Hinter dem Lächeln der Dolch

Chinesen gelten in Verhandlungen als listig und verschlagen. Und das ist nicht einmal weit hergeholt: Sie agieren auf Basis der 36 Strategeme, einem System der List-Techniken. In China ist die Rezeptur der List so bekannt wie hier zu Lande Grimms Märchen. Professor Harro von Senger hat die alten Volksweisheiten für den Westen entdeckt und übersetzt. Sein Fazit: Wir sind alle Einfaltspinsel.




Das erste Treffen fand in Freiburg statt, in einer Studentenkneipe, am Nebentisch ein Unbekannter, der uns am Schluss unseres Gesprächs mehrfach fotografierte. Harro von Senger (60), der an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität als Professor für Sinologie lehrt, fand das ulkig. Die Geheimdienststimmung passte zum Thema: den „36 Strategemen“, einem Kanon der List. Als er in den siebziger Jahren in China studierte, fielen von Senger immer wieder seltsame Redewendungen und erklärende Metaphern auf, die in Texten und Zeitungsartikeln auftauchten. Er ging der Sache nach und stieß auf ein Militär-Traktat aus der Ming-Dynastie (14. bis 17. Jahrhundert). Von Senger war der erste Wissenschaftler, der dieses in China populäre System der List dem westlichen Publikum zugänglich machte. 1988 erschien der erste Band seines zweibändigen Werkes „Strategeme“ und verkaufte sich in mehr als zehn Sprachen rund 450.000-mal. Die FAZ nannte den Wissenschaftler den „meistgelesenen Autor der westlichen Chinaforschung“. Passend zum aktuellen weltweiten China-Hype veröffentlichte Harro von Senger im August 2004 sein neuestes Buch, „36 Strategeme für Manager“. Denn was viele Unternehmer als simple interkulturelle Übersetzungsfehler irritiert, ist für Chinesen eine alltägliche Mischung aus Wachheit und List. Das zweite Treffen: Zürich, wieder im Café, vor der Kunsthalle. Diesmal gibt es keine heimlichen Schnappschüsse vom Nachbartisch, nur der Kellner macht am Ende ein Erinnerungsfoto. Harro von Senger hat darum gebeten, so wie chinesische oder japanische Touristen das gern tun.

Professor von Senger, werden die Chinesen nicht langsam unruhig, weil Sie im Westen ihre Tricks und Kniffe ausplaudern?

Im Gegenteil. Für Chinesen ist List ein Teil von Weisheit. Ich kläre also aus chinesischer Sicht den Westen über die Klugheit und Intelligenz von Chinesen auf.

Keine Angst auf chinesischer Seite, dass Sie das Vorurteil der Verschlagenheit verstärken?

Nein, in diesen Kategorien wird nicht gedacht. In China ist man über meine Strategem-Veröffentlichungen hellauf begeistert. Schauen Sie, ich arbeite über dieses Schriftzeichen „zhi“. Dessen Hauptbedeutung ist Weisheit, Wissen, Klugheit, Intelligenz oder Durchblick. Zhi ist eine der fünf Kardinaltugenden des Konfuzius. Die andere Bedeutung desselben Zeichens ist List, Strategem. Und das ist einer der wichtigsten Termini der chinesischen Philosophie. Nur wer mit einer gewissen Intelligenz ausgestattet ist, kann sich in einer schwierigen Situation ein Strategem ausdenken. List ist aus chinesischer Sicht ein Zeichen von Klugheit.

Wie präsent sind die Strategeme im chinesischen Alltag?

Es gibt Kalender, Wandbehänge, Spielkarten, Wachsfigurenkabinette, Comics in Millionenauflage. Allein in der Wirtschaftsliteratur gibt es mehr als 50 Titel, die sich auf die 36 Strategeme beziehen: „36 Strategeme und Management“, „36 Strategeme und Unternehmensführung“ und so weiter. Es gibt sogar mehrere Fernsehserien, die sich mit dem Thema befassen. Ich zeige in meinen Vorträgen gern Ausschnitte aus der Serie „Meister Suns Kriegskunst und die 36 Strategeme“. Jede Folge ist einem Strategem gewidmet. Das Außergewöhnliche an dieser Serie ist, dass am Schluss jeder Folge die Theorie eingeblendet und die Handlung noch einmal erklärt wird. Eine Mischung aus Unterhaltung und Schulfunk.

