, fällt schnell auf. Das persönliche Engagement wird durch ein internes Beurteilungssystem evaluiert. Jedes Jahr im Frühjahr geht aus einem Ranking hervor, wie zuverlässig und engagiert jeder Mitarbeiter ist.

Fairness ist die Grundlage für die Teamarbeit innerhalb des Hauses ebenso wie für die Zusammenarbeit mit Kunden und Zulieferern. Nach außen trägt sie dazu bei, die Kunden an Gore zu binden und langfristig Märkte zu sichern. Nach innen sorgt sie für ein vertrauensvolles Miteinander. Der Konkurrenzdruck innerhalb des Unternehmens ist gering. „Zum internen Wettbewerb besteht keine Anlass“, sagt Holger Stolpmann, „weil nur der Teamerfolg zählt.“

Teilhaber mit Reputation – aber ohne Statussymbole

Die Analogie der Waterline, dem vierten Gore-Unternehmensprinzip leitet sich von einem Schiff ab, an dem noch gebaut wird, obwohl es sich schon im Wasser befindet. Wenn jemand unterhalb der Wasserlinie ein Loch in den Rumpf bohrt, dringt Wasser ein und das Schiff droht unterzugehen. Auf Gore übertragen bedeutet das, dass ein Mitarbeiter bei jeder Handlung, die das Unternehmen gefährden könnte, dazu angehalten ist, sich mit anderen zu beraten, um die Verantwortung zu teilen. Oberhalb der Wasserlinie, also außerhalb des existenziellen Bereichs, sind Experimente nicht nur erlaubt, sondern sogar ausdrücklich erwünscht. Ein Gefühl für die Verhältnismäßigkeit seiner Handlungen muss jeder Mitarbeiter selbst entwickeln. „Es dauert etwa zwei bis drei Jahre, bis man dieses Prinzip verinnerlicht hat“, sagt Mira Czutka. „Dann bekommt man automatisch mit, wann es heikel wird, und holt sich Rat.“

Während diese vier Grundprinzipien den Rahmen für das Verhalten der Mitarbeiter bilden, wird ihr Platz im Unternehmen durch ein Partner-Modell bestimmt. Die Mitarbeiter sind keine Angestellten, sondern Teilhaber, die über einen Beteiligungsplan vom Wachstum ihres Unternehmens profitieren. Dafür müssen sie auf die in hierarchischen Organisationen üblichen Insignien von Status und Macht verzichten, beispielsweise auf den symbolischen Wert eines Titels. Die Job-Beschreibung auf der Visitenkarte repräsentiert die Funktion eines Mitarbeiters nur nach außen, innerhalb der Firma gilt die Devise „No ranks, no titles“. „Die Reputation im Unternehmen wird nicht durch eine Position definiert“, sagt Mira Czutka. „Die muss man sich schon erarbeiten.“

Auch nach Vorgesetzten sucht man bei Gore vergeblich. Stattdessen gibt es „Sponsoren“ und „Leader“ – und das sind nicht nur andere Begriffe. Führer wird man bei Gore nicht durch die Anzahl von Dienstjahren: Zur Führungskraft wird man gewählt. Jeder neue Mitarbeiter sucht sich seinen Sponsor, eine Art Mentor, der seinen Schützling während der gesamten Unternehmenslaufbahn begleitet, ihm zunächst dabei hilft, sich zu orientieren und im weiteren Verlauf sein Potenzial innerhalb der Organisation zu maximieren. Jeder Sponsor betreut bis zu 15 „Sponsees“.

Auch der Leader wird von seinem Team gewählt – aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten und seines Ansehens innerhalb des Teams. Führen bedeutet bei Gore die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Rechenschaft abzulegen. Und wie alles im Unternehmen hat auch die Leader-Funktion keine Bestandsgarantie: Wer ein Team führt, kann im nächsten Projekt nur Kollege sein, denn führen können viele, und bei Gore tun sie das auch. Ende der achtziger Jahre wurden die amerikanischen Gore-Mitarbeiter gefragt, ob sie sich selbst als Führungskraft sehen. 47 Prozent aller Befragten haben diese Frage mit Ja beantwortet.

