Fragen, prüfen, verstehen, vergessen

Das größte Problem, das die Informationstechnologie mit sich bringt, ist nicht die ungeheure Flut von Informationen, sondern der intelligente Umgang damit, meint der Wirtschaftswissenschaftler Gerd Walger von der Universität Witten/Herdecke. Gelöst wird es seiner Ansicht nach nicht durch aufwändiges Datenmanagement, sondern durch eigenständiges Denken.




McK: Professor Walger, zur Vorbereitung auf unser Gespräch hätte ich mich aus einem Riesenstapel an Büchern, Artikeln und Analysen zum Thema Wissensmanagement bedienen können. Das Problem nur: Woher weiß ich, welche Teile dieses Materialbergs wirklich wichtig sind und welche überflüssig?

Gerd Walger: Das ist das Grunddilemma unserer Wissensgesellschaft. Weil der Zugang zu und die Verfügbarkeit von Wissen immer weiter wachsen, wird das Wissen selbst unüberschaubar. Das hängt zum einen mit unseren technischen Möglichkeiten, zum anderen mit unserem unklaren Wissensbegriff zusammen. Information ist etwas ganz anderes als Wissen. Dennoch wird heute jede Information unabhängig von ihrem Entstehungs- und Sinnzusammenhang als Wissen aufgefasst. In fast allen Bildungszusammenhängen geht es nur um die Anhäufung und den Transfer abstrakter Informationen.

Worin besteht der Unterschied?

Information heißt dem Wortsinn nach nichts anderes als „etwas, das in eine Formation gebracht ist“, also dass es auf einen konkreten Zweck hin geformt ist. Information ist abstrakt. Wissen hingegen ist an die Person gebunden – Erkenntnis. Bei den alten Griechen – etwa in Platons Höhlengleichnis – ging es darum, zu erkennen, was hinter den Dingen liegt, und dazu muss man Wissen erst einmal denkerisch überprüfen. Solches Wissen ermöglicht es, die Bedeutung von Informationen zu beurteilen.

Tut das nicht jeder von uns, jeden Tag?

Nein. Diese Fähigkeit ist uns in der Moderne völlig abhanden gekommen. Wir reißen Informationen aus ihrem Kontext und hoffen, dass irgendwer sie irgendwie verwenden kann. Die Folge: Wir wissen nicht mehr, was wir wissen. Tag für Tag schlagen wir uns mit Information Overloads herum – so wie Sie bei Ihrer Vorbereitung auf unser Gespräch.

„In gewisser Weise ist Information das Gegenteil von Wissen“, hat der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer gesagt. „Worüber ich informiert bin, das brauche ich nicht zu begreifen. Und wenn ich ganz informiert bin, in Form gebracht, bin ich im Grunde tot.“

Wissen hat in der Tat wenig mit dem Konsum von Informationen zu tun. Um etwas zu begreifen, muss ich es erfassen, also neu durchdenken und prüfen, ob es für mich von Relevanz ist. In der Wissensgesellschaft ist dieses Wissen, das durch Nachdenken entsteht, die Lösung für das Problem des Information Overload. Im alten Griechenland wurde Wissen auch nicht als ein Bündel von Informationen, sondern als ein Erkenntniszusammenhang verstanden. Es wurde durch Erfahrung angesammelt und mittels Denken überprüft. Und indem man beides tat, bildete man sich. Wissen war an die persönliche Bildung geknüpft, Bildung galt als die elementare Aufgabe des Menschen. Der Grundsatz, der all dem zugrunde lag, ist der delphische Ausspruch: „Erkenne dich selbst als sterbliches Wesen.“

Was kann die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts von einer Kultur lernen, die vor mehreren tausend Jahren untergegangen ist?

Etwas sehr Elementares: dass uns ohne Bildung das Menschsein verloren geht. Letztlich verlieren wir uns selbst. Reinhard Mohn, der Bertelsmann-Gründer und langjährige Direktoriumsvorsitzende der Universität Witten/ Herdecke, hat dieses Problem in seinem jüngsten Buch reflektiert: „Unsere Manager entbehren der Menschlichkeit“, schreibt er vor dem Hintergrund der Entwicklung von Bertelsmann und spricht von Systemversagen: Der Manager, der sich seines Menschseins nicht bewusst ist, bedrohe unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Ich denke, Mohn hat mit dieser Einschätzung Recht.