Wirtschaft wird in China in sehr martialischen Metaphern beschrieben. Sogar Kunden gelten als Feinde, die man besiegen muss. Ist das nicht furchtbar antiquiert?

Wieso? Wir sprechen doch auch von Konkurrenzkampf oder Preiskrieg.

Aber wir reden auch von Geschäftspartnern oder Tarifpartnerschaft. Wir achten doch sehr darauf, dass wir uns positiv ausdrücken.

Das gibt es auch in China. Im Außenwirtschaftsbereich ist auch von Partnern die Rede. Das andere sind Metaphern, die man nicht zu ernst nehmen sollte.

Im Westen sind Begriffe wie List, Hinterhalt oder Verschlagenheit sehr negativ besetzt. In China offenbar nicht.

Nein, denn es gibt ja nicht nur die destruktive Schadenslist, es gibt auch die konstruktive Dienstlist und darüber hinaus die meist harmlose Scherzlist. Diese beiden List-Arten beurteilt man im konkreten Einzelfall eigentlich auch im Westen positiv.

Dennoch hat die List hier zu Lande einen eher schlechten Ruf.

Das geht möglicherweise auf Platon zurück. Die Welt der ewigen Ideen und das Wahre befinden sich im Licht. Da gibt es keine Unklarheit. Seit Platon haben wir eine Art Lichtdenken. Die List aber hat etwas Abgründiges, Dunkles an sich. Außerdem geschah die Vertreibung aus dem Paradies durch eine List. Zu unserer Wahrnehmung kommt also die christliche Negativprägung.
In China kann man die Tag- und Nachtseite nicht getrennt voneinander denken. Nehmen Sie das bekannte Symbol für Yin und Yang, wo die weiße und die schwarze Form ineinander greifen und jede einen kleinen Anteil des anderen in sich trägt. Es gehört zusammen.

Nun denken wir aber anders. Wieso sollte sich jemand im Westen mit den 36 Strategemen auseinander setzen?

Der Katalog ist deswegen so hilfreich, weil er umfassend ist. Unser Problem ist, dass wir in den meisten Fällen keine Bezeichnungen für Listen haben. Und vor allem keinen systematischen Überblick: Uns fehlen die Worte. Ohne Worte aber kein Denken, kein Erkennen, kein durchdachter Einsatz eigener List. Und vor allem keine effiziente Gegenwehr. Dank der Strategeme überwinden wir unsere Sprach- und Hilflosigkeit angesichts von List.

Wie nützlich sind die Strategeme für westliche Manager, die in China Geschäfte machen wollen?

Die meisten Unternehmer haben noch nie davon gehört. Die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr hoch, dass man mit Strategemen in Kontakt gerät. Man sollte sie daher rechtzeitig identifizieren können und wissen, wie man sich wehrt.

Ein ehemaliger chinesischer Botschafter in Deutschland hat mal gesagt, wir würden die Welt zu sehr im Wechsel durch Mikroskop und Fernglas betrachten. Wie sollen wir sie sonst sehen?

Vielleicht mal mit bloßem Auge, dann würden wir auch den Weg sehen, auf dem wir gehen. Der Philosoph, der ständig zum Himmel schaut, wird irgendwann über einen Kieselstein stolpern.

Sind Chinesen die besseren Taktiker?

Sie sind die besseren Strategen. Mir machen Deutsche nicht selten den Eindruck von Tüftlern und Taktikern. Wo bitte ist bei einem Bastler der Gesamtblick? Bei der Internationalen Messe für Erfindungen, Neue Techniken und Produkte in Genf hat ein Deutscher den Großen Preis gewonnen – für die Entwicklung einer Methode, Stein biegsam zu machen. Sein erster Kontakt war nach China. Dort ist man hellwach und greift sofort zum Telefon. Das ist Strategem Nummer 12: „Mit leichter Hand das Schaf wegführen.“ Listenblindheit ist eine Art der Schläfrigkeit. Wir sind nicht wach genug.