Netzwerke statt Hierarchien

Das Teilhaber-Modell ist in einer flachen, dezentralen und eng verknüpften Gitterstruktur verankert, die zur direkten Kommunikation ermutigen und die Produktivität und Innovationskraft des Unternehmens erhöhen soll. Wer ein Projekt organisiert, sucht sich Verbündete. Holger Stolpmann zum Beispiel organisierte vor einigen Jahren eine große Messe im World Trade Center von Dubai, die Big-Five-Show. Dafür sollte er in kürzester Zeit eine Gruppe von Gore-Repräsentanten zusammenstellen, für die es sinnvoll wäre, bei einer solchen Show dabei zu sein – Mitarbeiter aus ihm fremden Bereichen wie Beschattungstextilien, Dichtungstechnologien und Kompostierungsanwendungen. Innerhalb kürzester Zeit aktivierte Stolpmann sein persönliches Netzwerk und knüpfte neue Verbindungen. In einem hierarchisch strukturierten Unternehmen mit Vorzimmern, Dienstreiseanträgen und Reisekostenerstattungsformularen wäre der Messeauftritt vermutlich nie zu Stande gekommen.

Bei Gore hat man gelernt, dass das Gefüge der direkten, zwischenmenschlichen Kommunikation ins Wanken gerät, sobald ein Betrieb eine gewisse kritische Größe überschreitet. In einer anonymen Umgebung fällt das freiwillige Engagement schwerer; es wird leichter, sich zu verstecken. Sobald ein Gore-Werk mehr als 150 Mitarbeiter hat, spaltet sich deshalb in einer Art Zellteilung eine neue Zweigstelle ab. Im Industriegebiet von Putzbrunn bei München hat sich so ein Cluster von vier eigenständig operierenden Gore-Werken gebildet. Aber auch jenseits der reinen Mechanik von Wachstumsprozessen muss Gore sich an äußere Umstände anpassen, und Teile der gelebten Kultur modernisieren. Aufgrund des Kostendrucks wurden im Laufe der neunziger Jahre bestimmte Aufgaben zentralisiert – auf Kosten der persönlichen Nähe, zu Gunsten der Effizienz. So hatte früher jedes der vier Werke in Putzbrunn eine eigene Kantine. Jetzt verköstigt eine Kantine alle vier Werke. Außerdem gibt es nur noch eine Personalabteilung, zudem wird der IT-Support zentral gesteuert.

Auch jenseits der Werks-Cluster zeichnet sich eine Zentralisierung ab. Das Führungskräfteprogramm läuft europaweit, und selbst ein Unternehmen wie Gore kann es sich nicht leisten, dass sich Teams an verschiedenen Standorten mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen, ohne voneinander zu wissen. „Neue Ideen gehen wir inzwischen global an“, sagt Richard Leckenwalter. Seit zwei Jahren gehört Leckenwalter zu einem zehnköpfigen weltweiten Team, das die Aufgabe hat, die Kompetenzen aus den einzelnen Unternehmensbereichen zu bündeln und systematisch neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Das Unternehmen ändert sich – die Kultur bleibt

So ergänzt sich etwa das Wissen aus den Bereichen Industrieprodukte und Textilien auf dem Gebiet der Nutzung von Sonnenenergie: Eine zukünftige PTFE-Anwendung könnten flexible und bruchfeste Solarzellen sein. Solche Energiespeicher könnten in textile Flächen eingearbeitet werden und zum Beispiel Zelte mit eingebauter Kühlfunktion ermöglichen. Auch das Kork-Problem, das bei vier bis sechs Prozent aller Weinflaschen auftritt, könnte schon bald von einer PTFE-Membran behoben werden. Und ein Barrierelaminat könnte verhindern, dass Bakterienkulturen den Wein verderben, ohne die Atmungseigenschaften des Korkens zu beeinträchtigen.