Eine andere Definition lautet: „Wissen ist eine Voraussetzung für erfolgreiches Handeln.“

Auch nicht schlecht. Nach Auffassung der alten Griechen gibt es in der Tat keine Trennung zwischen Denken – und damit auch Wissen – und Handeln. Wer dies aber in der Moderne auseinander nimmt, müsste erst einmal klären, was denn eigentlich Erfolg bedeutet. Die einseitige Orientierung am Shareholder-Value? Die Maximierung des Manager-Einkommens? Die Höhe der erwarteten Rendite?
Das Problem entsteht dadurch, dass im Managementwissen der Mensch nicht mehr vorkommt und ein reduziertes ökonomisches Kalkül vorherrscht. Diese eingeschränkte Vorstellung finden Sie auch in der modernen betriebswirtschaftlichen Theorie, die über die Ausbildung von künftigen Managern an den Hochschulen in die Praxis wirkt. Andersherum gesagt: Das, was Wissenschaft heute vielfach als Wissen im Sinne einer Lösung von Problemen präsentiert, beinhaltet bereits das Problem.

Wie ließe sich das ändern?

Indem wir uns unseres Menschseins erinnern. Solange der Manager sich selbst, seine Fähigkeiten und Ziele nicht wirklich kennt, kann er auch nicht beurteilen, welches Wissen für ihn und sein Unternehmen wichtig ist. Stattdessen behilft er sich mit Informationen, mit Schein-Wissen.

Es gibt aber doch eine ganze Reihe Herausforderungen, bei denen es hilfreich ist, auf das Wissen und die Erfahrung anderer bei der Bewältigung ähnlicher Herausforderungen zurückzugreifen.

Die Herausforderungen scheinen ähnlich, und deshalb greifen wir zu Wissen ähnlich wahllos wie zu den Produkten im Supermarkt. Einziger Unterschied: Im Supermarkt bleibt unsere Wahllosigkeit ohne Konsequenzen, denn die Differenzen zwischen Omo und Persil sind ziemlich marginal. Die Probleme in Unternehmen hingegen, auf die wir unser Wissen anwenden, sind häufig so different, dass wir ohne kompetente Beurteilung eher Schaden anrichten, als zu ihrer Lösung beitragen.

Demnach ist es wenig sinnvoll, Wissen herauszulösen und als Konserve in Datenbanken oder Wissensmanagement-Systemen um die Welt zu jagen.

Das hängt davon ab, wie wir mit diesen Datenkonserven umgehen. In der Wissenschaft beispielsweise muss jeder den Entstehungszusammenhang seines Wissens offen legen. Wenn Sie ein Buch schreiben, kommt in Ihrer Einleitung die Fragestellung und der Theoriezusammenhang vor, in den Sie den Gegenstand der Untersuchung stellen. In Ihrer Gliederung findet sich der Gedankengang, und in den Fußnoten zeigen Sie, woher Sie Ihre Informationen und Gedanken entlehnt haben. Im Literaturanhang wiederum legen Sie Ihre Quellen offen. Damit kann jeder Ihren Gedanken nachvollziehen, ihn übernehmen oder auch widerlegen.

Ein Kontext, der Datenbanken weitgehend fehlt.

Richtig, und deshalb lähmen immer mehr sinnlose Informationen die Unternehmen. Wichtiger, als immer mehr Informationen anzuhäufen, wäre daher eine ordentliche Prüfung: Welche Informationen braucht unser Unternehmen wirklich? Wer sich diese Fragen zusammen mit seinen Führungskräften stellt, kann sein Unternehmen tatsächlich schlanker und schneller machen. Deshalb gehört zu jedem Wissensmanagement unbedingt auch ein ordentliches Vergessensmanagement.

Was bedeutet das? Strukturierte Amnesie?

Wenn ein System immer mehr Dinge lernt, muss es im gleichen Zuge auch Dinge vergessen, sonst erstickt es früher oder später am Lernstoff. Fürs sinnvolle Verlernen oder Vergessen braucht es aber genau solche Kriterien wie für das Lernen selbst. Und damit sind wir wieder beim menschlichen Prüfstein, der uns heute fehlt. Manager müssen wieder zu verantwortlichen Unternehmern ausgebildet werden.

Einige Konzerne lösen das Komplexitätsproblem durch Prüfkommissionen, die als eine Art Torwächter entscheiden, was in ihr Wissensmanagementsystem eingepflegt wird und was nicht.

Auch das kann nur eine Notlösung sein, denn jede Art von Vorfertigung produziert wiederum ein Vorwissen, das den Zusammenhang bestimmt. Wissensprüfer kann nur der Einzelne selbst sein. Im alten Griechenland war zum Beispiel Sokrates ein solcher Wissensprüfer. Seine Devise lautete: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Wer unter dieser Maxime Wissen prüft, hat gute Chancen, einen Zusammenhang zu entschlacken.

Das persönliche Einholen von Wissen mag im überschaubaren Athen möglich gewesen sein – zum Handeln in einer globalisierten Welt brauchen wir aber immer schneller immer mehr Wissen, als dass wir es noch persönlich erfragen könnten.