Wir analysieren, forschen und entwickeln. Aber fehlt uns, was Robert Musil den Möglichkeitssinn nannte – die Fähigkeit, das zu denken, was ebenso gut sein könnte?

Ja, insbesondere außerhalb von Routine-Abläufen. Deutsche sind toll im Entwickeln neuer Ideen, die sie aber vielfach nicht weiterentwickeln. Sie sind oft etwas verträumt. Sie stellen für Gedanken und Erfindungen bisweilen keine Wirklichkeitsverknüpfung her. Sie erfinden etwas, gehen dann zur nächsten Erfindung und lassen jemand anderen das Geld mit der ersten Erfindung verdienen. Chinesen, so ist mein Eindruck, sind wacher. Bei Konfuzius, der die fünf zwischenmenschlichen Beziehungen ins Zentrum seiner philosophischen Betrachtungen stellt, geht es nicht um so hochgeistige Dinge wie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Immanuel Kant. Da werden ganz alltägliche Probleme gewälzt.

Verstehen Chinesen die westlichen Philosophen?

Ins Chinesische übersetzt sind die meisten. Aber mal anders gefragt: Verstehen Sie denn Hegel oder Kant? Ich lehre an einer philosophischen Fakultät und habe selbst meine Mühe mit Kant. Konfuzius ist dagegen vergleichsweise leichte Kost.
Hegel nannte Konfuzius einen banalen Denker. Dabei hat Konfuzius sich nur mit den wichtigsten Dingen beschäftigt. Ein Schüler fragte ihn mal nach dem Tod. Konfuzius meinte: „Wieso fragst du nach dem Tod? Du verstehst doch nicht einmal das Leben.“

Ist es richtig, die Strategeme als Schwert des kleinen Mannes zu bezeichnen?

Die Strategeme waren in China ein Mittel des Individuums gegen die Staatsgewalt. Es gab ja früher keine gesetzlichen oder moralischen Möglichkeiten zur Durchsetzung individueller Ziele. Mit der Zeit hat sich die Situation aber geändert. Mao Zedong hat immer wieder Strategeme angewandt, als Revolutionär wie als Machthaber. Solche mit List begabten Mächtigen nennt man auch Tiger mit Flügeln.

Wir halten fest: Chinesen sind hellwache, ihre Chancen ergreifende Raubtiere, die einander die ganze Zeit listig übers Ohr hauen. Das klingt aber auch nicht besonders hoch entwickelt.

So ist es ja auch nicht. Denn es gibt zur ewigen Gefahr der List ein ausgleichendes Gegengewicht: Guanxi, einer der wichtigsten chinesischen Termini. Er bezeichnet das Beziehungsnetz, das in China eine große Rolle spielt. Die persönliche Beziehung ist immer mindestens so wichtig wie der Vertrag, den man schließt.
Das geht ebenfalls bis auf Konfuzius zurück. Es geht um den Aufbau von Vertrauen, damit Sie in einer Geschäftsbeziehung das strategemische Denken außen vor lassen können. Dieses Vertrauen ist innerhalb von bereits bestehenden Beziehungen am besten gewährleistet. Deshalb sind im chinesischen Raum Familienunternehmen auch so wichtig.

Wie baut ein westlicher Geschäftsmann Guanxi auf?

Das ist ein langwieriger Prozess. Das bauen Sie nicht von heute auf morgen auf. Man kann den Weg natürlich abkürzen, indem man sich einen tollen Chinesen sozusagen umschnallt, der in den besten Kreisen bekannt ist und einen Haufen Guanxi hat (lacht). Wem es gelingt, so jemanden für seine Firma zu gewinnen, der schafft damit ein Bindeglied zwischen einem noch nicht Guanxi-Beteiligten und dem Beziehungsnetz.

Ist das auch eine Art Strategem?

Sicher, das wäre die 18: „Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen.“ Eintrittspersonen sind für Geschäftsbeziehungen in China sehr wichtig. Allerdings dürfen Sie Ihren Partner dann natürlich nicht offensichtlich arglistig behandeln. Sie wollen schließlich Vertrauen aufbauen.

Aber meine chinesischen Partner behandeln mich auch mit Arglist.