Doch auch wenn der Wettbewerbsdruck die Gore-Organisation zur Veränderung zwingt und den Freiraum des Einzelnen ein wenig einschränkt, bildet das Vertrauen in das Leistungsvermögen eines jeden Mitarbeiters auch weiterhin den Kern der Unternehmenskultur von W. L. Gore & Associates. Ausgeschöpft werden kann dieses Potenzial jedoch nur, wenn die Mitarbeiter ihre Stärken und Schwächen kennen. Zu den zentralen Werkzeugen der Personalentwicklung gehört deshalb auch bei Gore ein regelmäßiges 360-Grad-Feedback, das den Mitarbeitern dabei helfen soll, ihre Selbsteinschätzung an die Außenwahrnehmung von Kollegen anzugleichen und die Sensibilität für ihre Möglichkeiten und Grenzen zu schärfen. „Durch die Feedback-Kultur erfährt man sehr direkt, wo es gut läuft und wo es noch besser laufen könnte“, sagt Mira Czutka. „Das holt einen immer wieder zurück auf den Boden.“

Nicht jeder kommt mit dieser ehrlichen und auf individuelles Engagement ausgerichteten Kultur klar. Die Fluktuation ist bei Gore nicht niedriger als anderswo. „Am schnellsten gehen die, die nicht verstehen, warum sie auf dem Flug von Frankfurt nach München nur in der Economy Class sitzen“, sagt Holger Stolpmann. Oder all jene, die Freiraum zwar ersehnen, ohne ordnende Hierarchie aber die Orientierung verlieren.

Wer sich selbst organisieren kann, Kreativität nicht mit Narrenfreiheit verwechselt, Autonomie schätzt und bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wer Führung als Qualifikation und nicht als Status versteht, findet bei Gore schnell ein Zuhause. Hier wird es wohl nie vorkommen, dass ein Mitarbeiter in die Entwicklung eines Projektes nur deshalb eingebunden wird, weil es sein Status gebietet. „Wenn du bei Gore um eine Einschätzung gebeten wirst“, sagt Stolpmann, „dann kannst du dir sicher sein, dass derjenige, der fragt, deine Meinung auch wirklich hören will.“

Meilensteine der Unternehmensgeschichte

1958 – Bill Gore und seine Frau Vieve gründen W. L. Gore & Associates, um Produktanwendungen von Fluorpolymeren, insbesondere von Polytetrafluorethylen (PTFE) zu erforschen. Im Keller ihres Wohnhauses in Newark im US-Bundesstaat Delaware entwickeln sie das erste Produkt: eine Kabelisolierung. 1961 – Das Haus der Gores wird zu klein, sie eröffnen ihre erste Fabrik. 1965 – Gore wird international: In der BRD wird die Gore GmbH eingetragen. Zwei Jahre später beginnt Gore in Schottland mit der Produktion von Kabeln. 1969 – Gore-Kabel werden bei der Mondlandung eingesetzt. Bill Gores Sohn Bob findet heraus, dass beim schnellen Dehnen von PTFE ein mikroporöses und widerstandsfähiges Material entsteht: gerecktes PTFE – die Grundlage für die Herstellung von Gore-Tex. 1973 – Einstieg ins Industriefiltergeschäft, Gründung der Japan Gore-Tex Co., Ltd. 1975 – Gore verkauft die erste Gefäßprothese aus Gore-Tex an einen Chirurgen aus Virginia. 1977 – Erste Gore-Tex-Anwendungen im Bereich Freizeitkleidung: Der Katalog der Firma Early Winters wirbt für Regenjacken aus dem leichten Material. 1981 – Die NASA-Astronauten der ersten Space-Shuttle-Mission tragen Raumanzüge aus Gore-Fasern. 1986 – Einsatz des millionsten Implantats aus dem Hause Gore. 1989 – Gore garantiert den Käufern von Kleidungsstücken, dass sie bei jedem Wetter trocken bleiben. Ein Jahr später durchquert ein Expeditionsteam in Gore-Tex-Outfits die Antarktis. 1992 – Mit der Zahnseide Glide steigt Gore in den Markt der Consumer-Produkte ein. Es folgen Filterpatronen für Staubsauger und Gitarrensaiten. 1999 – Gore führt ein Filtersystem ein, das giftige Dioxin- und Furangase in harmlose Stoffe umwandelt. 2000 – Chuck Carroll wird CEO. Er ist der erste Manager an der Unternehmensspitze, der kein Mitglied der Familie Gore ist. Die Firma bleibt jedoch in Familienbesitz. 2004 – Gore beschäftigt mehr als 6000 Mitarbeiter in 45 Betrieben und setzt etwa 1,3 Milliarden US-Dollar im Jahr um. Im „100 Best Companies to Work for“- Ranking des US-Magazins Fortune belegt Gore den zwölften Platz. Seit Einführung der Liste im Jahr 1998 rangiert das Unternehmen auf den Spitzenplätzen.

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.