Das mag sein, nur: Eine Summe aus dem Kontext gerissener Einzelinformationen hilft uns auch nicht weiter. Erst ein durch Nachdenken überprüftes Wissen macht einen Unternehmer handlungsfähig. Viele Unternehmer haben übrigens auch gar kein Wissens-, sondern in Wirklichkeit ein Zieldefinitionsproblem. Wenn sie wirklich wüssten, was sie wollen, hätten sie die zur Verfügung stehenden Alternativen bereits durchdacht.

Wenn ich aber jedes Wissen gründlich durchdenke, bevor ich es einsetze, ersetze ich lediglich den Information Overflow durch einen Work Overkill.

Sicher, man muss erst einmal investieren. Im Ergebnis ist es aber andersherum: Wer Zeit zu sparen versucht, indem er sich mit Pseudowissen weiterhangelt, vergeudet sie.

Trotzdem: Ihr Denkmodell bedeutet erst einmal eine enorme Entschleunigung.

Ernst Bloch hat gesagt: Wer in seinem Leben auch nur einen Gedanken ordentlich denkt, hat eine große Leistung vollbracht. Tatsächlich ist das meiste von dem, was wir hören, denken und lesen, schlicht redundant. Wodurch unterscheiden sich die Regalmeter betriebswirtschaftlicher Literatur? Durch Marginalien. Man braucht also nicht 27 Bücher zu lesen oder Unmengen an Daten zusammenzutragen, um den Kern einer Sache zu durchdringen. Wesentlich ist nicht, so viel Managementwissen wie möglich aufzunehmen, sondern persönliche Erfahrungen mit Hilfe von Theorien in ihrer Bedeutung reflektieren zu können. Dies übe ich mit meinen Studenten, indem ich Unternehmen in meine Lehrveranstaltungen einbeziehe und die in dieser Zusammenarbeit entstehenden Erfahrungen zum Gegenstand theoretischer Reflexion mache. Erst in der Reflexion entsteht Erkenntnis und damit jenes persönliches Wissen, das produktiv werden kann.

Was aber bedeutet das konkret für ein internationales Unternehmen, das über ähnliche Fertigungsstätten in vielen Ländern der Welt verfügt und das Wissen dieser Mitarbeiter weltweit zur Verfügung stellen will?

Es muss den Mitarbeitern die persönliche Erfahrung der Kultur der anderen Standorte und ihre Reflexion ermöglichen. Beides ist essenziell. Internationalität entsteht nicht, indem ich mich, überspitzt gesagt, mit einem Türken, einem Israeli und einem Amerikaner im Konferenzraum irgendeines Flughafens zusammensetze. Wenn man einen internationalen Zusammenhang will, muss man die unterschiedlichen Sinnzusammenhänge dieser Kulturen gut kennen.
Als die Grenze zur DDR aufging, habe ich es deshalb auch abgelehnt, in den neuen Bundesländern Unternehmen zu beraten. Warum? Weil mir klar war, dass ich nicht verstehen würde, was mein Gesprächspartner meint, wenn er beispielsweise Marketing sagt. Ich kannte seinen Sinnzusammenhang nicht und er nicht meinen, aber durch die gleich erscheinende Sprache wurde dies verdeckt. Mittlerweile ist das natürlich anders.

Welche Rolle kann dann überhaupt noch Informationstechnologie spielen? Um Informationen digital transportieren zu können, muss man sie ja zwangsläufig vom Menschen ablösen.

Oh, IT spielt eine sehr wichtige Rolle. Wir müssen nur lernen, mit diesem großartigen Instrument vernünftig umzugehen. Erst dadurch, dass wir heute ein so hohes Niveau der Informationsverarbeitung erreicht haben, ist das menschliche Moment ja überhaupt wieder so entscheidend geworden. Anders gesagt: Je schneller die Autos werden, umso besser müssen die Fahrer sein. Ich selbst beispielsweise informiere mich gern und oft im Internet, aber ich kopple diese Information an eine sorgfältige Prüfung.

Wissen Sie eigentlich, wie viele Daten Sie persönlich im Jahr produzieren? Der weltweite Durchschnitt soll mittlerweile irgendwo zwischen 300 und 800 Megabyte liegen.

Keine Ahnung. Ich habe nur neulich erstaunt festgestellt, dass die Bewerbung eines meiner Kollegen frei im Internet kursiert. Gott weiß, wie sie dorthin gekommen sein mag. Der Fall zeigt aber: Diese Systeme verselbstständigen sich, sie entziehen sich unserer Kontrolle.