Mit List. In ihrer wirtschaftlichen Strategemliteratur beklagen sich Chinesen freilich umgekehrt darüber, dass Chinesen auch schon von ausländischen Geschäftsleuten – oftmals werden Japaner genannt – ausgetrickst worden seien. In meinem neuesten Buch zitiere ich solche Beispiele.

Viele Unternehmer fühlen sich bei Joint Ventures betrogen, etwa wenn ihre chinesischen Partner Jahre später identische Konkurrenzprodukte auf den Markt bringen.

Joint Ventures sind immer mit einem Endtermin versehen. Wenn westliche Unternehmen über die Verlängerung ihres Joint Ventures neu verhandeln, müssen sie oft enorme Zugeständnisse machen. Chinesen können westlichen Firmen gegenüber wunderbar die 33 anwenden, das Strategem des Zwietracht-Säens. Da lässt sich mühelos einer gegen den anderen ausspielen, weil alle Fremdinvestoren denselben Druck haben und die gleichen Ziele verfolgen. Eine solche Situation lässt sich sehr gut listig ausnutzen.

Kann der westliche Unternehmer in China überhaupt eine für ihn durchschaubare Geschäftsbeziehung aufbauen?

Natürlich. Aber dazu muss er China gut kennen, und das tun nur die wenigsten. Westlichen Unternehmern sind ja nicht einmal die Grundzüge des chinesischen Rechts vertraut, auf dessen Grundlage sie agieren. Es scheint niemanden zu interessieren. Mein Buch „Einführung in das chinesische Recht“ hätte ich mir sparen können. Es hat sich, wenn es hoch kommt, 2000-mal verkauft.

Was können deutsche Unternehmer aus ihm lernen?

Ach, jede Menge. Zum Beispiel die im Westen nahezu unbekannten, dem Recht der Volksrepublik China zugrunde liegenden offiziellen Denkmethoden. Was Verträge betrifft, so handeln Chinesen diese vielfach bis ins letzte Detail aus. Sobald es Schwierigkeiten gibt, werden die Verträge herausgeholt – und plötzlich bekommen winzige Klauseln eine enorme Relevanz. Nehmen Sie beispielsweise die Nationalisierungsklausel: Gewisse Hersteller müssen sich verpflichten, den Anteil der Bauteile, die in China nach deutschen Standards produziert werden, jedes Jahr zu erhöhen. Bis zu einer Quote von 90 Prozent, glaube ich, müssen ein Fahrzeug, ein Rechner oder eine Maschine in China auf deutschem Niveau gebaut sein. Am Schluss besitzen die Chinesen fast das gesamte Know-how.

Wie verdient man sich den Respekt seiner Geschäftspartner?

Zum Beispiel, indem man offen zu seinen Fehlern steht. Das wäre das Strategem 19: „Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen.“

Viele deutsche Manager beklagen gerade, dass Chinesen grundsätzlich keine Fehler eingestehen. Sei es aus Angst, das Gesicht zu verlieren, oder aus einer fehlenden kulturellen Praxis heraus. Ist das nicht ein Widerspruch zu Ihrer Empfehlung?

Mein neues Buch handelt von strategemischem Verhalten. Ich gebe keine Allgemein-Einführung in die chinesische Kultur. Kritik und Selbstkritik ist eine altverwurzelte sinomarxistische Vorgehensweise. Auch das Gesicht ist sicher ein wichtiges Element der chinesischen Mentalität, aber doch nicht das einzige. In China ist die Angst, das Gesicht zu verlieren, weit verbreitet, und als Ausländer muss man das wissen. Aber mein Rat, Fehler einzugestehen, ist einem Strategem zugeordnet. Auf Deutsch würden Sie sagen: „Jemandem den Wind aus den Segeln nehmen.“
Ich habe die Effizienz eines solchen Verhaltens während meines zweijährigen Studiums in Peking einmal erprobt: Ich machte mit einem Freund eine Fahrradtour durch die Stadt. Plötzlich lief mir eine alte Frau in den Weg und fiel hin. Der Sturz war nicht schlimm, aber sie saß auf einem Treppchen und schluchzte. Ich entschuldigte mich und gab ihr zehn chinesische Dollar. Meine Personalien wurden aufgenommen. Zurück an der Universität meldete ich den Vorfall gleich dem für uns ausländische Studenten zuständigen Funktionär. Ich habe nie wieder etwas von diesem Unfall gehört. Mein sofortiges Geständnis war damals durchaus ein wenig strategemisch konzipiert. Und es hat – jedenfalls in diesem Fall – funktioniert.

Angesichts so vieler kultureller Unterschiede: Gibt es in China Angst vor Überfremdung durch westliche Firmen, die jetzt zunehmend auf den Markt drängen?

Ja, es gibt eine Wachsamkeit gegenüber allem Fremden. Das führt zu stark strategempräventivem Verhalten. Das heißt, Chinesen haben zahlreiche Kontrollverfahren bei den Außenhandelsbeziehungen. Bei Joint Ventures müssen immer wieder Zwischengenehmigungen eingeholt oder Kontrollen durchlaufen werden. Sehr teure Joint Ventures müssen von der Zentralregierung genehmigt werden. Das fällt alles unter Strategem-Prävention. Man will bloß nicht unter die Räder von Ausländern kommen.

Gleichzeitig setzen die Chinesen alles daran, sich Wirtschaft und Expertise ins Land zu holen. Wie passt das zusammen?

Ihre Frage ist typisch für den abendländischen Entweder-Oder-Ansatz. Der ist aber für viele Erscheinungen in China untauglich. Widerspruch ist das zentrale Wort. Für uns bedeutet es Ausschluss, für Chinesen oft ein Sowohl-als-auch. Was sich für Europäer ausschließt, ist für Chinesen oft problemlos vereinbar: Öffnung – und Einparteienherrschaft; weitgehende wirtschaftliche Reformen – und Festhalten an den grundlegenden marxistisch-leninistischen politischen Institutionen; ein Land, zwei Systeme: kapitalistisches Hongkong mit Common Law – sozialistisches Festland mit einem kontinental-sinomarxistischen Rechtssystem unter dem gemeinsamen Hut Volksrepublik China. Oder Ihr Problem: sowohl ein Willkommen gegenüber ausländischen Investoren, Studierenden, Touristen als auch Kontrollen, damit nichts aus dem Ruder gerät. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. In China werden gegensätzliche Dinge oft kunstvoll miteinander verknüpft.

Und die Strategeme können uns Westlern helfen, uns besser darauf vorzubereiten?

Man sollte auch die offiziellen Denkmethoden, also zum Beispiel das dialektische Denken, kennen. Daneben ist Strategemkenntnis ganz sicher sehr hilfreich. Ein Unternehmer sollte seine zukünftigen Geschäftsbeziehungen zu China auch anhand der Strategeme durchdenken. Schneit ihm etwa, kurz vor Weihnachten, eine Einladung, nach China zu Verhandlungen zu kommen, ins Haus? In solch einem Fall sollte ihm das Strategem 4: „Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten“ in den Sinn kommen, das sein chinesischer Partner womöglich gegen ihn anwenden möchte. Auch das Strategem Nummer 1 zu kennen lohnt sich: „Den Himmel (also den Kaiser) täuschend das Meer überqueren“. Da wird zum Beispiel ein Geschäftspartner nach China eingeladen und in der Annahme bestärkt, dass alles besprochen und klar sei. In China stellt sich dann heraus, dass gar nichts feststeht und die Verhandlungen plötzlich in großer Hast zu Ende geführt werden müssen.
Anne Reboul, eine Kommunikationswissenschaftlerin aus Genf, beschreibt Verhandlungsführung aus einer anderen, aber ähnlichen Perspektive. Im Allgemeinen, sagt sie, gehen wir mit einem naiven Optimismus in Gespräche hinein. Erweckt der andere den Anschein von Kompetenz und Gutmütigkeit, nehmen wir an, dass er das auch ist. Wir nehmen den Schein als Sein. Das beschreibt sie als erste Stufe. In der zweiten Stufe, dem vorsichtigen Optimismus zweifle ich die Kompetenz meines Gegenübers an. Auf Stufe drei, dem komplexen oder wachen Verstehen, ziehen Sie sowohl Kompetenz als auch den guten Willen in Zweifel, selbst wenn jemand so scheint. Das ist natürlich anstrengend. Aber Chinesen sind in Verhandlungen eher auf dieser dritten Stufe. Jemand, der die 36 Strategeme kennt, kann sich also auf Verhandlungen mit größerer Wachsamkeit vorbereiten.