Nach einer Studie der Universität von Kalifornien in Los Angeles ist die globale Datenflut allein zwischen 1999 und 2002 um 30 Prozent angeschwollen. Wird der Pegel weiter ansteigen, oder zieht irgendwann irgendjemand den Stöpsel?

Nein, denn diesen Irgendjemand gibt es nicht. Das kann nur jeder selbst sein, und das sage ich auch meinen Studenten. Es geht um die Entwicklung unternehmerischer Persönlichkeiten, die Konsequenzen ziehen aus ihren Erfahrungen. In den meisten Management-Ausbildungen ist das aufgrund des eingeschränkten Wissensbegriffs eine nachrangige Kategorie.

Was bedeutet das in Bezug auf Wissen? Weniger ist mehr? Sich abkoppeln vom IT-Rüstungswettlauf?

Wir werden sicher noch schnellere Rechner, breitere Datenautobahnen und allerorts verfügbare Internetzugänge bekommen. Die werden das Problem aber nicht lösen, sondern verschärfen.

In Wirklichkeit verstehen wir so viel von der Welt wie die Fliege, die über die Mattscheibe krabbelt, während im Fernsehen gerade die Nachrichten laufen?

So ähnlich. Wir verhalten uns wie Wissens-Sparkassenkunden, die ihr Wissen auf die hohe Kante legen und glauben, es würde dort für sie arbeiten. In Wirklichkeit ist von unserem Wissens-Guthaben nach spätestens sieben Jahren nichts mehr übrig. Wenn man dies einmal begriffen hat, kann man sich mit Sokrates sagen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Eine deprimierende Erkenntnis.

Ganz im Gegenteil, sie ist sehr befreiend. Mir als Forscher und Lehrer beispielsweise wird immer unterstellt, ich wüsste qua Profession enorm viel. Und das ist eine große Behinderung. Wenn ich in ein Unternehmen komme, um es zu beraten, muss ich mir bewusst machen, dass ich von diesem Unternehmen nichts weiß. Ich muss die Dinge substanziell neu betrachten, trotz ähnlicher Erfahrungen und vermeintlich bekannter Muster neu und offen hinschauen und darf, was ich sehe, nicht gleich in bestehende Kategorien einordnen. Erst dieses Nicht-Wissen ermöglicht es mir, unbefangen die nötigen Fragen zu stellen, um neue Chancen zu eröffnen.

Von Ihnen erwartet man aber Antworten. Genauso ist es bei den Verantwortlichen in Unternehmen – die können es sich gar nicht leisten, Nicht-Wissen einzugestehen.

Richtig, und genau das ist der Denkfehler. Antworten sind aus einem Zusammenhang geboren, der längst vergangen ist. Antworten verstellen den Zugang zur Gegenwart, zu dem, was jetzt notwendig und sinnvoll ist, und erst recht zur Zukunft. Fragen hingegen können sich dieser Gegenwart und Zukunft zuwenden, Zusammenhänge öffnen, Verbindungen und Bezüge herstellen. Deshalb sind Fragen viel produktiver als Antworten. Sie sind dem unternehmerischen Moment viel angemessener. Es gibt keinen Mangel an Antworten, sondern an sinnvollen Fragen.

Veröffentlichungen zum Thema Wissens- und Vergessensmanagement

Gerd Walger, Franz Schencking: Wissensmanagement, das Wissen schafft. In: Georg Schreyögg (Hrsg.): Wissen in Unternehmen – Konzepte, Maßnahmen, Methoden. Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2001, S. 21–40

Gerd Walger: Wissen und Wissensconsul-ting. In: Frank Witt (Hrsg.): Unternehmung und Informationsgesellschaft. Gabler, Wiesbaden, 2000, S. 81–96

Gerd Walger: Die Universität in der Wissensgesellschaft. In: Stephan Laske, Claudia Meister-Scheytt, Tobias Scheytt und Claus Otto Scharmer (Hrsg.): Universität im 21. Jahrhundert. Schriftenreihe Universität und Gesellschaft, Band 1, München/Mering, 2000

Gerd Walger, Franz Schencking: Existenzgründung als existenzielle Entscheidung. In: Klaus Walterscheid u. a.: Entrepreneurship in Forschung und Lehre, Festschrift für Klaus Anderseck. Peter Lang, Frankfurt, 2003

Gerd Walger (Hrsg.): Formen der Unternehmensberatung. Systemische Unternehmensberatung, Organisationsentwicklung, Expertenberatung und gutachterliche Beratungstätigkeit in Theorie und Praxis. O. Schmidt, Köln, 1999

Jürgen Kluge, Wolfram Stein: Wissen entscheidet – Wie erfolgreiche Unternehmen ihr Know-how managen – eine internationale Studie von McKinsey. Redline Wirtschaft bei Ueberreuter, 2003; 256 Seiten; 38 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.