Das Ziel ist also nicht Argwohn, sondern Wachsamkeit?

Genau. Und die 36 Strategeme sind die Anti-Schlaftabletten.

Die 36 Strategeme () = Erklärung
Das geheime Buch der Kriegskunst – Sanshiliu Ji (Miben Bingfa) aus der Zeit um 1500 n. Chr.

  1. Den Himmel (also den Kaiser) täuschend das Meer überqueren.
  2. (Die ungeschützte Hauptstadt des Staates) Wei belagern, um (den durch die Streitmacht des Staates Wei angegriffenen Bündnispartner) Zhao zu retten.
  3. Mit dem Messer eines anderen töten.
  4. Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten.
  5. Eine Feuersbrunst (als günstige Gelegenheit) für einen Raub ausnützen.
  6. Im Osten lärmen, im Westen angreifen.
  7. Aus einem Nichts etwas erzeugen.
  8. Sichtbar die Holzstege instand setzen, insgeheim nach Chencang marschieren.
  9. (Wie unbeteiligt) die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten.
  10. Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen.
  11. Den Pflaumenbaum an Stelle des Pfirsichbaums verdorren lassen.
  12. Mit leichter Hand das (einem unerwartet über den Weg laufende) Schaf (geistesgegenwärtig) wegführen.
  13. Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen.
  14. Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen.
  15. Den Tiger vom Berg in die Ebene locken (wo er sich nicht verteidigen kann).
  16. Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen.
  17. Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen.
  18. Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen.
  19. Unter dem Kessel das Brennholz wegziehen.
  20. Das Wasser trüben, um die (ihrer klaren Sicht beraubten) Fische zu fangen.
  21. Die Zikade entschlüpft (einer Situation, indem sie sich verwandelt und aus) ihrer goldglänzenden Hülle (steigt, die ihre Verfolger ablenkt).
  22. Die Türe schließen und den Dieb fangen.
  23. Sich mit dem fernen Feind verbünden, um den nahen Feind anzugreifen.
  24. Einen Weg durch Yu für einen Angriff auf Guo ausleihen (um danach Yu ebenfalls zu erobern).
  25. Die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen (um etwas von innen auszuhöhlen).
    (Dieses Strategem wird etwa bei der Begriffsentleerung oder beim heimlichen Begriffswandel angewendet.)
  26. Die Akazie scheltend auf den Maulbeerbaum zeigen.
  27. Verrücktheit mimen (Harmlosigkeit vortäuschen), ohne dabei das Gleichgewicht (und sein Ziel aus den Augen) zu verlieren.
  28. Auf das Dach locken, um dann die Leiter wegzuziehen.
  29. Dürre Bäume mit (künstlichen) Blumen schmücken.
  30. Die Rolle das Gastes in die des Gastgebers umkehren.
  31. Das Strategem der schönen Frau (die den Feind in eine Falle lockt).
  32. Das Strategem der leeren Stadt (Einen Hinterhalt vortäuschen, der die eigene Schwäche verschleiert).
  33. Das Strategem des Zwietracht-Säens.
  34. Das Strategem des leidenden Fleisches (Eine Selbstverletzung mobilisiert den Samariter-Reflex des Gegners oder das Mitleid des Publikums).
  35. Das Ketten-Strategem (das zwei oder mehr Strategeme miteinander verknüpft).
  36. (Rechtzeitiges) Weglaufen ist (bei völliger Aussichtslosigkeit) das Beste.

Harro von Senger:

36 Strategeme für Manager. Carl Hanser Verlag, München, 2004; 222 Seiten; 19,90 Euro

Die Kunst der List. Verlag C. H. Beck, München, 2004; 196 Seiten; 9,90 Euro

Einführung in das chinesische Recht. Verlag C. H. Beck, München, 1994; 363 Seiten; 28 Euro

www.36strategeme.de


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.